Kategorie-Archiv: Reportagen

Zerbrochene Träume

Die Oper als Seismograph: Was an Madrids Teatro Real passiert, erzählt viel über ein Land in der Krise. Und darüber, wie man aus künstlerischen Erfolgen Stricke dreht. [aus DIE ZEIT vom 6.2.2014, hier neu ediert aus Anlass des 10. Todestags von Gerard Mortier am 8. März 2014]

Screenshot 2024-03-05 200256Tom Randle (li.) und Daniel Okulitch als schwules Liebespaar in der Opernfassung des Kinofilms “Brokeback Mountain” im Teatro Real in Madrid © Carlos Alvarez/​Getty Images

Die große Liebe, sie stört. Der Umsturz liegt in ihrer Natur. Die Liebenden selbst fürchten sich davor fast so sehr wie vor der Reaktion der anderen. “I ain’t no queer”, sagt Ennis Del Mar nach der ersten Nacht mit Jack Twist im Zelt, er sei nicht schwul. Da ist was dran. Wenn es zwischen zwei Cowboys in den Bergen von Wyoming so funkt wie einst zwischen Tristan und Isolde, geht es weniger um Sex als ums Fortgerissenwerden – und die Repression, mit der die Gesellschaft auf jegliche Grenzverletzung reagiert. Aber Grenzen können verschoben werden, in der Kunst sogar unmittelbar, vor aller Augen. Darum ist Gerard Mortier vor gut drei Jahren als Opernintendant nach Madrid gegangen.

Darum hat er jetzt Brokeback Mountain uraufgeführt und das Teatro Real im Herzen der spanischen Hauptstadt auch sonst zum Ort unbequemer Auseinandersetzungen gemacht. Mortier ist der Europäer schlechthin, vielsprachig, visionär. Seit über 30 Jahren ersinnt er Schocks und Konzepte, die das Musiktheater zwischen Brüssel und Paris gründlich erneuert haben. Nur in New York warf er 2008 das Handtuch, rechtzeitig: Die City Opera, mit der er der Met die Stirn bieten wollte, ging pleite. Als Souvenir blieb die bereits bestellte Oper Brokeback Mountain übrig. Die nahm er mit nach Madrid.

Der Mann, der stark genug war, Karajans Schatten aus Salzburg zu vertreiben, hält Theater für politisch. “Das haben die Spanier schon richtig verstanden”, sagt er sarkastisch am Telefon. Denn vor gut vier Monaten enthob die konservative Regierung den Belgier seines Postens – kurz nachdem seine Krebserkrankung bekannt geworden war, kurz nachdem er, frech wie immer, erklärt hatte, er sehe für seine Nachfolge keinen Spanier. Aber das ist nur die einfache Version einer Geschichte, die viel über ein kompliziertes Land erzählt.

Wäre Spanien tatsächlich erstarrt, dann hätte Charles Wuorinens Oper über zwei Männer, die ihre Liebe entdecken und verstecken, den Skandal auslösen müssen, den die Konservativen im Teatro Real befürchteten. Dann hätte nicht vor der Uraufführung ein zwar schmal gewordener, aber glänzend aufgelegter Mortier, faktisch noch Herr im Haus, vor Dutzenden internationalen und nationalen Medienvertretern der katholischen Kirche empfehlen können, besser ihre Probleme zu lösen als die Homosexualität zu geißeln – womit ihn El País prompt zitierte. Dann hätte nicht in der zweiten Vorstellung ein Publikum gejubelt, in dem von Pelzdamen bis Hipstern kaum eine Spezies fehlte.

Während sich hier das liberale Spanien versammelt und die Partitur des finnischen Amerikaners Charles Wuorinen ihren subtil machtvollen Sog entfaltet, zeigen die brutalen Sparmaßnahmen andernorts keineswegs nur die Wirkung, die jetzt Spaniens Banken aufatmen lässt. Mittelständler mit Hochschulabschluss sitzen auf der Straße, rund ums Opernhaus machen sich Akkordeon spielende Senioren die Plätze streitig. Jeder Vierte ist arbeitslos, und die Entscheidung, zehn Milliarden Euro in den Bereichen Bildung und Gesundheit zu sparen, hat im vorigen Jahr mehr als 46.000 Arbeitsplätze allein im Bildungssektor vernichtet. “Die spanische Katastrophe”, sagt der katalanische Opernregisseur Calixto Bieito, “ist eine der Bildung.”

Bieito, ein so radikaler wie erfolgreicher Psychorealist, ist in Basel zu erreichen – wie viele andere hat der 50-Jährige Spanien verlassen. Dort erlebte die Kultur, unter Francos Diktatur praktisch verwüstet, nach 1975 einen durchaus prekären Boom. “Die Demokratie hat uns europäisch und reich gemacht”, sagt die Konzertmanagerin Maria Goded, Jahrgang 1966, “aber wir sind mit dem Geld nicht gut umgegangen. Und die Kultur, vor allem die Musik, ist nicht ein so wichtiger Teil der Gesellschaft wie in Frankreich und Deutschland.” Seit das Geld knapp wurde, stehen viele Säle leer, außer im reichen Norden. Und die Opernhäuser erweisen sich nicht nur als Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern oft genug als deren erste Opfer.

Das traditionsreiche Liceu in Barcelona ist infolge der Kürzungen bankrott. Man spielt trotzdem weiter und hofft auf eine Lösung. Dagegen zeigt sich am 2005 eröffneten Opernhaus von Valencia ein anderer Grund der Krise – hemmungslose Steuerverschwendung. 400 Millionen Euro kostete der Renommieravantgarde-Bau des Architekten Santiago Calatrava. Wegen eines Dachschadens kann das Haus derzeit nicht bespielt werden, ohnehin fehlt der Region das Geld – sie ist hoch verschuldet und gilt als Paradies der Korruption. Eine weitere traurige Attraktion des Südens ist der Flughafen von Ciudad Real, für eine Milliarde Euro gebaut, mittlerweile leere Konkursfläche. “Der wird für 100 Millionen angeboten”, sagt Gerard Mortier, “also werden 900 Millionen verschenkt, während wir uns das Blut aus den Adern sparen.”

Screenshot 2024-03-05 200707Gerard Mortier, 25. November 1943 – 8. März 2014, im Jahr 2010 (Foto: dpa)

Am Teatro Real mit seinen 1800 Plätzen konnte nur die vermögende Stiftung des Hauses die jüngste Subventionskürzung von 28 auf 12 Millionen Euro auffangen – halbwegs, denn der Gesamtetat ist in drei Jahren um 14 auf 42 Millionen abgesackt. Münchens Nationaltheater hat mehr als das Doppelte und ist nicht halb so innovativ. Wer Brokeback Mountain in Madrid erlebt, muss hoffen, dass dieses Niveau gehalten wird – denn hier verbindet sich gesellschaftlicher Diskurs mit unabweisbarer Qualität. Die Oper, zu der Annie Proulx, Autorin der bitter klaren Short Story, selbst das Libretto geschrieben hat, ist besser als der Film.

Mit Kassenrekorden wurde dessen Regisseur Ang Lee dafür belohnt, dass er dass Verstörende und Elementare dieser Männerliebe in eine konventionelle Optik packte. Dem setzt der 75-jährige Komponist Charles Wuorinen nun keineswegs krasse Zuspitzungen entgegen, sondern eine aus Tendenzen der zwanziger Jahre weiterentwickelte organische Klangwelt. Im Schmerz glüht später Mahler auf, bei der Familienkrise assistiert neobarocker Strawinsky, es wozzeckt in der Kneipe, es gibt auch filmmusikalisch schwarze Tiefen mit Klavier und Kontrafagott.

Diese vermeintlich überholten Mittel bilden ein mitwanderndes Orchestergewebe, halb kristallin, halb vegetativ, in dem die kalte Kraft des Berges zu hören ist, die Weite, in der man Nähe sucht, das aber auch liebevoll die Stimmen trägt und viel über die beiden Männer und ihre Frauen erzählt. Regisseur Ivo van Hove und Bühnenbildner Jan Versweyveld arbeiten behutsam und genau. Mal Projektionen hinter karger Spielfläche, mal Möbel, starr sortiert wie im Einrichtungshaus, fürs triste Familienleben.

Das Zerbrechen des Gewohnten einerseits, das von Lebensträumen andererseits – die Ausweglosigkeit ist das Thema, mit dem dieses Werk der spanischen Gegenwart so schmerzhaft nahekommt. Für Gerard Mortier ist die Produktion ein Triumph, der erst recht die Frage aufwirft, warum man sich so brüsk von ihm trennte, um ihn dann, zum Berater degradiert, doch noch für ein Jahr zu behalten, und warum selbst der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, Vorsitzender des Opernrates in Madrid, nicht die Stimme erhob. “Er hat nicht mal gesagt, ich hoffe, es geht Ihnen gut”, meint der 70-Jährige und sieht einen Grund der spanischen Krise auch darin, “dass es Intellektuelle nicht wagen, sich zu äußern”. Spätestens mit einer Oper über die Ermordung Federico García Lorcas, Ainamadar von Osvaldo Golijov, dürfte er sich 2012 bei den Konservativen unbeliebt gemacht haben.

Wohl auch wegen seiner Homosexualität wurde der Dichter Lorca zu Beginn des Bürgerkrieges von Francos Leuten erschossen. Und als vierzig Jahre und viele Morde später die Diktatur endete, “versuchten wir, Frieden zu halten und die Vergangenheit zu vergessen”, sagt Calixto Bieito. Das funktionierte nicht, aber noch immer stößt jeder auf Widerstand, der eine Auseinandersetzung will. Mortier schwärmt von Deutschland: Hier habe man sich mit der Vergangenheit beschäftigt “wie nicht einmal die Franzosen”. Was könnten die Deutschen denn umgekehrt von den Spaniern lernen? “Zurzeit höchstens, wie man Bier aus Plastikeimern trinkt.” Nein, diplomatisch ist er wirklich nicht.

Sein Nachfolger und Bewunderer Joan Matabosch ist es dafür umso mehr. Noch Leiter des Liceu in Barcelona, steht der 52-Jährige bereits als “Director Artistico” im Programmheft des Teatro Real, sieht sich aber einstweilen nur als Assistent. Mortier sei der Chef, sooft es ihm die Behandlung seiner Krankheit erlaube. Und eben die habe im vorigen September Panik ausbrechen lassen, man habe das Schiff führerlos gesehen. “Es waren ein paar verrückte Tage, nach denen aber jeder wieder Vernunft annahm.” Als man ihn, Matabosch, anrief, habe er gleich gesagt: “Wenn Sie jemanden suchen, der genau das Gegenteil von Mortier macht, wie sein Nachfolger in Paris, dann komme ich nicht.” Der Geschmack des spanischen Publikums habe sich massiv gewandelt – man wolle das Regietheater.

Die Frage ist nur, ob eine Regierung überhaupt Kultur will, die für ebendiesen Bereich die Umsatzsteuer von 8 auf 21 Prozent erhöht hat, während Fußballfans wie Regierungschef Mariano Rajoy nur 10 Prozent zahlen. Da wird Matabosch in seinem Büro richtig laut. “Es ist lächerlich! Das hindert das Publikum daran, zu kommen, und 21 Prozent von einem leeren Platz sind – zero!” Leute freilich, die von der Krise in krasse Armut getrieben werden, wie Rafael Chirbes sie in seinem neuen Roman Am Ufer beschreibt, werden wohl niemals in die Oper gehen. Und auch jene nicht, denen Calixto Bieitos Mutter regelmäßig Essen aus dem Supermarkt holt. “Mit etwas so Teurem wie einem Opernhaus”, sagt die Managerin Maria Goded pragmatisch, “kann man keine Revolution machen.” Aber dort, gerade dort, wo Töne und Themen das Gemeinsame berühren, könnte eine Diskussion beginnen.

Als Ennis, Vater zweier Kinder, sich scheiden lässt, 20 Jahre nach der Nacht in den Bergen, macht sich Jack Hoffnungen. Können sie nicht eine Ranch aufmachen, zusammen leben? Ennis ist angststarr. In Wyoming sind Schwule umgebracht worden, als Junge hat er das gesehen. “Das ist doch lange her. Hat sich doch was geändert.” – “Nicht hier. Hier ändern sich die Dinge nie. Werden sie auch nie.” So bleibt die Liebe ungelebt, das Leben ohne Zukunft. Weil die, die am stärksten unter Druck sind, keine Bewegung wagen. Calixto Bieito sagt über sein Land: “Ich wundere mich, dass es keine Explosion gibt.” Vielleicht bewegt sich ja doch etwas. Die billigsten Kartenkategorien für alle weiteren Vorstellungen von Brokeback Mountain jedenfalls sind restlos ausverkauft.

Der Text erschien, geringfügig kürzer, am 6. 2. 14 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

Ein Haus am See

Sergei Rachmaninoff in his boat lake lucerne

Vielleicht kann man Rachmaninow – oder Rachmaninoff, wie er selbst sich schrieb – nirgends so nahe kommen wie am Vierwaldstätter See. Dort ließ er sich ab 1930 eine Villa bauen. Ein Besuch im Januar vor dem 150. Geburtstag des russischen Pianisten und Komponisten.

«Hat er geraucht?» «Kette», sagt sie, «eine Zigarette nach der anderen.» Wir stehen vor dem Gärtnerhaus, der Nieselregen hat kurz mal aufgehört, unterm Himmelsgrau hören wir von der Villa her einen Laubsauger brummen. Gärtnerhaus? Es ist selbst eine kleine Villa von dezenter Eleganz, kubisch, einstöckig, Flachdach, weiss, die Längsseite zum geschwungenen Parkweg hin, der Eingang unter dem rund umlaufenden Balkon versteckt. Das erste Gebäude, das er auf diesem Anwesen bezog, 1931. Von hier aus überwachte er den Bau der Villa Senar, benannt nach Sergei und Natalja Rachmaninoff. Mit ff. So stand es auf seiner Visitenkarte, so wird er hier am Vierwaldstättersee buchstabiert.

Auch von Andrea Loetscher, der Konzertflötistin und Kulturmanagerin, mit der ich rund um die Villa unterwegs bin, die für die Sergei Rachmaninoff Foundation das Kulturprogramm leitet und realisieren wird, nach der Renovierung. Wenn die Villa fertig ist, zum zweiten Mal. Noch wird das kubische Wunderwerk von einem Gerüst umschlossen und überdacht, von einem Aussenskelett, durch das schon die neu aufgebrachte Originalfarbe leuchtet, goldwarmes Ocker. Im Gärtnerhaus sind die Möbel zwischengelagert. Da findet man ein grüngepolstertes Stahlrohrsofa à la Corbusier, aber auch Neobarockes und Art déco, eine biedermeierliche Standuhr, einen schlichten Arbeitstisch, eine gewaltige Truhe – nein, das ist der Überseekoffer. Der Deckel mit grünem Leder bezogen und mit Messing beschlagen, das Innere blau und leer. So stand er wohl auch in diesem Haus, frisch ausgepackt, als es losging. Wir sind seinem Besitzer jetzt vielleicht näher als in einer wohlsortierten Schau. In einer seltsamen Zwischenwelt bewegen wir uns an diesem frühen Tag des Jahres, in dem er 150 Jahre alt geworden wäre, in einer Mittagsstunde, aus der sich die Gegenwart zurückgezogen hat wie die Sonne hinter die Wolken über dem See. Dafür ist Rachmaninoff überall. Alles hier erzählt von ihm, auch die Bäume, auch der sanfte Schwung des Terrains. Denn er bestimmte jedes Detail.

«Er hat sogar einen Felsen abtragen lassen, den sie hier ‹Gibraltar› nannten», sagt Andrea Loetscher, während wir zum See hinabgehen. «Es sollte vermutlich mehr wie in Iwanowka aussehen.» Wie jenes Landgut 600 Kilometer östlich von Moskau, das Rachmaninoff 1917 zum letzten Mal sah, ehe er das ins Chaos gestürzte Russland verliess. Iwanowka, wo er die meisten seiner Werke komponierte und sich in die Cousine verliebte, die er 1902 heiratete, Natalja. Mit ihr suchte Sergei, als Pianist einer der bestbezahlten seiner Zeit, diesen Flecken der Schweiz im Jahr 1930 aus, als er 57 war und sie 53. Er suchte Ruhe in einem Europa, in dem schon wieder die politische Spannung wuchs.

Von oben gesehen, auf der Landkarte oder vom Satelliten aus, ähnelt die Halbinsel eine halbe Schiffsstunde östlich von Luzern dem Kopfprofil eines Löwen mit halb aufgerissenem Maul, nach links gewandt. Etwa da, wo das Auge wäre, befindet sich das Areal von 20’000 Quadratmetern, das der Musiker für 250’000 Schweizer Franken kaufte. Heute ist das eine der teuersten Lagen des Planeten. Wären nicht die Denkmalschutzauflagen für ein unschätzbares Kulturerbe, hätten Rachmaninoffs Erben das ganze Anwesen wohl für 30 Millionen Franken verkaufen können. Der Kanton Luzern konnte es aber für acht Millionen erwerben und bezahlte noch mal drei Millionen für die Renovierung. Das klingt viel einfacher, als es zustandekam…

Wir sind am Ufer, an einem Ausblicksplatz mit Steinbänken. Andrea Loetscher zeigt ins Grau über dem leicht bewegten Wasser: «Das ist der schönste Blick, den man am Vierwaldstättersee überhaupt haben kann.» Ohne Wolken sähe man drüben den Pilatus. «Es ist noch schöner, wenn’s nicht schön ist, wie jetzt» fügt sie hinzu. Mit Sonne sei es nämlich fast schon kitschig. Vom See aus konnte man früher bei gutem Wetter bequem die Villa sehen, jetzt verstellen die kanadischen Fichten den Blick, die der Musiker am Uferweg anpflanzen liess, wie auch die Scheinzypresse hinter der perfekt platzierten Steinbank, wie, im Park weiter oben, die Lärchen, Birken, Silbertannen, den Tulpenbaum und noch viel mehr, wovon er 1932 in einem Brief an seine Schwägerin schwärmt.

Ein Stück weiter nach Süden ist das Bootshaus, darin schaukelte bis 1939 sein überlanges Motorboot, in dem er auf einem Foto fast etwas verloren sitzt. Er liebte die Moderne in der Technik so, wie er sie in der Musik ablehnte. Im Frühjahr 1930 lässt er seinen nagelneuen Lincoln mit V8-Motor von New York nach Le Havre einschiffen und steuert das Luxusauto von dort bis in die Schweiz. Für seine Villa verpflichtet er Schweizer Architekten, die zu den besten des «Neuen Bauens» zählen, Möri & Krebs, und lässt für ihren Entwurf ein Chalet abräumen. Man könnte meinen, der Mann verfüge über unbegrenzte Mittel – aber die Weltwirtschaftskrise trifft auch ihn, im Januar 1933 telegrafiert er: «Bau stoppen». Drei Wochen später gibt er wieder grünes Licht, gut ein Jahr später, im März 1934, steht der Bau.

«Vielleicht doch zu schnell gebaut», meint Andrea Loetscher, als wir zur Villa hochgehen über ein wunderbar geschwungenes Treppchen. Die Renovierungsbedürftigkeit des Baus geht eben nicht nur auf die jüngeren Jahrzehnte zurück, als zwar der Enkel des Künstlers hier nach dem Rechten sah, es aber an Mitteln fehlte. Rachmaninoff scheint es eilig gehabt zu haben mit seinem Paradies, das er sich sogar als letzte Ruhestätte dachte. Es gibt Briefe und Berichte aus den 1930ern, die von nachlassender Gesundheit und nicht mehr ganz zuverlässiger Virtuosität zeugen. Es gibt aber auch die geniale Rhapsodie über das Thema von Paganinis 24. Caprice, die er hier gleich nach dem Einzug schrieb, am neuen D-Flügel mit ein paar Extras, den ihm Steinway & Sons zum 60. Geburtstag geschenkt hatte. «Der stand da links.» Wir stehen draussen vor dem riesigen, sprossenlosen Glasfenster des «Studiums», wie Rachmaninoff den für ihn wichtigsten Raum nannte, sein Studio, drei Stufen tiefer als das Hauptgebäude und diesem nach Westen vorgelagert. Drinnen sieht man jetzt nur Malerutensilien. Ich denke sie mir weg und stelle mir vor, wie er von hinten aus dem Salon kommt, der «sehr grosse, hagere, ernste Gentleman», wie ein New Yorker Kritiker ihn 1935 beschreibt, sich mit dem Rücken zu uns an den Flügel setzt, mit Blick auf die Fotografien über dem Bücherregal, und seinem fernen, nahen Kollegen Paganini huldigt, indem er dessen berühmtes Thema zwischen Ironie und Pathos dekonstruiert, ein letztes Mal für Klavier und Orchester komponierend, nicht zufällig in Konzertlänge.
Serge Rachmaninoff at Senar
Andrea Loetscher telefoniert inzwischen mit einem, der den Schlüssel zum Haus haben könnte. Denn die Handwerker sind gerade nicht da, und wie vor einem richtigen Umzug muss halt auch improvisiert werden. Ich tröste uns damit, dass man sich Claude Debussys Haus in Paris nicht mal auf Sichtweite nähern kann, weil es einer saudischen Prinzessin in einer gated community gehört. Ausserdem hat es etwas schön Konspiratives, hinter einer Bauplane bis zur Haustür mit seinen Initialen in Stahl zu gelangen: «SR». Der Eingang fürs Personal ist links davon und tiefer. «Es ist sehr hierarchisch», sagt Andrea Loetscher fast etwas entschuldigend. Naja, er hat wenigstens dazu gestanden, der antirevolutionäre Grossbürgersohn aus dem Zarenreich. Heute werden Hierarchien kaschiert, ohne verschwunden zu sein. Verrückt nur, wie sich das hier mit einer Architektur verbindet, die alles Herrschaftliche, allen Pomp abgeworfen hat.

«Ich gehe durchs Haus und fühle mich wie ein Millionär – obwohl nicht jeder Millionär so ein Haus hat», schrieb er nach dem Einzug. In der Tat haben die allerwenigsten Millionäre so einen guten Geschmack. Und es ist mehr als geschmackvoll. Das ganze Ensemble, der Park, die Bauten, die Pflanzen sind ein Werk, ein wunderbares Spätwerk, eine Komposition in Balance von Form und Detail. Und komponiert man nicht eigentlich für alle? Insofern steht der Villa Senar ihre Uraufführung erst noch bevor, weiter wachsend in der Zeit wie die kanadischen Fichten am Ufer. Ihr Schöpfer konnte Senar nur fünf Jahre lang geniessen. Im August 1939 spielt er noch bei den Luzerner Festwochen; zu der Zeit hat er sich, besorgt über die deutsche Expansionspolitik, schon eine Wohnung in New York gesichert, wohin er mit Natalja am 23. August aufbricht.

Der Mann mit dem Schlüssel kann doch nicht kommen. Egal. Holen wir in Gedanken schon mal die Möbel aus dem Gärtnerhaus, stellen den Esstisch und Stühle für acht Personen aufs Parkett in den hellen Salon. Denken wir uns unter die Gäste, die vom – wie immer bei Rachmaninoff – russischen Personal bedient werden, den 36jährigen Pianisten Vladimir Horowitz aus der Ukraine, der sich später mit dem Gastgeber ans Klavier setzen wird – denn das tat er – und selbst einer von dessen besten Interpreten ist. Hoffen wir auf vergleichbare Begegnungen in der Zukunft und rauchen vorm Gärtnerhaus noch eine mit SR. Es nieselt wieder. «Es ist nützlich zu wissen», hat er zu Beginn der Bauarbeiten geschrieben, «dass hier wie überall die regnerischen Leute überwiegen. Die sonnigen sind selten.» Könnte sein, dass Rachmaninoff seine Meinung ändert, wenn hier an seinem Geburtstag am 1. April sein Flügel wieder erklingt…

Am 12. Februar 2023 beginnt mit einem Konzert in der Oper Zürich eine Veranstaltungsreihe zum 150.Geburtstag Rachmaninows, die Philharmonia Zürich und Tonhalle Orchester Zürich gemeinsam gestalten. Zu diesem Anlass entstand dieser Text, erschienen in MAG 98 der Oper Zürich, Februar 2023 sowie online. Er ist urheberrechtlich geschützt. Die Fotos von Sergei Rachmaninow in Senar stellte die Sergei Rachmaninoff Foundation zur Verfügung.

“Da ist ein großer Wind…”

Der Mainzer Schott-Verlag druckte Beethovens “Neunte” und Wagners “Ring”. Corona ist die größte Krise in seiner 250-jährigen Geschichte. Eine Erkundung zwischen leeren Sälen und den Schreibtischen berühmter Komponisten

Chaya_Czernowin “Ich schreibe wie verrückt, ich gerate in Bereiche, von denen ich nicht mal weiß, ob ich sie mag. Da ist ein großer Wind, der mich vor sich hertreibt.” Die Frau mit dem schmalen, hellen Gesicht und den schwarzen Haaren bewegt sich auf dem Schirm nicht ganz synchron zu ihren Worten, der Datenstrom über WhatsApp stockt mitunter. Chaya Czernowin sitzt in ihrem Haus in Boston, Ostküste der USA, 6.000 Kilometer entfernt. Sie erzählt, wie das ist, wenn eine Komponistin monatelang in Quarantäne lebt, weil ein Familienmitglied sehr gefährdet ist. “Komponisten arbeiten im Kopf immer an ihrem Stück, das läuft wie Underground-Prozesse im Computer. Jetzt gerät diese interne Realität an die Oberfläche, weil ich jederzeit an den Schreibtisch kann.”

Chaya Czernowin publiziert bei einem Verlag, in dem man sich über jeden Ton freut, den sie zu Papier bringt. Es ist einer der großen deutschen Musikverlage. Einer, der auch Kompositionsaufträge mit Orchestern, Theatern, Festivals aushandelt, die Partituren druckt, nach peniblem Lektorat, und Stimmen für die Musiker, der sich um Aufführungsvergütungen kümmert und darum, dass die 1957 in Israel geborene Komponistin so viel wie möglich gespielt wird. Vorwiegend in Deutschland, wo Czernowin deswegen eine ihrer “heimats” sieht, wie so viele Komponisten. Der Verlag heißt Schott und wurde vor 250 Jahren gegründet. Jetzt steckt er in der größten Krise seiner Geschichte, die Weltkriege eingeschlossen. 2.500 Aufführungen seiner Komponisten wurden bislang abgesagt.

Bis März fieberte man in Mainz, wo der der junge Klarinettist und Notenstecher Bernhard Schott 1770 mit Musikdrucken begann, noch dem Jubiläum entgegen, das so schön mit dem von Beethoven zusammenfällt. Der hatte den beiden Söhnen des Gründers 1824 ein Angebot gemacht: “eine neue große solenne Meße (…) so schwer es mir wird über mich selbst zu reden, so halte ich sie doch für mein gröstes werk, das Honorar wär 1000 fl. in C.M. , eine neue große Sinfonie, welche mit einem Finale (auf Art meiner Klawier-Fantasie mit Chor) jedoch weit größer gehalten mit Solo ‘s u. Chören von Singstimmen die worte von Schillers unsterbl. bekannten lied an die Freude schließt. das Honor. 600 fl. C.M. ..”

Umgerechnet 15.000 Euro für die Neunte, einschließlich Aufführungsrecht? Die Brüder Schott schlugen ein. Die Mainzer druckten die Missa Solemnis, die Neunte, zwei Streichquartette und mussten die Investition nicht bereuen. Ebenso wenig wie bei Wagners Ring, Strawinskys Feuervogel, Orffs Carmina Burana oder dem ganzen Hindemith. Hier erschien Musik von Ligeti und Penderecki, die durch Kubricks Eyes Wide Shut und Shining auch Kinogänger kennen, hier fand der Wahlitaliener Hans Werner Henze seine verlegerische Heimat, wie Aribert Reimann und Jörg Widmann.

Letzterer, 47 Jahre alt, hatte am 1. März dieses Jahres im Leipziger Gewandhaus dirigiert, eigene und klassische Musik, als er erfuhr, dass die anschließende Japanreise gestrichen war. Dann ging alles ganz schnell. “Zuerst brach der Verkauf von Noten ein”, berichtet Christiane Albiez aus der Geschäftsleitung, “von 5.000 Bestellungen pro Woche auf ein Viertel. Musikalienhandlungen auf der ganzen Welt mussten schließen.” Auch Amazon bestellte nichts mehr aus dem Lager im Mainzer Vorort Hechtsheim, wo 35.000 Schott-Titel und 120.000 von anderen Verlagen bereitliegen. Dann wurden in einem Land nach dem anderen die Opernhäuser und Konzertsäle dichtgemacht, alle Aufführungen abgesagt, die Party mit 800 Gästen sowieso. Da Einnahmen aus Aufführungen und Lizenzen die zweite und ebenso wichtige Säule des Verlages sind, stürzte der Umsatz, sonst 30 Millionen Euro im Jahr, über Nacht auf Null, 200 Mitarbeiter wurden in Kurzarbeit geschickt.

“Jetzt werde ich lebendig”, sagt der Patriarch

Beethovens Verlag am Abgrund? Da entdeckte selbst das ZDF den global player in der Mainzer Nachbarschaft. Peter Hanser-Strecker, der seit 52 Jahren den Verlag leitet, sprach im heute-journal von einer “unvorstellbaren Katastrophe”. Er wirkte erschüttert, inzwischen ist er wütend. Das “Verbot, wahrgenommen zu werden”, hält er für eine “Perversion”, ein Musikleben nach geltenden Hygieneregeln für eine “Simulation”, so sehr er Wagnisse wie bei den Salzburger Festspielen bewundert. “Ich bin jetzt 78, eigentlich habe ich das Berufsleben hinter mir. Aber jetzt werde ich lebendig. Ich sehe, dass wir kämpfen müssen, das haben wir zu wenig gemacht.” Denn schon zuvor erwuchsen den Urhebern Gefahren, etwa durch Abgreifer im Internet, die in großem Stil den Schutz des geistigen Eigentums aushöhlen.

An die 1.000 Uraufführungen hat der Schott-Patriarch begleitet, die neuesten 35 liegen nun auf Eis. Auch die der Fünf Stücke für Orchester, die Aribert Reimann für die Staatskapelle Dresden komponiert hat. “Man lebt darauf hin”, sagt am Telefon in Berlin der 84-Jährige, der mit Sofia Gubaidulina, Steve Reich, Helmut Lachenmann zu den Großen seiner Generation zählt. “Es wäre mir wichtig gewesen, das zu hören, da ich versuchte, in andere Klangebenen reinzugehen. Aber ich habe den Schock überwunden. Ich arbeite ununterbrochen. Ich bin beim Komponieren ja ohnehin immer ‘der Welt abhanden gekommen’.” Aber Werke für große Orchester wie das, an dem Reimann nun sitzt, sind mit Abstand am schwierigsten zu realisieren.

Seine meistgespielte Oper, Lear, wäre im April in Madrid über die Bühne gegangen, nun ist sogar ungewiss, ob drei geplante Neuinszenierungen im kommenden Jahr stattfinden können. Komponisten werden vom Lockdown und seinen Folgen so brutal getroffen wie ihre Verlage. Die meisten leben, außer von Auftragshonoraren, von den Tantiemen der Aufführungen. Ein Recht auf Ausfalltantiemen gibt es nicht. Da die Urhebervergütungen von der Zahl der Besucher abhängen, werden Autoren – auch Librettisten – wenig davon haben, wenn ihre Werke nur vor einem Bruchteil des normalen Publikums gespielt werden. Die Mitwirkenden werden wie früher bezahlt, der Komponist aber muss sich mit einem Viertel seiner Einkünfte begnügen? Da geht der Verlust an einem großen Opernhaus schon mal in die Tausende.

“Das hat mit angemessener Vergütung nichts mehr zu tun – und die ist im Urheberrecht verbrieft”, sagt Tilman Kannegießer-Strohmeier. Der 56-Jährige, Verlagsleiter des Musikverlags Boosey & Hawkes in Berlin, engagiert sich im Vorstand des Verbands Deutscher Bühnen- und Medienverlage. “Die Krise ist so groß und wirkt so weit in die Zukunft, wie keiner es sich hat vorstellen können.” Boosey ist dabei noch in der glücklichen Lage, als Teil des Musikgiganten Concord nicht in Kurzarbeit gehen zu müssen. Der US-Konzern verwertet rund 400.000 Copyrights vor allem der Popbranche. Doch renommierte Opernkomponisten wie Detlev Glanert haben nichts von Pink-Floyd-Streamings. Mit den Theatern ist man im Gespräch darüber, “wie viel mehr sie zahlen könnten, als sie rechnerisch müssten”, um Komponisten vor der Insolvenz zu bewahren. Aber auch die Theater, vom Lockdown leergefegt, müssen ihr Geld zusammenhalten.

Auch J.S. Bachs frühester Verlag ist jetzt bedroht

Für die Bühnenverlage gibt es zwar Bundesmittel aus dem “Neustart Kultur”, aber nur damit sind sie nicht zu retten – überwiegend Familienunternehmen von Weltrang: Schott, Peters, Bärenreiter oder Breitkopf & Härtel – der älteste Musikverlag überhaupt, der schon Johann Sebastian Bach unter Vertrag hatte. Für sie alle sind neben dem Notenverkauf – der sich allmählich erholt – die Verwertungsrechte und die Vermietung von Aufführungsmaterial die wichtigsten Einnahmequellen. Abgesehen von Dauerbrennern wie Don Giovanni – von dem Schott 1791 den ersten Klavierauszug druckte – mieten Theater und Orchester die Noten, aus denen sie spielen; auch die Gebühr dafür hängt von der Zahl verkäuflicher Plätze ab. “Derzeit”, so Christiane Albiez vom Schott-Verlag, “ist zu befürchten, dass die Einnahmen aus Aufführungen und anderen Lizenzvergaben um 80 Prozent zurückgehen. Halb volle Säle sind halb leere Säle, unsere Kosten bleiben aber, weil man das hochspezialisierte Personal nicht jetzt entlassen und in einem Jahr wieder einstellen kann.”

Neben den USA freilich wirkt die deutsche Lage noch luxuriös. Auf dem gigantischen Markt der “Shows”, der Musicals, privat finanziert, verloren Abertausende von Musikern ihre Jobs. Viele nichtkommerzielle Tonsetzer dort haben ihr Publikum indessen in Europa, so wie Chaya Czernowin. Sie hat an der Harvard University eine Professur, “aber es gibt in Amerika viele, die nicht wissen, was sie nächste Woche essen sollen. Es ist ein Versagen auf allen Ebenen, das alle systemischen Probleme dieses Landes offenlegt”. Sie ist “süchtig nach Nachrichten, das Desaster beobachtend und Zeichen der Hoffnung wie black lives matter. Da sehe ich wirklich die Chance für eine substanzielle Änderung. Aber wenn du nur mit vier Leuten in der realen Welt bist und alle anderen über Zoom, Skype, WhatsApp triffst – strange feeling”.

Noch seltsamer, dass ihr das alles bekannt vorkommt. Czernowins Oper Infinite Now, 2017 in Gent und Mannheim zuerst aufgeführt, verbindet das ungewisse Verharren in den Gräben des Ersten Weltkriegs mit der Erzählung von einer Frau, die ein Haus an einem Abgrund nicht verlassen kann, und der Frage, wie sich Hoffnung finden lässt. “Man schaut zehn Kilometer in diese Richtung, zehn Kilometer in die andere, mit einem myopischen, kurzsichtigen Bewusstsein, genau wie wir jetzt mit Corona. Infinite Now ist wirklich wie eine Vorahnung, nicht den Umständen nach, aber innerlich, musikalisch. In der Musik wird die Zeit aufgehoben wie jetzt. Eine Woche geht dahin, aber es fühlt sich an, als wäre es ein Tag.” Seitdem die Produktion online ist, gibt es täglich rund 800 Aufrufe.

Nicht nur von Amerika aus gesehen ist Deutschland noch immer ein Paradies der Musik mit seiner einzigartigen Dichte hochsubventionierter Institutionen. Doch zum einen sind Tausende Musiker außerhalb der Tarifgehege schon lange in Schräglage, zum anderen wird mit geschrumpften Eigeneinnahmen der subventionierten Häuser auch deren Förderung schwierig. “Die Haushalte der Kommunen und Länder werden durch die Corona-Kosten so unter Druck geraten”, vermutet Kannegießer, “dass der Erhalt von öffentlichen Kulturbetrieben im bisherigen Umfang ohne Unterstützung des Bundes wahrscheinlich nicht möglich sein wird.” Einem Dreispartenhaus wie in Stuttgart drohen bereits Einnahmeverluste von 7,4 Millionen Euro. Die enorme Kreativität, mit der viele Künstler und Intendanten auf den Lockdown reagieren, bringt den Berliner Verlagsleiter auf den Gedanken, ob nicht “eine riesige Chance” in einem gewissen Strukturwandel liegt. “Digitale oder interaktive Formate, die junges Publikum einsammeln, das während der Krise am Bildschirm Opernlunte gerochen hat, werden dazukommen. Kreative Kooperation zwischen den Häusern könnte das Gebot der Stunde sein.”

“Es geht nicht ohne Risiko, und man muss darüber nachdenken”

Der Schott-Verleger Hanser-Strecker in Mainz will es gar nicht so weit kommen lassen, dass irgendetwas dichtgemacht wird, “ohne zu fragen, was wir da verlieren”, und “ganze Werkgattungen ausgeschaltet werden wie Dinosaurier. Wenn die Milliardenpakete nicht an der richtigen Stelle landen, ist das Wurzelwerk unwiederbringlich zerstört”. Wurzelwerk, das ist bescheiden gesagt. Man könnte die Musikkultur in Deutschland auch als einen gewaltigen Baum beschreiben, in mehr als 500 Jahren gewachsen, mit Wurzeln in ganz Europa und darüber hinaus, ein Baum, der nicht in ökonomischen Festmetern zu messen ist – auch wenn die “Klassik” beiträgt zu den 100 Milliarden Euro “Bruttowertschöpfung”, mit denen die Kultur- und Kreativwirtschaft an zweiter Stelle hinter der Autoindustrie liegt. Das Bewusstsein dafür ist in der Politik in den letzten Monaten gewachsen.

Was tat der Klarinettist, Dirigent und Lehrer Jörg Widmann, als ab März sein Kalender plötzlich leer war? “Ich hatte mir immer gewünscht, mehrere Wochen am Stück Zeit zum Komponieren zu haben. Jetzt waren es sogar Monate. Und ich konnte nicht! Eine Lähmung, die ich mir nicht erklären kann.” Im Juni wurde der Bann gebrochen – Daniel Barenboim wollte ein Stück für den leeren Pierre Boulez Saal in Berlin, für fünf Musiker. Mit einem Atmen und einem Metallklang beginnt und endet Widmanns Empty Space. Flöte, Klarinette, Geige, Klavier und Schlagzeug erschaffen in neun Minuten eine zerbrechlich zusammenhängende Musik. “Ich wollte, dass wir noch weiter auseinanderstehen als erlaubt, damit man erst recht spürt, wie sich der leere Raum füllt.”

Aber nur das reale Füllen der Räume wird verhindern können, dass “alles zusammenbricht, was sich in den letzten Jahrhunderten aufgebaut hat”, wie Aribert Reimann sagt. “Dass Konzerthäuser gefährlicher sein sollen als Gaststätten, leuchtet mir nicht ein”, sagte schon Ende Juni die Intendantin der Berliner Philharmoniker, Andrea Zietzschmann. Berühmt wurden die Fotos, die der Bariton Michael Volle postete, als es langsam wieder losging: der randvolle Flieger, in dem er saß, das fast leere Theater, in dem er sang. Längst gibt es Erwägungen, Konzertbesuche lückenlos, aber nur mit Corona-App zu erlauben – ein Risiko bleibt auch dann. “Es geht nicht ohne Risiko”, meint Tilman Kannegießer-Strohmeier, “und man muss darüber nachdenken, weil die Häuser sonst in die Knie gehen.”

Dieser Text erschien auf ZEIT online am 17.8.2020, in kürzerer Fassung in der ZEIT vom 13.8.2020 mit der Überschrift: “Das Jahrhundertwerk muss überleben” und ist urheberrechtlich geschützt. Für die Publikation auf dieser Website wurden die Überschrift geändert und Zwischenzeilen eingefügt. Bild: Chaya Czernowin, 2017 fotografiert von Irina Rozowsky für The New Yorker