Kategorie-Archiv: Podium

Von Einhörnern, die es ohne Menschen nicht gäbe

Alfred Brendel mit Beethovens drei letzten Klaviersonaten im Gewandhaus Leipzig [erschienen am 20. November 1995]

Er geht zum Flügel wie zu einem Schreibtisch, wo was Angefangenes wartet, ergeben und entschlossen. Dann sitzt er und ist mittendrin. Notengestöber in E-Dur – die Trias der letzten Klaviersonaten Beethovens hat kein großes Eingangsportal und bei Alfred Brendel auch keine Beethovenbüste, vor der er sich verneigen müßte. Die beiden arbeiten schon länger zusammen.

Brendel läßt die Läufe und Sprünge huschen wie schnelle Notizen, aber die sind sehr präzis und verweisen gemeinsam auf ein anderes, inneres Tempo. Das führt dann auch zum nächsten Satz, Prestissimo, nicht treibend, sondern öffnend. Unter den Sechsachtelwellen kurz vor Schluß eine Schwelle im Baß: der Halbtonschritt B-A leuchtet im Piano, als er dann lauter wird, sind wir schon fast drüben, im „Andante molto cantabile ed expressivo”.

Da beginnt der Flügel zu singen. Das bedeutet nicht, daß der Pianist vorführt, was Sänger auch können. Der Gesang ist für dieses seltsame, mit Hämmern und Saiten gefüllte schwere Gerät geschrieben, das hat sein eigenes Wesen. Wenn es einer mit diesen Noten und diesen Händen belebt, dann ist es, als träte ein Einhorn aus dem Wald, um Wünsche zu erfüllen.

Wobei uns Brendel und sein Flügel nichts vormachen und zurechtzaubern. Man hört in den Tönen auch, daß es ohne Menschen gar keine Einhörner gäbe. Und in den Variationen danach, daß Beethoven sich in und mit seinem Werk nicht abschließen will. Es sind alles Fenster, und Brendel entdeckt in der vierten Variation sogar die Vorwegnahme des Motivs aus „Der dritte Mann“ und präpariert es unaufdringlich heraus. Als danach das alte Thema wiederkommt, ist etwas anderes in seinem Ton. Es singt immer noch, aber hat sich entfernt.

Der Pianist läuft ihm, in der nächsten Sonate opus 110, nicht nach, sondern scheint abzuwarten. Die As-Dur-Sonate ist so mehr Entwurf und Plan, denn Ereignis. Selbst im feinsten Tränenschmelz, im „Es ist vollbracht“- ähnlichen Arioso, steckt noch eine Spur Konstruktion. Brendel spielt die umgebenden Fugen. als ärgere sich Beethoven darüber und stecke sich selbst in den kontrapunktischen Käfig, um an den Stäben zu rütteln: Also nicht souveräne Architektur, sondern dröhnende, ja prügelnde Bässe beim ersten Mal, schrill kreischender Diskant zum Schluß. Das aber keineswegs besinnungslos – gerade durchs Extreme wird klar, wie bewußt da vorgegangen wird.

Die letzte Sonate, opus 111 in c-Moll, scheint wie eine Synthese aus den vorigen. Formal schon deswegen, weil die latente Zweisätzigkeit (die ersten beiden Sätze jeweils als Vor- oder Umwelt des Variationensatzes) hier in reale umschlägt. Und auf einer ganz neuen Ebene treffen sich Ausdruck und Abstraktion. „Ich-Verlassenheit” hörte Thomas Mann hier heraus, eine Deutung, die Alfred Brendel mit solcher Konsequenz bestätigt, daß er den „Faustus“-Autor am Ende noch überholt. Nicht, daß er kühl spielte, im Gegenteil. Mit voller Wucht wirft er sich hinein – und wird abgewiesen.

Wenn Beethoven (50) trotzig ist, ist Brendel (64) es auch. Der eigentümlichen Sachlichkeit zwischen den Klüften des ersten Satzes setzt er seine eigene Dramatik entgegen. Ein Kampf, unentschieden. Und im zweiten Satz, wo Beethoven vermeintlich Abenteuer anbietet, glaubt er ihm nicht, anders als der Dichter. Das Arietta-Thema hat kein Schicksal, es führt ins Nichtfaßbare.

Daß sich Brendel bei den Zweiunddreißigsteltriolen zum ersten Mal technischen Grenzen nähert, ist fast beruhigend bei soviel Abstraktion. Zu ihr führt alles: Der Triller, der sich chromatisch von As bis D hochstuft, zeugt da nicht von einsam heroischen Mühen, sondern verwandelt, wie flüssige Luft gespielt, endgültig das Gebundene ins Absolute.

Dort gibt es nicht mehr viele Nachbarn. Einen ließ Brendel als Zugabe nach den Ovationen im randvollen Gewandhaus hören. Busonis Klavierfassung von Bachs Choralvorspiel „Nun komm der Heiden Heiland“. Da war es wieder, das Singen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 20.11.1995 in der Leipziger Volkszeitung auf Seite 9. Für die Edition auf dieser Website wurde die Orthographie des Originals (vor der Rechtschreibreform 1996) beibehalten. Die Unterzeile wurde geändert; sie lautete “Alfred Brendel zauberte im randvollen Gewandhaus”.

„Man kann nicht einfach ruhig bleiben“

Seit 40 Jahren lenkt das Ensemble Modern die Geschicke der neuen Musik. In Zeiten des Shutdowns lohnt es sich erst recht, seinen Tönen nachzugehen

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Frühlingswald, Vogelzwitschern, ein Mann vor einem Baum. Jeans, weißes Hemd über dem Gürtel, unter dem kurzen weißen Haar eine Sonnenbrille.Er hat eine Oboe dabei und sagt, er vermisse das Publikum und seine Kollegen vom Ensemble Modern. Dann spielt er, allein mit seiner Oboe, Pan. Dem Hirtengott hat Benjamin Britten 1951 ein Solo geschrieben, wenige Minuten, eine klagende Weise voller Ornamente, Pan klagt um eine Nymphe. Christian Hommel wird selbst zu Pan, einsam in der Natur. Die Rückkehr an den Anfang der Musik beschwört die Zeit vor allen Konzerten. Das Video wird er ins Netz stellen.

Eigentlich hätten nun die Proben für das größte Projekt des Ensemble Modern im 40. Jahr seines Bestehens begonnen, für Les Espaces acoustiques von Gérard Grisey, der 1998 starb. Wie weltweit Hunderttausende Musiker sind auch die 19 Frankfurter Solisten auf unabsehbare Zeit vom Podium verbannt. Sie können für alle stehen. Geradezu idealtypisch vereinen sie, was man sich von Musikern wünscht – abenteuerlustig zu sein, intelligent, risikofreudig, präzise und leidenschaftlich, meisterlich im Beherrschen ihres Handwerks. Grund genug, durch ungewisse Stille hindurch ihnen und ihren Tönen nachzugehen.

Auch auf seinem Waldgang ist der Oboist einer Frage gefolgt, die schon immer wichtig für das Ensemble war. „Was ist an lebendiger Kunst machbar?“ So formuliert es Hommels Kollege Dietmar Wiesner am Telefon, Flötist und mittlerweile der einzige im Team, der seit dem ersten Konzert 1980 dabei ist.  Es gab damals Stücke von Schönberg, Webern und Goldmann. Auf dem Plakat des Deutschlandfunks in Köln stand “Ensemble Modern der Jungen Deutschen Philharmonie”, denn aus diesem Orchester bester Studenten kamen sie alle, neugierig auf Werke, die auf dem Podium kaum eine Chance hatten, skeptisch gegenüber der hierarchischen Praxis, auf die man sie an muffigen Hochschulen vorbereitet hatte, nicht interessiert am Mainstream. Aber ebenso wenig, so Wiesner, an der “reinen Lehre der neuen Musik” und den Gräben, die Serialisten und Minimalisten, Kontrollfreaks und Anarchisten trennten.

Hier treffen sich Zappa und Lachenmann

Sonst wäre 1992 wohl kaum der Rockderwisch Frank Zappa – schmal, grinsend, todkrank und glücklich – auf das Podium der Alten Oper Frankfurt geschlendert, wo das Ensemble sein Projekt Yellow Shark realisierte. Kompositionen zwischen Plastikpistole und Sphärenklang, während im Publikum soignierte Graubärte und Bierflaschenjungs im Muscleshirt ausrasteten. Sonst wären Rihms Jagden und Formen, Lachenmanns Mouvement, Henzes Phädra gar nicht erst komponiert worden, alles inspiriert von den Möglichkeiten dieser Gruppe, über die di ZEIT schrieb: „Käme ein Komponist auf die Idee, sein Werk unter dem Eis der Arktis erklingen zu lassen, sie würden bestimmt ernsthaft über die Realisierungsmöglichkeiten nachdenken.” Und noch ernsthafter diskutieren: Die basisdemokratischen Auseinandersetzungen des „EM“ sind legendär.

Es gab und gibt keinen Chef, nur neunzehn Individuen, deren Verschiedenheit schon deutlich wird, wenn man drei von ihnen nach diesen Treffen fragt. Gründungsmitglied Dietmar Wiesner: “Wir diskutieren nicht jeden Bleistift zu Ende. Jeder von uns ist irgendwann in seiner Ästhetik abgebildet, man trägt das mit, wofür es eine Mehrheit gab, und grollt nicht wochenlang.” Die Cellistin Eva Böcker, seit 1994 dabei: “Da geht es manchmal heiß her. Die Vielzahl der Meinungen verlangsamt oft die Entscheidungen.” Der Geiger Giorgos Panagiotidis, seit fünf Jahren dabei: “Eigentlich sind wir wie eine Familie, da gibt es viel Grund zum Streiten“, er lacht. „Wichtig ist es, das Format für die Diskussion zu finden. Das ist ein Prozess und bleibt es immer.“

Den jetzt 38-jährigen Griechen, der dasEnsemble bei einem Kurs auf der Insel Patmos kennenlernte, hat neben der neuen Musik der Verzicht auf Hierarchie fasziniert: “Das war für mich eine Befreiung, künstlerisch und gesellschaftlich. Man kann auch mit Beethoven innovativ sein, aber ich wollte dabei sein, wenn in der Entwicklung der Musik ein kleiner Stein dazukommt.“ Eva Böcker kam  zum Ensemble wie die Jungfrau zum Kinde. In England aufgewachsen, traditionell ausgebildet, sprang die Cellistin kurzfristig ein, „ohne Noten und ohne Erfahrung mit neuer Musik. Die erste Probe war ein Schock. Keiner hatte mir gesagt, dass es nur der Komponist und ich sein würden, Heiner Goebbels. Auf dem Papier waren Kreise, Quadrate, Pfeile und Noten, damit konnte ich nichts anfangen.“

Aber dann mochte sie die Stücke des Frankfurter Spontis, der dem Ensemble seine Musik, alle Genres mixend, nicht nur auf den Leib schrieb, sondern mit den Musikern bald auch Theater machte – spektakulär erstmals 1996 in Schwarz auf Weiß, mit Texten von Heiner Müller, einer der Meilensteine in der Ensemblegeschichte. “Ich habe nie eine Uraufführung erlebt, bei der wir so nervös waren”, erinnert sich Böcker. Sie merkte bald, wie viele Stilrichtungen es in der neuen Musik gibt, war dabeigeblieben und selbst zur “Gesellschafterin” geworden. Träger des Ensembles, einer GbR, sind die Musiker selbst.

Bis Mitte April fehlen schon 250.000 Euro

Vom Jahresetat müssen sie drei Viertel selbst erwirtschaften, ein Viertel sind institutionelle Zuwendungen, Rücklagen dürfen sie keine bilden. Allein bis Mitte April brechen dem Ensemble nun 250.000 Euro an Einnahmen weg. „Durch das Rücklagenverbot“, sagt Christian Fausch, seit vier Jahren mit Geschäftsführung und künstlerischem Management betraut, „waren wir nicht einmal auf weniger gravierende Situationen vorbereitet. Zwingend müssen wir mit der Politik über das deutsche Zuwendungsrecht sprechen.“ Zunächst aber muss tausenden freier Musiker schnell und unbürokratisch geholfen werden – wofür inzwischen auch die Tariforchester Fonds eingerichtet haben.

Eine stark gewachsene freie Szene hat eine große Musiklandschaft neben den Tariforchestern zum Blühen gebracht – mit hohem Risiko und niedrigen Einkünften. Neben “großer Solidarität” nimmt Fausch in der Öffentlichkeit eine “erschreckende Unkenntnis der Situation von Musikern” wahr. Der Shutdown biete auch “eine Chance für neuen Gesprächsfluss, in dem Fakten vermittelt werden”.

Auf Unterstützung freilich war das Ensemble Modern schon immer angewiesen, und nicht selten kam sie von Privatleuten. Geistesverwandte wie die früheren Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die eine Patronatsgesellschaft gründete, oder die Dirigententochter, die in einer bulgarischen Rockband spielt und das USA-Debüt der Frankfurter rettete. “Ohne Arabel Karajan hätte das nicht stattgefunden”, sagt der Flötist Wiesner, “wir haben seitdem eine tolle Freundschaft.” Seit jenem triumphalen Konzert 1996 im New Yorker Lincoln Center, als John Adams seine Chamber Symphony dirigierte, flankiert von Zappas funkelndem G-Spot-Tornado, Rihms Gejagter Form und etwas bis dahin Unspielbarem: irrwitzige Überlagerungen, die Conlon Nancarrow ins Papier seines Player Piano gestanzt hatte. Der Saal tobte. Der Minimalist Steve Reich, der auch da war, rief: “Die Stadt gehört euch!”

Diese Stadt wurde im September 2001 ins Mark getroffen. Später reagierte Reich darauf mit WTC 9/11 für Tonband und Streichquartett. “They came from Boston … airline … the wrong way”. Bei den Silben von “Boston” steigt die Stimme im Mitschnitt des Funkspruchs um einen Halbton. Das Cello akzentuiert ihn. Die Geigen repetieren starr ihre hohen Töne. “Plane just crashed”, Schnitt, Wiederholung: “Plane just crashed into World Trade”. Dokumente des Grauens sind so gestaltet, dass wir erleben, was wir in uns tragen an Erinnerung und Angst. Vor vier Jahren in Hannover verband das Ensemble Modern dieses Werk mit den Three Tales, die Reich 2002 für die Frankfurter geschaffen hatte, gemeinsam mit seiner Frau, der Videokünstlerin Beryl Korot, eine “video opera” über Fanale des technischen Fortschritts: Hindenburg (die Zeppelinkatastrophe), Bikini (der Wasserstoffbombentest) and Dolly (das Klonschaf).

Es wurde ein Abend, den man nicht etwa bedrückt verließ, sondern mit einer heftigen Liebe zur geschundenen Welt und Menschheit verließ, gestärkt und motiviert, sie sofort besser zu machen. Kunst bedeutet, Widersprüche  auszuhalten, aber auch, in ihnen einen Weg zu entdecken. So, wie das Ensemble Modern seine Kunst betreibt, ist sie existenziell, ohne uns je zu bevormunden; sie fordert uns heraus, aber immer aus der Position des Suchens heraus, nicht aus der des Gefundenhabens.

Ob diese Position jetzt hilft? “Künstler müssen produktiv bleiben, man kann nicht einfach ruhig bleiben”, sagt der Geiger Giorgos Panagiotidis. “In schwierigen Zeiten wurden schon immer Linien überschritten. Platon sagte, Musik ist der Arzt der Seele. Die Kunst muss jetzt eine große Rolle spielen.” Am Ostermontag werden er und sein indischer Kollege Jagdish Mistry sich mit ihren Geigen ins Domizil des Ensembles begeben, eine umgebaute alte Fabrik im Frankfurter Osten, und im Dachsaal live Duos spielen – im Sicherheitsabstand. Aber uns nah wie Christian Hommel im Wald. Brittens Pan endet mit einem winzigen eiligen Dreitonmotiv der Oboe. Frage, Abriss, Schluchzer? Stille. Der Oboist wendet den Kopf jäh zur Seite. Die Vögel zwitschern weiter.

Seit dem 9. April werden jeden Donnerstag und Montag um 20.30 Live-Konzerte mit ein bis zwei Musiker*innen aus dem Dachsaal des Ensemble-Domizils gestreamt.
Persönliche Videostatements der Musiker wie das von Christian Hommel sind hier zu finden.

Dieser Text ist eine aktualisierte und längere Fassung des Artikels, der am 8. April 2020 im Feuilleton der ZEIT und auf ZEIT online erschien. Das Foto von Dominik Mentzos zeigt das Ensemble Modern mit Tänzern von Sasha Waltz in “Jagden und Formen”, 2008

 

Geschlechterrolle vorwärts

Von Jaroussky bis Cenčič und Orliński: Countertenöre sind präsent wie nie zuvor, auf den Opernbühnen wie im Internet. Ihr Erfolg hat viel zu tun mit den Ambivalenzen der Gegenwart

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Breakdance über Warschaus Dächern: Jakub Józef Orliński

Er singt Henry Purcells Let me weep, sie klagt auf arabisch von der Liebe. Er ornamentiert diatonisch, sie mittelmeerisch. Er erreicht schlackenlos das zweigestrichene fis, sie bleibt mit rauhem Timbre eine kleine Terz darunter. Gegensätzlicher können Sänger kaum sein als Dima Orsho, 1975 in Damaskus geboren, und Valer Sabadus, der neun Jahre später in Rumänien zur Welt kam. Doch nicht der Kontrast ist neu – eher zu oft schon sind Orient und Okzident zum crossover gebeten worden. Die Songs of Love, jüngst in Berlin frenetisch bejubelt, vertiefen in 90 Minuten eine Qualität, die keine der Musiksprachen verbiegt und doch beide eng verschränkt bis hin zum Duett und weiter noch: Als der Counter und die Mezzosopranistin zusammen improvisieren, ist das von utopischer Schönheit und lässt ahnen, wie die Welt auch sein könnte.

Abende wie dieser brauchen keine Absichtserklärungen und Spezialfestivals zur Multikultur mehr – und sie zeigen auch, wie sehr die Welt der Counter sich gewandelt hat, der historisch geschulten männlichen Hochtöner. Barockmusik bleibt ihr native country, aber an Offenheit sind sie den klassischen Stimmfächern weit voraus – und ihnen an Popularität gewachsen. Der jüngste Star der Szene, Jakub Józef Orliński, kann mit einem Liederabend die Frankfurter Oper bis unters Dach füllen: ein Breakdancer und Instagrammer mit violetten Socken zum Anzug, der barocke Arien auch mal zum historisch unkorrekten Steinway singt, und der Menschen, die das erste klassische Konzert ihres Lebens hören, für polnische Lieder des 20. Jahrhunderts begeistert.

Synthese in der Mitte der vokalen Gesellschaft

Countertenöre sind so in wie nie zuvor. Sie bilden jetzt eine ausgewachsene Branche mit vielen Stars, die in den Castings der Opernhäuser feste Plätze haben. Vor fünfzehn Jahren wäre das so undenkbar gewesen wäre wie die Sopranhöhe eines 33-jährigen wie Valer Sabadus, die Auftritte von Dima Orsho mit ihm und anderen Countern, oder wie die vier Millionen Klicks, die der 28-jährige Jakub Józef Orliński mit einer Arie von Vivaldi erntet. Ein Stimmfach, das einst als Synthese im Labor der „Alten Musik“ entstand, ist in die Mitte der vokalen Gesellschaft gewandert, der Opernhäuser, Konzertsäle, Netzpodien – und der Tonträger, die offenbar doch noch gebraucht werden.

Freilich, noch immer gibt es Leute, die sich fragen, ob derartig hoch singende Männer körperlich von unten bis oben intakt sind. „Kastrat bin ich nicht, da muss ich wohl ein Counter sein“, sagt spöttisch Max Emanuel Cenčič. Wer meint, ein Sänger in Altuslage könne bei Liebesduetten bestenfalls keusch wirken, sollte sich mal Cenčič und Sonya Yoncheva mit Pur ti miro aus Monteverdis Poppea anschauen. Es irritiert keinen mehr, dass bei Countern die tessitura besonders weit von der Sprechstimme entfernt ist, anders als bei den barocken Kastraten mit ihren Kinderkehlköpfen über Hünenkörpern. Unvergessen, wie Kai Wessel als Titelheld in Cavallis Il Giasone inmitten seiner Hochkoloraturen auf der Bühne zwischendurch ein baritonales „Oh, oh…“ beiseite sprach und die Oper noch komischer wurde, als sie eh schon ist.

Aber das war zu Beginn dieses Jahrhunderts, als beim breiten Publikum der Kastratenfilm Farinelli von 1995 noch immer den Eindruck nährte, oberhalb der Tenorlage könnten Sänger nur schrille Exoten sein – wozu auf seine Weise ja auch Michael Jackson beitrug – und man die prominenten Hochtöner des Barockgesangs an einer Hand abzählen konnte. Einer von ihnen war Andreas Scholl, Jahrgang 1967, der bei René Jacobs studiert hatte und etlichen Sängern zum Vorbild wurde. Sabadus, damals Gymnasiast in Bayern, erlebte Scholl 2003 in einer Fernsehsendung und imitierte ihn so gut, dass seine klavierspielende Mutter befand: „Du bist ein Countertenor!“ Später sang er mit in dem Quintett, mit dem die Branche eine neue Umlaufbahn erreichte.

“Artaserse” oder Das Statement von Nancy

Bis dahin hätte es wohl kein größeres Haus riskiert, eine völlig unbekannte Barockoper mit Countern in all den Rollen zu produzieren, die 1730 in Rom von Kastraten gesungen worden waren – Frauengestalten inklusive. 2016 aber gab es so viele gute und berühmte, dass sich fünf von ihnen in Nancy zur Ouvertüre von Leonardo Vincis Artaserse als solidarische, selbstbewusste Gruppe präsentieren konnten, beim Schminken und Plaudern, an der Spitze Max Emanuel Cenčič und Philippe Jaroussky. Auch wegen dieser Stars wurde das Doppelalbum mit der Ausgrabung 25.000 Mal verkauft, mitten im Niedergang der Tonträgerindustrie. Aber eben auch mitten in einem gesellschaftlichen Aufbruch aus so alten wie verblüffend zähen Geschlechterrollen

Es geht dabei nicht mehr um Travestien, sondern um Offenheit für Ambivalenzen. Die schlummern auch in der Musik selbst, wie Philippe Jaroussky am Ruggiero aus Händels Alcina klar macht: „Ich bin ein Mann, und gerade darum kann ich die feminine Seite von Ruggiero besser betonen als ein weiblicher Mezzo. Genau wegen dieses Charakters hat der Kastrat Carestini die Rolle nicht gemocht.“ Mit der Vorgeschichte ihres Stimmfachs befassen sich Counter gründlicher als die meisten Kollegen und Kolleginnen, von Bass bis Sopran. Denn als Solospezies sind sie erst wenige Jahrzehnte alt, auch wenn es Diskantsänger mit „Kopfstimme“ seit Jahrhunderten gibt. Aus deren englischer Chortradition kam Alfred Deller, 1912 geboren, ein Pionier des Fachs.

Von dem, was seine Nachfolger in fünfter, sechster Generation heute bewerkstelligen, an Beweglichkeit, Volumen, szenischer Präsenz, hätte er sich nichts träumen lassen. Zwar wird die Counter-Evolution nie die höchsten Töne erreichen, die Kastraten möglich waren. Doch die testosteronbefreiten Herren des 18. Jahrhunderts sangen wie ihre naturbelassenen Nachfolger in unterschiedlichen Lagen von Alt bis Sopran. Counter Max Cenčič hält sich gern an Händels Liebling Senesino, „sicherlich der virtuoseste Altist überhaupt. Ich kenne niemanden, für den so viel Tolles geschrieben wurde. Das kann man nicht schmalbrüstig singen, da muss man eine Palette an Farben ausbreiten!“

Wie seine Kollegen hat Cenčič große Teile seines Repertoires selbst ausgegraben, vom Boom der Barockoper beflügelt. „Die guten Opern des 19. Jahrhunderts“, meint er, „wurden schon alle rauf und runter gespielt. Wenn man auf etwas anderes aus dieser Epoche ausweicht, ist es so lala. Mit Barock fährt man eigentlich immer sicher. Das sind Schlager!“ 1976 in Zagreb geboren und heute in Paris lebend, ist dieser Kosmopolit ein Beweger der Branche. Mit neunzehn hatte er als Wiener Sängerknabe bereits 2000 Auftritte hinter sich, studierte dann in den USA Internationale Beziehungen und kehrte zur Musik zurück, nicht nur als Sänger. Er gründete eine Produktionsfirma und führt auch – erfolgreich – Regie.

Auch per Video lernt ein Sänger vom andern

Wenn er, im Gespräch gern sarkastisch und im Gesang mit brennendem Kern, der Teufel der Branche ist, dann ist Philippe Jaroussky – die beiden verstehen sich bestens – der Engel, mit besonderer Reinheit und Sanftheit der Stimme, weniger Rampensau als Exeget.1978 bei Paris geboren, sang er im Schulchor, lernte Geige und Klavier und entdeckte seine Berufung, als er mit 18 Jahren den Counter Fabrice de Falco hörte. Inzwischen hat Jaroussky selbst den Nachwuchs inspiriert, auch via Internet: „Von mir gibt es auf Youtube die Arie Vedrò con mio diletto von Vivaldi, und ich sehe eine Menge Videos von jungen Sängern, die diese Arie mit exakt meinen Verzierungen singen.“ Einer lernt vom andern.

Auch Jakub Józef Orliński, dreizehn Jahre jünger, hat von Jaroussky gelernt, den er neben Andreas Scholl verehrt, auch er ist mit dieser Arie im Netz zu finden. Er singt sie, im Sommer 2017 direkter, mehr vorwärtsdrängend als schwebend, und eine Terz tiefer, aber nicht deswegen brach der Probenmitschnitt mit vier Millionen Aufrufen alle Klickrekorde der Counter. Orlinsky trug Freizeitklamotten auf gut trainiertem Leib und wirkte, als sei Vivaldi für ihn so selbstverständlich wie der Kaffee zum Frühstück. Das ließ für viele die Gräben schwinden, von denen der „Klassikbetrieb“ noch immer umgeben ist. 43.000 Fans folgen Orliński auf Instagram – und etliche von denen kommen auch in seine Konzerte.

1990 in Warschau geboren, kam er über den Schulchor und als Fan der Kings´ Singers zum Singen, jobbte als Klamottenverkäufer und Model, war (und ist) Breakdancer – und wurde nach dem Gesangsstudium zu vielen Wettbewerben gar nicht erst eingeladen. Erst vor zwei Jahren fiel er auf, in Aix-en-Provence, bei Youtube und in Frankfurt als ein Rinaldo, dessen Motorik fast die Tänzer in den Schatten stellte. Inzwischen hat er sein zweites Album vorgelegt – wieder mit Novitäten des 18. Jahrhunderts, erneut in einer Optik, die das Virile unterstreicht, während einst Jaroussky zur androgynen Projektionsgestalt gestylt wurde. Allerdings kann man die meisten Counter auch blind unterscheiden – nirgendwo sonst ist die Diversität der Timbres und Interpretationen so groß.

Über Schubert und Belle Époque ins 21. Jahrhundert

Und der Drang, das Repertoire zu erweitern. Viele fühlen sich dabei von Franz Schubert herausgefordert – was mal gut geht und mal nicht, wie bei allen anderen. Der Katalane Xavier Sabata hat sich jüngst die Winterreise vorgenommen und gerät dabei an Grenzen poetischer Nuancierung wie vokaler Fokussierung, an die man bei Philippe Jarousskys neuen Aufnahmen zweier Schubertlieder nicht denkt. Der ist freilich mit dem Deutschen so vertraut, dass es ihm auch gelang, in Bachs Ich habe genug Todessehnsucht mit innigem Weltglanz zu verbinden. All das kann man nachhören auf einem neuen Dreieralbum, das fast schon so etwas wie eine Schaffensbilanz ist – einschließlich seiner wunderbaren Exkursionen in die Belle Époque.

Wie viel die Counter mit der Gegenwart zu tun haben, mit all den Synthesen, Gebrochenheiten, Randerfahrungen ihres Fachs, das wissen die Komponisten schon lange. Benjamin Britten schrieb 1960 für Alfred Deller die Partie des Oberon in A Midsummer Night´s Dream, Aribert Reimann besetzte 1976 im Lear den Edgar hochtönend; in Reimanns Medea kreierte 2010 Max Emanuel Cenčič den Herold. Olga Neuwirth nutzt in Bählamms Fest den Kontrast zwischen Sing- und Sprechstimme; in Klaus Hubers Mandelstam-Oper Schwarzerde dagegen liefert der Counter den verbindenden Gesang zwischen diversen deformierten Gestalten. Und als der Brite Jonathan Dove eine Oper über jenen Flüchtling schrieb, der jahrelang im Flughafen Charles de Gaulle festsaß – wie besetzte er da wohl die Titelrolle? Die Counter blühen an den Bruchlinien bewegter Zeiten.

Philippe Jaroussky: Passion Jaroussky, 3 CDs, Erato (Warner)
Xavier Sabata: Schubert, “Winterreise”, Berlin Classics (Edel)
Jakub Józef Orlińsky: Facce d´amore, Erato (Warner)
Valer Sabadus / Dima Orsho: „Songs of Love”, Mitschnitt im Deutschlandfunk

Dieser Text erschien in der ZEIT vom 21. November 2019 sowie auf ZEIT online und ist urheberrechtlich geschützt. Die Fassung auf dieser Website enthält geringfügige Änderungen und zusätzliche Zwischentitel. Im verlinkten Ausschnitt aus “Schwarzerde” (Basel, 2001) ist Kai Wessel in der Rolle des Knaben zu hören.