Kategorie-Archiv: Musikwissenschaft

Das Wunderkind

In Weimar sind Handschriften des 13-jährigen Bach aufgetaucht. Seine Biografie muss umgeschrieben werden

Im Sommer 1703 trifft eine Kutsche aus Weimar in Arnstadt ein, dem Hauptstädtchen eines Fürstentums am Thüringer Wald. Sie bringt den Musiker, der die neue Orgel der Bonifatiuskirche prüfen und einweihen soll. Spesen, Prüfung und Konzert werden mit rund zehn Talern bestens bezahlt. Er spielt so überzeugend, dass man beschließt, ihm auch gleich die Organistenstelle anzutragen, obwohl er bislang nur als musizierender Lakai in Weimar gearbeitet hat. Gerade achtzehn Jahre zählt Johann Sebastian Bach, als er in Arnstadt aus der Kutsche klettert. Aber was er dann im neuen Amt komponiert, macht einen noch heute fassungslos: Zu Bachs ersten Werken zählt die genial komponierte Kantate Christ lag in Todes Banden. Und die Toccata in d-Moll, die berühmte.

Die Sensation lag in der Anna-Amalia-Bibliothek

Für die Nachwelt ist es immer gewesen, als steige da ein Gott aus der Wolke. Selbst neben den weit über tausend Werken, die Bach später komponierte, gerät sein Frühwerk nicht in den Schatten. Er ist mit achtzehn schon ganz da. Wie er aber dahin kam, darüber konnte bis jetzt nur gemutmaßt werden. Seine frühen Jahre sind für uns so umdunkelt, wie sie bei Mozart beleuchtet sind. Bach hatte keinen Vater, der wie Leopold stolz den Werdegang dokumentierte. Der Eisenacher Stadtpfeifer Ambrosius Bach sah sich, wie das seit hundert Jahren alle in diesem Musikerclan taten, als Handwerker. Musikalische Begabung war in dieser Familie der Normalfall. Sie konnte einen satt machen, aber nicht berühmt. Und ehe Johann Sebastian zehn war, starben beide Eltern. Sie konnten nicht sehen, wie er sich entwickelte. Wir bislang auch nicht. Dass man einmal Handschriften des Kindes J. S. Bach finden würde, ließen sich bis vor kurzem selbst die besten Detektive der Bach-Forschung nicht träumen. Als Peter Wollny und Michael Maul vom Leipziger Bach-Archiv sich vor einem Jahr nach Weimar aufmachten, schien der größte Musikalienschatz der Anna-Amalia-Bibliothek schon gehoben. Maul hatte dort kurz zuvor eine unbekannte Arie des 28-jährigen Weimarer Hofmusikers Bach entdeckt, als Anhang zu einem Geburtstagsgedicht. Das lag, während 2004 die Musikaliensammlung in Flammen aufging, beim Restaurator. Der Fund brachte die Leipziger Forscher unter dem Archivchef Christoph Wolff auf die Idee, »den Altbestand in Weimar gründlich zu durchforsten«. Ganz gleich, wie unmusikalisch die Papiere sein mochten. Auch ein vergilbtes Behördenschreiben kann zur Leuchtspur durchs Barock werden. Und die Stiftung Weimarer Klassik verfügt über die größte deutsche Barockbibliothek nach der in Wolfenbüttel.

»Wagenladungen von Material« nahmen die beiden Leipziger unter die Lupe, sechs Wochen lang. Dann kam die Mappe Nr. 49 auf den Tisch. Noten enthielt sie nicht, aber unter anderem ein paar Blätter mit Hieroglyphen. So sahen wohl die sonderbaren Häkchen und Bögen, vermischt mit Buchstaben und Zahlen, für den Bibliothekar aus, der sie im 19. Jahrhundert unter »Theologie« ablegte. Auch heute wüssten nicht viele, was sie da vor sich haben: eine Tabulatur, die Niederschrift von Musik nicht in Noten, sondern in Kürzeln, die auf die Eigenschaften eines Instruments zugeschnitten sind, zum Beispiel der Orgel. Den Manualen entsprechen die Zeilen, dort hinein werden Buchstaben für die Töne geschrieben. Rhythmen werden durch Zeichen wie den »Krähenfuß« dargestellt: vier senkrechte Strichlein, gekreuzt mit drei waagrechten. Das bedeutet vier Achtel.

Gerade mehrstimmige Verläufe können damit so komprimiert wie übersichtlich dargestellt werden. Und Orgelmusik war es, die Maul und Wollny hier vor sich hatten, auf vergilbten Doppelblättern von 34 mal 34 Zentimetern. Peter Wollny kennt Bachs Handschrift wahrscheinlich besser als seine eigene. Von den Arnstädter Gehaltsquittungen bis zum letzten zittrigen Empfehlungsschreiben ist ihm der Mensch vertraut. Diesmal erkannte er ihn zuerst »am Gesamteindruck«, dann an Details. »Bach hatte als junger Mann die Gewohnheit, e und n zusammenzuschreiben und den Schlussstrich vom n wie einen Haken in den Keller runterzuziehen«, sagt Wollny, »wie hier.« Da steht »Nun freüt eüch | lieben | Christen gmein. | uff 2 Clavir | Diet. Buxtehude« über den dicht gedrängten Chiffren der Tabulatur – eines der größten Orgelwerke jener Zeit.

Bach war zwölf oder dreizehn, als er es abschrieb. Das geht aus Unterschieden gegenüber der anderen neu gefundenen Abschrift hervor, die Bach selbst mit »1700« datierte. Und die klitzekleine, sorgfältige Schrift zeigt, dass der Junge, der hier Hochliteratur für Orgel kopiert hat, »ein totaler Profi« ist. »Manche mutmaßten ja sogar, Bach sei Spätentwickler«, sagt Wollny. »Die Handschriften zeigen das Gegenteil und deuten in die Richtung, dass der junge Bach ein ähnliches Wunderkind wie Mozart gewesen sein muss.« Zudem gibt es da Korrekturen, wie man sie nur macht, wenn man diese Musik auch selbst spielen kann. Kurz, Bach hat in Ohrdruf, wo sein Bruder ihn nach dem Tod der Eltern aufnahm, Dietrich Buxtehudes Choralfantasie Nun freut euch liebe Christen auf zwei Manualen gespielt, ein grandioses Kompendium der Tonsatzkünste des 17. Jahrhunderts, in dem auch spieltechnisch nichts ausgelassen wird.

Damit rückt eine berühmte Anekdote, die wohl Bach selbst seinen Söhnen erzählte, in die Realität – nämlich dass er schon als Knabe in Ohrdruf Stücke kopiert hat, auch solche, die sein großer Organistenbruder zu schwierig für den Kleinen fand. Der soll die verbotenen Früchte, »ein Buch voll Clavierstücke, von den damaligen berühmtesten Meistern« nachts durch die Gittertür des verschlossenen Schranks gezogen und bei Mondschein abgeschrieben haben. Ob das mit dem Mondschein stimmt, sei dahingestellt. Dass aber Christoph Bach, 14 Jahre älter, solche Brecher wie Buxtehudes Tabulatur aus pädagogischen Gründen zurückhielt, hält Wollny für möglich. Dass er sie überhaupt besaß, wertet diesen Kirchenmusiker stark auf. Bislang nahm man an, erst J. S. Bach selbst habe später die norddeutsche Orgelliteratur nach Thüringen gebracht.

Mit 15 befasste er sich mit den Meisterwerken des Orgelrepertoires

Der Fund von Weimar wirft sein Licht aber noch viel weiter. Bis vor kurzem war nicht klar, was Bach eigentlich in Lüneburg gemacht hat, wohin er 1700 von Ohrdruf aus zog. Zunächst war er Stipendiat an der Michaelisschule, seiner schönen Sopranstimme wegen. Er sang für etwas Geld im Mettenchor, dazu gibt es zwei Quittungen aus dem Mai des Jahres – und dann? Man hat in Bachs früher Klaviermusik Einflüsse von Georg Böhm festgestellt, dem Organisten der Lüneburger Johanniskirche, einem eigenwilligen, an Frankreich orientierten Komponisten. Die jetzt gefundene Abschrift macht klar, dass Bach – wahrscheinlich nach frühem Stimmbruch Internat und Chor verlassend – direkter Schüler Böhms wurde, vielleicht sogar sein Geselle. Er benutzte dessen Papier und schrieb unter die Tabulatur: »Il Fine | â Dom. Georg: Böhme | descriptum ao. 1700 | Lunaburgi:«. Das Stück selbst ist ein weiteres Gipfelwerk der Orgelkunst. Es stammt von Johann Adam Reincken, einer so legendären wie schillernden Gestalt des Hamburger Musiklebens, 1623 geboren und mit fast hundert Jahren gestorben. Seine Choralvariationen An Wasserflüssen Babylon, mit 330 Takten das umfänglichste Orgelstück des 17. Jahrhunderts, sind nicht nur für einen 15-Jährigen eine enorme Herausforderung. Und vielleicht hat Bach sie dem 77-Jährigen in Hamburg selbst vorgespielt an dessen Orgel in der Katharinenkirche – mit 58 Registern auf vier Manualen und Pedal eines der größten Instrumente in Norddeutschland. Eine Mitfahrgelegenheit zur Pilgerreise in die Elbstadt lag nah: Als Meisterschüler könnte Bach bei seinem Lehrer im Haus des Lüneburger Bürgermeisters gewohnt haben. Den führten seine Geschäfte regelmäßig nach Hamburg.

Auch wenn noch manches dunkel bleibt – der Nebel, der von Ohrdruf bis Lüneburg über Bach lag, ist verflogen. Statt einer hilflosen Vollwaise hat man einen Jungen vor sich, dessen flammende Begabung und heftiger Ehrgeiz von kompetenten Musikern wahrgenommen und gefördert wurde, einen, der sich den Kosmos norddeutscher Orgelkunst früher und fähiger erschloss, als je zu ahnen war. Wenn Peter Wollny vor den Abschriften sitzt, haben sie für ihn mitunter »etwas Unwirkliches«. Die kleinen kryptischen Tonzeichen Bachs erinnern ihn an den Stein von Rosette, der mit seiner Botschaft in griechischer und zwei ägyptischen Schriften die Entzifferung der Hieroglyphen möglich machte. Bachs Kindheit ist so ein Ägypten. Von dort kommt er eigentlich, der Mann, der 1703 in Arnstadt aus der Kutsche steigt.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 27.09.2007

Unheimliches Abendland

Der Fall Eggebrecht erschüttert die Musikwissenschaftler vor allem menschlich. Aber auch manche Passage seines Werks erscheint nach der Kriegsverbrecher-Enthüllung in einem anderen Licht

Im Juni 1937 jagten die Nazis einen der angesehensten deutschen Musikwissenschaftler aus dem Amt. Willibald Gurlitt, 48 Jahre alt, Professor in Freiburg, Experte für Musik vom Mittelalter bis zum Barock, Pionier des »Originalklangs«, galt als »jüdisch versippt«. Er durfte nicht mehr publizieren, wurde aus allen Gremien ausgeschlossen und von der Gestapo überwacht, seinen Kindern wurde der Schulbesuch verweigert. Nach dem Krieg begann er in Freiburg mit der Arbeit an einem bis ins 21. Jahrhundert fortgeführten Projekt, einem der größten, grundlegendsten des Fachs, dem Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Als Helfer holte er 1951 einen begabten jungen Kollegen aus der DDR – Hans Heinrich Eggebrecht.

Hätte Gurlitt geahnt, dass dieser Mann als besonders zuverlässiger Nationalsozialist mit 22 Jahren zu jener Feldgendarmerieabteilung gezählt hatte, die einige der entsetzlichsten Massenmorde an Juden beging, eine der strahlendsten akademischen Karrieren der Nachkriegszeit hätte wohl kaum unter der Ägide des Älteren begonnen. Sein Assistent Eggebrecht übernahm nach und nach nicht nur das Handwörterbuch und realisierte es mit den Besten des Faches. Seine Kompetenz und Gurlitts Vertrauen verschafften ihm auch dessen Nachfolge in Freiburg. Eggebrechts Professur von 1961 bis 1987 zog die begabtesten Studenten nach Freiburg.

Zudem hat Eggebrecht mit sehr persönlich formulierten Büchern über Musik ein großes Publikum erreicht. Sein Summum Opus Musik im Abendland, 1991 erschienen, ist geradezu ein Standardwerk in den Regalen der Bildungsbürger. Nur Carl Dahlhaus hat vergleichbar gewirkt. »Der Einfluss der beiden ist das Ereignis der jüngeren Fachgeschichte«, sagt der 79-jährige Ludwig Finscher, der selbst zu den Eminenzen der Musikwissenschaft gehört. Der Herausgeber des Lexikons Musik in Geschichte und Gegenwart ist als nüchterner Analytiker zwar eher ein Antipode Eggebrechts, doch »viele seiner Arbeiten habe ich mit Respekt betrachtet«. Nun ist Finscher schockiert, wie alle im Fach.

»Gruselig« sei es, wenn er »bedenke, wie viele Jahre wir vertrauensvoll zusammengearbeitet haben«. Es lässt nicht gleichgültig, wenn ein führender Wissenschaftler seine Verstrickung in Verbrechen des Nationalsozialismus verschweigt. Dass die Enthüllung erst jetzt kommt, hat auch zu tun mit der späten Aufarbeitung der Fachgeschichte. Die Germanisten etwa stellten sich ihrer NS-Geschichte schon 1967 in der folgenreichen Vortragssammlung Germanistik – eine deutsche Wissenschaft, einem legendär gewordenen Suhrkamp-Bändchen. »Warum sind wir so spät aufgewacht?«, fragt sich Finscher und erinnert sich, dass man ältere Kollegen nach dem Krieg nie nach ihrer Vergangenheit befragt habe.

Fragen hätten sich schon stellen lassen an einen wie Eggebrecht, der sein Studium in der Nazizeit begonnen hatte. Christoph Wolff, als deutscher Professor in Harvard einer der maßgeblichen Musikforscher seiner Generation, als Student ein 68er, meint, Musik sei für das Aufklärungsinteresse vielleicht nicht zentral genug gewesen, verglichen mit Juristen und Medizinern. Er verweist darauf, dass Bayreuth, einst tief mit Hitler verbandelt, »unbeschadet« weiterlebe, sogar als Pilgerziel deutscher Regierungschefs. Und er verweist auf den Nimbus der deutschen Ordinarien. »Der Professor muss sich mit keinem anderen auseinandersetzen. Und den Begriff Doktorvater gibt es nirgends sonst. Vom Vater verlangt man nicht Rechenschaft.« Eggebrecht muss ein sehr starker Vater gewesen sein, eine charismatische, polarisierende Gestalt, anziehend für helle und unruhige Köpfe. Ein Königsmacher. Wer bei ihm promovierte oder sich habilitierte, war schon Elite. Viele dieser Wissenschaftler bezogen wichtige Stellen an Hochschulen, in Verlagen und Redaktionen. Reinhold Brinkmann (Harvard) und Albrecht Riethmüller (FU Berlin), zwei der berühmtesten, gingen völlig verschiedene Wege; beide allerdings haben sich intensiv mit Musik im »Dritten Reich« befasst. Um 1970 galt Eggebrecht als »linker Professor«, er trat ein für studentische Mitbestimmung. Und nicht nur Fachkollegen interessierten ihn. »Er hielt immer die Hand über mich und hielt sie offen«, schrieb der Komponist Wolfgang Rihm in einem bewegenden Nachruf.

Einfluss aufs Fach entfaltete Eggebrecht vor allem durch seine Position. Um den publizierenden Forscher Eggebrecht hat sich bei den Fachleuten schon länger Ernüchterung ausgebreitet, zu der Boris von Hakens Enthüllung eher einen Hintergrund liefert, als dass sie zum Umdenken zwänge. Anders als Dahlhaus blieb Eggebrecht fast unübersetzt, eine deutsche Erscheinung. »Belächelt«, so Wolff, habe die Avantgarde der Beethoven-Forscher schon 1972 das Buch Zur Geschichte der Beethoven-Rezeption. Es geht darin um die Klischees, die jeder kennt: Beethoven als Titan, als Kämpfer und Menschheitsbeglücker. Sie entwickeln sich im frühen 19. Jahrhundert und gipfeln in Beethoven als zentraler musikalischer Ikone der Nazis.

Von denen steht allerdings nichts in dem Buch. Eggebrecht geht auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 nicht ein und akzentuiert doch die Leitmotive der Beethoven-Rezeption, die dazu führten, dass etwa die Pianistin Elly Ney im »Dritten Reich« in der Eroica »unerbittliche Kampfbereitschaft« und eine Rechtfertigung des Krieges erkannte. Eggebrechts Begriffstrias lautet »Leiden – Wollen – Überwinden«. Die Hartnäckigkeit dieser Begriffe beweise, dass die Musik selbst sie hervorbringe: »Die verbale Rezeption bringt die begriffslose Musik zum Begriff.« Die »willensmäßige Haltung« bleibt für Eggebrecht auch später das Wichtigste an Beethoven. Das alles liest man jetzt natürlich mit begründetem Misstrauen. Zumal der Autor in Die Musik im Abendland auch die Kräfte aufzählt, die das Abendland »bedrängt und bedroht« haben: »Islamische, osmanische, heidnische, barbarische«, »extrem materialistische, entseelt zivilisatorische, zerstörerisch technische«.

Den Buchrezensenten fiel die ideologisch schwer befrachtete Feindesliste nicht auf. Wohl aber, dass Eggebrechts Abendland sich vom Barock an zunehmend in ein deutschsprachiges verwandelte. Den Fokus rechtfertigte er durch engagiertes Bekenntnis zu fachunüblicher Subjektivität: »Ich bin es, der die Geschichte schreibt, durch mich ist sie hindurchgegangen.« Für dieses Bekennertum hat Ludwig Finscher nie recht Verständnis gehabt, während er neben dem Handwörterbuch auch Eggebrechts frühe Forschungen zum Mittelalter für unverzichtbar hält. Für Christoph Wolff ist die »bedeutendste Leistung die terminologische Forschung«, die anderen Arbeiten, »darüber sind sich deutsche und amerikanische Kollegen einig, sind letztlich passé«. Und manche Grenze seines Werks spiegelt sich nun im blinden Fleck der Biografie.

Doch das bequeme Axiom »einmal Nazi, immer Nazi« greift bei diesem Forscher ebenso wenig wie im schon legendären Fall des SS-Hauptsturmführers und »Ahnenerbe«-Ideologen Hans Schneider, der sich völlig neu erfand und als Germanistikprofessor Hans Schwerte zum linken Ideologiekritiker und Literatursoziologen wurde, hoch geachtet, bis 1995 niederländische Journalisten den Fall aufdeckten. Schwerte, schreibt der Historiker Bernd-A. Rusinek, »hatte vor der Gruppe 47 vorgetragen (…), seine Habilitationsschrift Faust und das Faustische von 1962 brach der germanistischen Ideologiekritik und der Rezeptionsgeschichte Bahn (…) Er setzte sich für die Vertretung des Fachs Deutsch-Jüdische Literaturgeschichte [in Aachen] ein und war mit Pierre Bertaux befreundet, dem Widerstandskämpfer und Hölderlin-Experten.« Schwerte schlug sich voll auf die Gegenseite der Nazis.

Wenn es ein Thema gibt, an dem Eggebrecht vergleichbar seine (Mit-)Schuld hat abarbeiten wollen, ist es Gustav Mahler, nach Mendelssohn der bedeutendste Komponist jüdischer Herkunft. Gut zwanzig Jahre nach Adornos bahnbrechender Studie, mit der die posthume Entdeckung Mahlers begann, legte Eggebrecht, nun 63 Jahre alt, das Buch Die Musik Gustav Mahlers vor. Es kam ziemlich unvermittelt bei einem, der sich um die Sinfonik des 19. Jahrhunderts kaum gekümmert hatte und eine musikhistorische Verortung Mahlers nicht leisten konnte und wollte. Sein Freund und Kollege Carl Dahlhaus besprach es 1982 in der ZEIT. »Einleuchtend« sei Eggebrechts Argument, Mahler habe musikalische »Umgangssprache« in artifiziellem Kontext beredt gemacht. Freilich sei es »im Grunde immer dasselbe«, was er in zahllosen Wiederholungen zur Sprache bringe. »Zeugnis einer unablässigen Anstrengung« sei das Werk. Ein verhaltenes Urteil. Doch ein Konzentrat der Auseinandersetzung Eggebrechts mit Mahler erscheint neun Jahre später in Musik im Abendland – und das gehört zu den spannendsten Texten, die es über diesen Komponisten gibt. Eggebrecht gerät hier ganz nah an sein Trauma, seine Schuld. Er schreibt über die Soldatenlieder und geht ein auf das »Entsetzliche«, das »in der Existenz des Soldaten mit eingeschlossen« sei. Mahler verweise »auf das in der scheinbaren Normalität angesiedelte Entsetzliche« und meine damit »den Menschen schlechthin (…), Mahlers Soldatenlieder opponieren nicht, und wo eine Regung des Subjekts sich zeigt, bleibt sie vergeblich.« Für Eggebrecht sind sie geradezu der Kern des Œuvres. Er schließt mit einer möglichen Reaktion auf diese Musik: »Das innerliche Weinen, das nichts verändert und wodurch doch alles anders wird.« Es ist schwer, das jetzt anders zu lesen denn als Reue.

Wie ein grausiger Rückfall wirkt hingegen sein dritter und letzter Gang zu Mahler, 1997 in Die Musik und das Schöne. Während er bis dahin einen Bogen um Mahlers Achte , die Sinfonie der Tausend gemacht hat, rechnet er nun mit ihr ab. Er beruft sich auf Adornos Skepsis gegenüber der »symbolischen Riesenschwarte«, geht aber weiter, ins Denunzierende: Mahler habe durch »monströse« Besetzung und »Apotheosegebaren« den »Öffentlichkeitserfolg« kalkuliert, im alles beherrschenden Erfolgsverlangen zeige sich der ganze Mahler. Schlimmer noch: Dem Kalkül opfere er das Allerchristlichste, denn dem Hymnus »Veni creator spiritus« antwortet das »Ewig-Weibliche«. »Mit dem christlichen Gebet kann man nicht machen, was man will«, erklärt Pfarrerssohn Eggebrecht streng dem zum Katholizismus konvertierten Juden Mahler, der es wagt, eine weltliche Erlösung zu komponieren.

Kalkül und Missbrauch – das erinnert nicht nur vor enthülltem Hintergrund an zentrale Begriffe antisemitischer Argumentation. Ein Kritiker stellte schon 1997 »die Frage, ob nach Auschwitz eine Mahler-Kritik wie seine geschrieben werden darf und ob einer sie schreiben darf, der wie er Hitlers Wehrmacht angehörte«. Irritation gab es hier und da auch über Eggebrechts Ansicht im selben Buch, Musik sei »ein Spiel« und nicht geeignet, »den Krieg in seiner Realität (…) oder Ausschwitz als Barbarei« zum Gegenstand zu haben. Zog er damit nicht alles zurück, was er zu den Soldatenliedern gesagt hatte?

»Unantastbar« sei der späte Eggebrecht gewesen, erinnert sich Christoph Wolff. Unantastbar war dem Alten vielleicht selbst – wieder – das Entsetzliche geworden, an dem er vorbeigearbeitet hatte, auf das er sich aber auch zugearbeitet hat. Mindestens bleibt von diesem Fall an jeden die Frage, wie er selbst mit Schuld umgeht, umgehen könnte. Den Lesern bleiben die Bücher, mit Differenzierung zu lesen. Und es bleibt der Musik jenes Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, mit dem ein von den Nazis verjagter Musikwissenschaftler seinem Fach nach dem Krieg eine Basis schenkte – und einem hochbegabten jungen Kollegen. »Das Wort klassisch«, schreibt Eggebrecht dort, »wertet rückblickend eine abgeschlossene Erscheinung.« Eine solche Erscheinung ist er zehn Jahre nach seinem Tod weniger denn je.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 16.12.2009