Seit 40 Jahren lenkt das Ensemble Modern die Geschicke der neuen Musik. In Zeiten des Shutdowns lohnt es sich erst recht, seinen Tönen nachzugehen
Frühlingswald, Vogelzwitschern, ein Mann vor einem Baum. Jeans, weißes Hemd über dem Gürtel, unter dem kurzen weißen Haar eine Sonnenbrille.Er hat eine Oboe dabei und sagt, er vermisse das Publikum und seine Kollegen vom Ensemble Modern. Dann spielt er, allein mit seiner Oboe, Pan. Dem Hirtengott hat Benjamin Britten 1951 ein Solo geschrieben, wenige Minuten, eine klagende Weise voller Ornamente, Pan klagt um eine Nymphe. Christian Hommel wird selbst zu Pan, einsam in der Natur. Die Rückkehr an den Anfang der Musik beschwört die Zeit vor allen Konzerten. Das Video wird er ins Netz stellen.
Eigentlich hätten nun die Proben für das größte Projekt des Ensemble Modern im 40. Jahr seines Bestehens begonnen, für Les Espaces acoustiques von Gérard Grisey, der 1998 starb. Wie weltweit Hunderttausende Musiker sind auch die 19 Frankfurter Solisten auf unabsehbare Zeit vom Podium verbannt. Sie können für alle stehen. Geradezu idealtypisch vereinen sie, was man sich von Musikern wünscht – abenteuerlustig zu sein, intelligent, risikofreudig, präzise und leidenschaftlich, meisterlich im Beherrschen ihres Handwerks. Grund genug, durch ungewisse Stille hindurch ihnen und ihren Tönen nachzugehen.
Auch auf seinem Waldgang ist der Oboist einer Frage gefolgt, die schon immer wichtig für das Ensemble war. „Was ist an lebendiger Kunst machbar?“ So formuliert es Hommels Kollege Dietmar Wiesner am Telefon, Flötist und mittlerweile der einzige im Team, der seit dem ersten Konzert 1980 dabei ist. Es gab damals Stücke von Schönberg, Webern und Goldmann. Auf dem Plakat des Deutschlandfunks in Köln stand “Ensemble Modern der Jungen Deutschen Philharmonie”, denn aus diesem Orchester bester Studenten kamen sie alle, neugierig auf Werke, die auf dem Podium kaum eine Chance hatten, skeptisch gegenüber der hierarchischen Praxis, auf die man sie an muffigen Hochschulen vorbereitet hatte, nicht interessiert am Mainstream. Aber ebenso wenig, so Wiesner, an der “reinen Lehre der neuen Musik” und den Gräben, die Serialisten und Minimalisten, Kontrollfreaks und Anarchisten trennten.
Hier treffen sich Zappa und Lachenmann
Sonst wäre 1992 wohl kaum der Rockderwisch Frank Zappa – schmal, grinsend, todkrank und glücklich – auf das Podium der Alten Oper Frankfurt geschlendert, wo das Ensemble sein Projekt Yellow Shark realisierte. Kompositionen zwischen Plastikpistole und Sphärenklang, während im Publikum soignierte Graubärte und Bierflaschenjungs im Muscleshirt ausrasteten. Sonst wären Rihms Jagden und Formen, Lachenmanns Mouvement, Henzes Phädra gar nicht erst komponiert worden, alles inspiriert von den Möglichkeiten dieser Gruppe, über die di ZEIT schrieb: „Käme ein Komponist auf die Idee, sein Werk unter dem Eis der Arktis erklingen zu lassen, sie würden bestimmt ernsthaft über die Realisierungsmöglichkeiten nachdenken.” Und noch ernsthafter diskutieren: Die basisdemokratischen Auseinandersetzungen des „EM“ sind legendär.
Es gab und gibt keinen Chef, nur neunzehn Individuen, deren Verschiedenheit schon deutlich wird, wenn man drei von ihnen nach diesen Treffen fragt. Gründungsmitglied Dietmar Wiesner: “Wir diskutieren nicht jeden Bleistift zu Ende. Jeder von uns ist irgendwann in seiner Ästhetik abgebildet, man trägt das mit, wofür es eine Mehrheit gab, und grollt nicht wochenlang.” Die Cellistin Eva Böcker, seit 1994 dabei: “Da geht es manchmal heiß her. Die Vielzahl der Meinungen verlangsamt oft die Entscheidungen.” Der Geiger Giorgos Panagiotidis, seit fünf Jahren dabei: “Eigentlich sind wir wie eine Familie, da gibt es viel Grund zum Streiten“, er lacht. „Wichtig ist es, das Format für die Diskussion zu finden. Das ist ein Prozess und bleibt es immer.“
Den jetzt 38-jährigen Griechen, der dasEnsemble bei einem Kurs auf der Insel Patmos kennenlernte, hat neben der neuen Musik der Verzicht auf Hierarchie fasziniert: “Das war für mich eine Befreiung, künstlerisch und gesellschaftlich. Man kann auch mit Beethoven innovativ sein, aber ich wollte dabei sein, wenn in der Entwicklung der Musik ein kleiner Stein dazukommt.“ Eva Böcker kam zum Ensemble wie die Jungfrau zum Kinde. In England aufgewachsen, traditionell ausgebildet, sprang die Cellistin kurzfristig ein, „ohne Noten und ohne Erfahrung mit neuer Musik. Die erste Probe war ein Schock. Keiner hatte mir gesagt, dass es nur der Komponist und ich sein würden, Heiner Goebbels. Auf dem Papier waren Kreise, Quadrate, Pfeile und Noten, damit konnte ich nichts anfangen.“
Aber dann mochte sie die Stücke des Frankfurter Spontis, der dem Ensemble seine Musik, alle Genres mixend, nicht nur auf den Leib schrieb, sondern mit den Musikern bald auch Theater machte – spektakulär erstmals 1996 in Schwarz auf Weiß, mit Texten von Heiner Müller, einer der Meilensteine in der Ensemblegeschichte. “Ich habe nie eine Uraufführung erlebt, bei der wir so nervös waren”, erinnert sich Böcker. Sie merkte bald, wie viele Stilrichtungen es in der neuen Musik gibt, war dabeigeblieben und selbst zur “Gesellschafterin” geworden. Träger des Ensembles, einer GbR, sind die Musiker selbst.
Bis Mitte April fehlen schon 250.000 Euro
Vom Jahresetat müssen sie drei Viertel selbst erwirtschaften, ein Viertel sind institutionelle Zuwendungen, Rücklagen dürfen sie keine bilden. Allein bis Mitte April brechen dem Ensemble nun 250.000 Euro an Einnahmen weg. „Durch das Rücklagenverbot“, sagt Christian Fausch, seit vier Jahren mit Geschäftsführung und künstlerischem Management betraut, „waren wir nicht einmal auf weniger gravierende Situationen vorbereitet. Zwingend müssen wir mit der Politik über das deutsche Zuwendungsrecht sprechen.“ Zunächst aber muss tausenden freier Musiker schnell und unbürokratisch geholfen werden – wofür inzwischen auch die Tariforchester Fonds eingerichtet haben.
Eine stark gewachsene freie Szene hat eine große Musiklandschaft neben den Tariforchestern zum Blühen gebracht – mit hohem Risiko und niedrigen Einkünften. Neben “großer Solidarität” nimmt Fausch in der Öffentlichkeit eine “erschreckende Unkenntnis der Situation von Musikern” wahr. Der Shutdown biete auch “eine Chance für neuen Gesprächsfluss, in dem Fakten vermittelt werden”.
Auf Unterstützung freilich war das Ensemble Modern schon immer angewiesen, und nicht selten kam sie von Privatleuten. Geistesverwandte wie die früheren Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die eine Patronatsgesellschaft gründete, oder die Dirigententochter, die in einer bulgarischen Rockband spielt und das USA-Debüt der Frankfurter rettete. “Ohne Arabel Karajan hätte das nicht stattgefunden”, sagt der Flötist Wiesner, “wir haben seitdem eine tolle Freundschaft.” Seit jenem triumphalen Konzert 1996 im New Yorker Lincoln Center, als John Adams seine Chamber Symphony dirigierte, flankiert von Zappas funkelndem G-Spot-Tornado, Rihms Gejagter Form und etwas bis dahin Unspielbarem: irrwitzige Überlagerungen, die Conlon Nancarrow ins Papier seines Player Piano gestanzt hatte. Der Saal tobte. Der Minimalist Steve Reich, der auch da war, rief: “Die Stadt gehört euch!”
Diese Stadt wurde im September 2001 ins Mark getroffen. Später reagierte Reich darauf mit WTC 9/11 für Tonband und Streichquartett. “They came from Boston … airline … the wrong way”. Bei den Silben von “Boston” steigt die Stimme im Mitschnitt des Funkspruchs um einen Halbton. Das Cello akzentuiert ihn. Die Geigen repetieren starr ihre hohen Töne. “Plane just crashed”, Schnitt, Wiederholung: “Plane just crashed into World Trade”. Dokumente des Grauens sind so gestaltet, dass wir erleben, was wir in uns tragen an Erinnerung und Angst. Vor vier Jahren in Hannover verband das Ensemble Modern dieses Werk mit den Three Tales, die Reich 2002 für die Frankfurter geschaffen hatte, gemeinsam mit seiner Frau, der Videokünstlerin Beryl Korot, eine “video opera” über Fanale des technischen Fortschritts: Hindenburg (die Zeppelinkatastrophe), Bikini (der Wasserstoffbombentest) and Dolly (das Klonschaf).
Es wurde ein Abend, den man nicht etwa bedrückt verließ, sondern mit einer heftigen Liebe zur geschundenen Welt und Menschheit verließ, gestärkt und motiviert, sie sofort besser zu machen. Kunst bedeutet, Widersprüche auszuhalten, aber auch, in ihnen einen Weg zu entdecken. So, wie das Ensemble Modern seine Kunst betreibt, ist sie existenziell, ohne uns je zu bevormunden; sie fordert uns heraus, aber immer aus der Position des Suchens heraus, nicht aus der des Gefundenhabens.
Ob diese Position jetzt hilft? “Künstler müssen produktiv bleiben, man kann nicht einfach ruhig bleiben”, sagt der Geiger Giorgos Panagiotidis. “In schwierigen Zeiten wurden schon immer Linien überschritten. Platon sagte, Musik ist der Arzt der Seele. Die Kunst muss jetzt eine große Rolle spielen.” Am Ostermontag werden er und sein indischer Kollege Jagdish Mistry sich mit ihren Geigen ins Domizil des Ensembles begeben, eine umgebaute alte Fabrik im Frankfurter Osten, und im Dachsaal live Duos spielen – im Sicherheitsabstand. Aber uns nah wie Christian Hommel im Wald. Brittens Pan endet mit einem winzigen eiligen Dreitonmotiv der Oboe. Frage, Abriss, Schluchzer? Stille. Der Oboist wendet den Kopf jäh zur Seite. Die Vögel zwitschern weiter.
Seit dem 9. April werden jeden Donnerstag und Montag um 20.30 Live-Konzerte mit ein bis zwei Musiker*innen aus dem Dachsaal des Ensemble-Domizils gestreamt.
Persönliche Videostatements der Musiker wie das von Christian Hommel sind hier zu finden.
Dieser Text ist eine aktualisierte und längere Fassung des Artikels, der am 8. April 2020 im Feuilleton der ZEIT und auf ZEIT online erschien. Das Foto von Dominik Mentzos zeigt das Ensemble Modern mit Tänzern von Sasha Waltz in “Jagden und Formen”, 2008