Eine sommerliche Begegnung mit Bianca Castafiore, der neben Maria Callas wohl berühmtesten Sopranistin des 20. Jahrhunderts
Um fünf vor drei schwingt lautlos das große Gittertor auf, dabei habe ich nicht geklingelt, es gibt keine Klingel, eine Überwachungskamera sehe ich auch nicht. Alte, hohe Bäume rechts und links in der Sonne, hinten das Schloss, wie man es von vielen Bildern kennt. Siebzehntes Jahrhundert, zwei Flügel, verbunden durch den turmartigen Mittelbau… Als ich die Stufen hochsteige, öffnet sich das Portal, und kurz rechne ich damit, dass mir gleich Nestor gegenübersteht, der Butler mit der gestreiften Weste. Es ist aber eine Dame im schlichten beigen Kostüm, die Haare hochgesteckt, ein bisschen an Simone de Beauvoir erinnernd. „Bonjour, Sie wollen zu Madame …“, sagt sie, ohne sich vorzustellen, und geht mir voran in die Eingangshalle. Vor der Marmortreppe biegt sie nach links ab.
Ein sonniger Saal, Porträts, Skulpturen, ockerfarbene Wände, Sessel mit orangefarbenen Polstern. „Ich sage Madame, dass Sie da sind. Sie können sich in der Zwischenzeit ja ein paar Fragen überlegen“, sagt sie trocken. Als könne es jemand wagen, sich nicht gründlich auf eine Begegnung mit Bianca Castafiore vorzubereiten, neben Maria Callas die berühmteste Sopranistin des 20. Jahrhunderts, knapp 30 Jahre vor ihr geboren. Ein Asteroid heißt nach ihr, ein Platz in Amsterdam, sie wurde in Bühnenwerken, TV-Serien, einem Film von Spielberg gewürdigt. Sie hat ihre Kollegin inzwischen um 48 Jahre überlebt. „No questions concerning her age“, hat mir ihre Londoner Agentin eingeschärft.
„Bienvenue, benvenuto a Moulinsart!“ Der ganze Saal ändert sofort sein Gravitationsfeld. Sie ist etwas kleiner, als ich erwartet hatte, spricht auch tiefer, mindestens eine Dezime unterhalb ihrer Singstimme, und sieht jünger aus – auch wenn mir schon klar war, dass man ihr die 130 Jahre nicht ansehen würde. Sagen wir, so um die fünfzig, in einem Sommerkleid aus den 1960ern, vielleicht eine Idee zu tailliert geschnitten für diese Figur, aber so eine Frau macht sich ja alles passend. Schwarzer Stoff, mit weißen Rosen und violetten Blättern bedruckt. Natürlich weiße Rosen! „Castafiore“ heißt keusche Blume. Sie ist derartig präsent, dass sie das Bild verblassen lässt, das ich in mir trage, aus den acht Bänden Tim und Struppi, in denen sie vorkommt. Aber es passt schon. Die Adlernase, das ondulierte Blond, das auf dem Dekolletée ruhende Amulett…
Sie steuert gleich auf das barocke Porträt über drei Dreimastermodellen zu, Frantz Ritter von Hadoque, um 1670. „Karpock, wie er leibt und lebt, finden Sie nicht, Herr…“ Ich murmele meinen Namen, ehe ich frage: „Wie haben Sie ihn denn kennengelernt? Ich meine, den Kapitän, nicht seinen Vorfahren.“ „Nun ja, sein Vorfahr, der…“ , sie lacht kurz. „Zuerst hörte Harrock mich, wie ich später erfuhr. Das muss 1944 in Brüssel gewesen sein. Er verglich meine Stimme mit einem Hurrikan. Charmant, nicht wahr?“ Sie sagt das ohne Ironie, fast gerührt, als habe Haddock auf ihren Gesang nicht jederzeit mit Fluchtreflexen reagiert. Auf jene Juwelenarie aus dem Faust von Gounod, die sie… „Wissen Sie noch, Signora, wann Sie diese Arie zum ersten Mal sangen?“ Sie hat in einem Sessel Platz genommen, nun darf auch ich mich setzen, an ein Marmortischchen.
„Dopo la prima guerra mondiale, a Piacenza“. Sie wechselt wieder in ihr erstaunlich gutes Englisch. „It was my debut in that century…1921.“ „Darf ich fragen, wie sie dorthin kamen? Wie kamen sie überhaupt zur Musik?“ „Wissen Sie, das mich das noch keiner gefragt hat? Aber erwarten Sie nichts Aufregendes, junger Mann!“ Ein Städtchen in Südtitalien, einfache Verhältnisse, die bande musicale, die Amateurblasorchester, die oft auch beliebte Nummern aus Verdis Opern spielen. Ein kleines Mädchen, das davon berührt ist, dann im Kirchenchor singt, ein Lehrer, dem die Stimme des Mädchens auffällt, der erste Ausflug nach Napoli, Teatro San Carlo… Es wird doch eine längere Geschichte.
„Madame?“ Die Dame im beigen Kostüm schaut herein. Die vereinbarte Stunde sei um, sagt sie mir. “Non, non, Irma, ça va”, sagt die Signora. „Bringen Sie uns einen Tee.“ Ob Irma immer noch die Irma ist, die ich als Zofe Luise aus den Comics kenne? Dann hätte sie sich sehr geändert. Nach dem Debüt an der Scala brauche ich die Sängerin gar nicht erst zu fragen. 1926, Liù in Puccinis Turandot, eingesprungen für Maria Zamboni, „sie sang die Uraufführung, wie Sie sicher wissen. Toscanini hat uns auf Händen getragen! Welcher Dirigent tut das heute noch?“ Von da an war Bianca Castafiore im italienischen Fach so gefragt wie für die französische Oper. Und was blieb davon übrig im Comic? Immer nur die Juwelenarie, auch im Radio. Aus Röhrenempfängern und Transistorradios, 1939 in Watisdah, 1958 in Tibet, im Zelt der Sherpas. „Die Castafiore! Hier? Potzblitz! Will sie uns überallhin verfolgen?“
Irma erscheint, um das Teegeschirr abzuräumen, und tippt auf ihre Armbanduhr, die Signora hebt begütigend die Hand und stimmt ein Liedchen an. „La pendule fait tic-tac tic-tic“, schnelle Noten, kein bisschen schrill, mezzopiano, „les oiseaux du lac pic-pac pic-pic“, ein Chanson, „kennen Sie es?“ „Um ehrlich zu sein…“ „Mais boum, quand notre cœur fait boum, le monde entier fait boum… das war wohl vor Ihrer Zeit, junger Mann.“ Jetzt singt sie dieselbe Weise mit anderem Text. „Boum, quand vot´moteur fait boum…“ „Macht dein Auto Bumm!“, entfährt es mir. Im Reiche des Schwarzen Goldes! Da hört man es im Radio, wie dann natürlich auch „Mich zu sehn, so schön…“. Nun gibt sie mir Nachhilfe. Man habe diesem Chanson 1938 gar nicht ausweichen können in Frankreich und Belgien, „ein Liebeslied von Charles Trenet, aber Sie können sich denken… ,Die ganze Welt macht bumm‘, in dieser Lage! Wir hatten alle Angst vor dem Krieg. Und als er begonnen hatte, der Krieg, erschien diese Tintin-Geschichte, in Fortsetzungen.“ Sie kennt das also alles bestens.
Dann weiß sie auch, welche Bestürzung ihr Gesang nicht nur beim Kapitän auslöste, der ihr gleichwohl dieses Schloss für immer überlassen hat. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt sie: „Monsieur Hergé musste ja vieles ändern. Natürlich hat mich mein guter Kapitän Bartock auch mit Verdi und Puccini gehört. Er reiste mir nach! Und natürlich habe ich nie in Szohôd gesungen, das es nicht gibt…“ „Oberst Sponsz!“ „Jaja… das war in… einer anderen Diktatur.“ „Aber, wenn ich das so sagen darf, Berührungsängste hatten Sie nie, politisch?“ „Nein, das dürfen Sie nicht so sagen“, sagt Irma, die wie auf ein Stichwort hin wieder erschienen ist. „Madame hat die Nähe zu den Mächtigen oft genutzt, um deren Widersachern zu helfen. Sie wurde sogar einmal inhaftiert.“ Das war 1976, in San Theodoros. Sie kam frei. Aber danach trat sie nie wieder auf.
Bianca Castafiore blickt lächelnd vor sich hin, fast bewegungslos, wie zum Bild erstarrt, die Hände mit Ringsteinen in vier Farben über dem Schoß gefaltet, während Irma fortfährt: „Sie ist in diesen bandes dessinées nicht zufällig zu einer Zeit aufgetaucht, in der die Frauen begannen, ihre Stimme zu erheben. Der Preis dafür war, dass diese Stimme…“ „Boum, le monde entier fait boum“, singt die Diva da erneut, versonnen, leise, bricht ab und erklärt: „Eine gute technische Basis ist alles. Damit kann eine Sängerin sehr alt werden.“ Ich hatte sie noch nach der Oper Die Sache Makropulos fragen wollen, in der die Sängerin Emilia Marty mithilfe eines Elixiers dreihundert Jahre alt wird. Aber ich bin sicher, dass die Castafiore mit Janáček nichts anfangen kann, zuwenig bel canto…
Mir ist ein bisschen schwindlig, als ich das schöne Schloss verlasse, am späten Nachmittag. Und im Zug nach Brüssel frage ich mich, ob mir vielleicht ein paar Dinge durcheinandergeraten sind, Dichtung und Wahrheit, Comics und Musik, feministische Essays, die zweiunddreißig Sopranistinnen, die ich schon für die Oper Zürich traf. Aber die Dreiunddreißigste – schlägt nicht gerade in ihr das Herz der Oper? Alles ist dort möglich, und nie vergeht die Zeit, das sonderbar´ Ding. Ja, nach der Marschallin hätte ich sie auch noch fragen können…
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien als letzter Beitrag der Reihe Volker Hagedorn trifft… im MAG 123, Mai 2025, der letzten Ausgabe des Magazins der Oper Zürich zum Ende der dreizehnjährigen Intendanz von Andreas Homoki. Das Foto versammelt jene neun Bände der Comicreihe Tim und Struppi, in denen Bianca Castafiore auftritt, gehört oder erwähnt wird, in chronologischer Folge von 1939 (Vorabdruck von König Ottokars Szepter) bis 1976.