Kategorie-Archiv: Musikwissenschaft

Im Herzen das größte Grauen

Vor drei Jahren erregte der “Fall Eggebrecht” Aufsehen: Aufgedeckt wurde, dass der Musikwissenschaftler Mitglied der mörderischen Feldgendarmerie der Wehrmacht war. Doch die Aufarbeitung kommt erst jetzt in Gang

Zuerst kam der Schock, dann kam die Starre. Vor dreieinhalb Jahren wurde bekannt, dass ein bedeutender Ordinarius bundesdeutscher Musikwissenschaft, Hans Heinrich Eggebrecht, Mitglied jener Feldgendarmerieabteilung 683 gewesen war, die 1941 in Simferopol auf der Krim an einer Massenexekution von 14.000 Juden beteiligt war. Eggebrecht starb 1999, hoch geehrt nicht nur an seiner Universität Freiburg, ein Königsmacher, zu dessen Schülern Größen des Fachs von Brinkmann bis Riethmüller zählen, der um 1970 zudem als “linker Professor” Sympathien gesammelt hatte, ein charismatischer Gelehrter, dessen Bücher auch deutsche Bildungsbürger gern lasen.

Der Musikhistoriker Boris von Haken hatte seine Erkenntnisse aus der Arbeit an einem Buchprojekt Holocaust und Musikwissenschaft in einem Vortrag vor der Gesellschaft für Musikforschung und dann in der ZEIT (Nr. 52/09) zusammengefasst. Die Publikation erregte Aufsehen weit über Deutschland hinaus. Schließlich war nicht zu bezweifeln, dass Eggebrecht einer Einheit angehört hatte, die, wie der Historiker Ulrich Herbert feststellte, “zu einer der schrecklichsten Mörderbanden der Geschichte” zählt. Holocaustforscher Götz Aly hielt es für produktiv, im Werk des Gelehrten nach Spuren einer “geistigen Rückkehr an den Tatort” zu suchen, einer unbewussten Auseinandersetzung.

Kinder und Greise, Männer und Frauen wurden zur Erschießung getrieben

Doch nahezu alle deutschen Musikologen, die sich nun äußerten, auch solche, die engagiert zum “Dritten Reich” arbeiten, bezweifelten die Seriosität der Enthüllung. Geforscht wurde fortan gleichsam über Möglichkeiten, einen Spiritus Rector der Zunft aus der Mitte des blutigen Geschehens zu entfernen, in der von Haken ihn mit dem Satz verortet hatte, er sei “in allen Stadien der Ermordung der Juden von Simferopol beteiligt” gewesen, vom Zusammentreiben der Opfer und dem berüchtigten “Spalier” bis hin zum Erschießungsgraben. Dadurch sah etwa der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer eine “individuelle Schuld” suggeriert, für die Beweise fehlten.

Man muss, ehe man das näher betrachtet, einen Schritt zurücktreten und konstatieren, dass der “Fall Eggebrecht” weit über die Grenzen des Faches hinausreicht, in dem man bis dahin nur auf White-Collar-Mitläufer gestoßen war. “Heiner” war als 22-Jähriger auf der Krim, ein gebildeter, musikalischer, klavierspielender Mensch, der sich später in jenem einflussreichen Gelehrten und Musikvermittler vollendete, von dem sich auch ein Wolfgang Rihm verstanden fühlte. Er war, bildungsbürgerlich gesehen, einer von uns, zu Hause in jener Kunst, die man doch gern immer noch für unbefleckbar hält. Mitten in ihrem Herzen auf das größte Grauen zu stoßen – das ist nicht zu “bewältigen”.

Wir kommen irgendwie klar mit dem antisemitischen Genie Wagner und wissen wohl, dass Reinhard Heydrichs Geigenkünste seinen Weg zur Wannsee-Konferenz nicht behinderten. Aber sich einen wie Hans Heinrich Eggebrecht in jenem Spalier zu denken, durch das an vier Dezembertagen 14.000 Menschen zur Erschießung getrieben wurden, Kinder wie Greise, Männer wie Frauen, das zerstört unser Distanzierungsvermögen. Das schlägt einen Tunnel durch die Zeit, es untergräbt unsere Kulturgewissheit. Wir lieben ja denselben Beethoven, den Eggebrecht in freien Stunden bei einer deutschen Familie in der “gesäuberten” Stadt Simferopol am Klavier spielte.

Da mag es erleichtern, dass ein “konkreter Einzeltatnachweis” unmöglich ist. Als Zeugen solcher Massaker blieben überwiegend die Wehrmachtsangehörigen selbst, die fast immer die Rolle ihrer Einheiten herunterspielten. Nicht anders war es, als die Staatsanwaltschaft München in den 1960er Jahren 222 ehemalige Mitglieder jener Feldgendarmerieabteilung 683 vernahm, zu der ausweislich seiner Wehrmachtspapiere auch Eggebrecht gehörte. Ein Zeuge aus dem 3. Zug der 2. Kompanie, Heinrich W., erinnerte sich immerhin: “Eggebrecht, Heiner, wurde mit mir Unteroffizier in Simferopol, müsste aus der Thüringer Gegend gestammt haben, sein Vater war dort Pfarrer.”

Dieses Vernehmungsprotokoll war eines der zahlreichen Dokumente, aus denen von Haken sein gewaltiges Puzzle zusammensetzte und deren Aussagekraft nun vehement infrage gestellt wurde. War Eggebrecht nach Aussage des Zeugen nicht bloß “möglicherweise” in jenem 3. Zug der 2. Kompanie der Feldgendarmen gewesen, der sich zur Zeit des Massakers in Simferopol befunden hatte? Und wenn er es war, könnte er doch in dieser Zeit an einem Lehrgang teilgenommen haben, der zu seiner Beförderung zum Unteroffizier führte! Solche Einwände machten im März 2010 zwei Hamburger Professoren geltend, Claudia Maurer Zenck und Friedrich Geiger, die ihre Anmerkungen, 40 Seiten lang, ins Netz stellten.

Die FAZ referierte darüber mit dem Hinweis, dort sei der “Stand der Forschung” dokumentiert. Zu dieser Zeit war noch nicht einmal eine vollständige, autorisierte Fassung des Tübinger Vortrags von Hakens verfügbar; sie erschien erst im Juli 2010 im renommierten Archiv für Musikwissenschaft. Dass es noch einen anderen “Stand der Forschung” gab, begann deutlich zu werden, als einer der renommiertesten Holocaustforscher sich mit den Einlassungen der Kritiker befasste. Christopher R. Browning, Verfasser des Buchs Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die “Endlösung” in Polen , konstatierte bei Friedrich Geiger eine “Methodologie, die in überwältigendem Maße ausweichenden und apologetischen Zeugenaussagen (…) zu einer Art Durchschnitt zusammenzufassen.”

Wegen der sowjetischen Gegenoffensive, so Browning, habe die Wehrmacht jeden verfügbaren Mann in Simferopol gebraucht, um 14.000 Zivilisten zu exekutieren. Es entbehre “jeglicher Logik”, wie Claudia Maurer Zenck anzunehmen, dass da jemand noch eine Beurlaubung für die Vorbereitung auf ein Offiziersexamen bekam. Zu lesen war das 2012 in der amerikanischen German Studies Review, der weltweit auflagenstärksten wissenschaftlichen Zeitschrift für Forschungen zu Geschichte, Kultur und Politik im deutschsprachigen Raum. Boris von Haken erhielt erstmals die Gelegenheit, unabhängig von seinem Buchprojekt auch in Fußnoten die Quellen zu erschließen, von denen einige schon das Gerücht streuten, es gebe sie gar nicht.

Wie Browning nahm er einen von Zenck angeführten Brief in den Blick, in dem Eggebrechts Mutter ein halbes Jahr nach dem Geschehen in Simferopol Feldpost ihres Sohnes aus Feodosia kommentiert hatte: “[Er] ist Gott sei Dank nicht mit in Kertsch zur ›Säuberungsaktion‹ eingesetzt. Es war schon in Sinferopol [sic] schon [sic] so furchtbar.” Mit “Säuberungsaktion”, hatte Zenck erklärt, sei nur das “Aufspüren versprengter Feinde” gemeint. Von Haken machte sich in der German Studies Review die Mühe, anhand von vier Quellen nachzuweisen, dass “Säuberung” ein gängiger Euphemismus für Massenexekutionen von Juden war. Zenck reagierte darauf ihrerseits mit einer gegenläufigen Fußnote im kürzlich erschienenen Magazin Musik und Ästhetik, das neue wie überarbeitete Aufsätze zum “Fall Eggebrecht” versammelt.

“Too much wishful thinking” hatte Browning bei Zenck wie Geiger registriert. Letzterer bleibt auch jetzt bei einer Quelleninterpretation, in der etwa die Zugehörigkeit eines aussagekräftigen Zeugen zu jenem Zug, in dem Eggebrecht diente, unerwähnt bleibt, während umstrittene Aussagen eines Kommandeurs der Feldgendarmen als durchaus plausibel erscheinen. Minutiös nimmt Boris von Haken nun diese Argumentation auseinander – zu lesen demnächst in der Zeitschrift jener Gesellschaft für Musikforschung, die ihm 2009 ein Podium geboten hatte, sich dann im “Fall Eggebrecht” aber zurückhielt. Zwar lud sie 2012 zur Tagung “Musikwissenschaft – Nachkriegskultur – Vergangenheitspolitik” ein, nur das Thema war nicht vorgesehen. Vizepräsidentin Dörte Schmidt erklärt dazu, dass “die angekündigte vollständige Offenlegung der Quellen nicht erfolgt war”. Ohne fertiges Buch keine Diskussion? Die wurde vom Publikum erzwungen – es soll turbulent zugegangen sein.

Anne C. Shreffler von der Harvard University wundert sich: “Boris von Haken hat schon jetzt so viel vorgestellt, dass das Fach verpflichtet ist, sich damit auseinanderzusetzen.” Shreffler, selbst eine Enkelschülerin von Eggebrecht, hatte schon im November 2010 eine Tagungs-Session in Indianapolis mitorganisiert, auf der eben das vor großem Publikum geschah. Sie ist erstaunt darüber, “dass bislang kein deutscher Ordinarius für Musikwissenschaft außer Albrecht Riethmüller sich in emphatischer Form geäußert und gesagt hat: Diese Sache müssen wir näher anschauen, ernst nehmen, das geht uns an.”

Das wäre einfacher, läge das auf etwa 450 Seiten angelegte Buch vor, das schon vor drei Jahren hätte erscheinen sollen. Nicht einmal jetzt kann von Haken sagen, wann er fertig ist. Ob er damit je fertig wird? Wer die Berge von Material betrachtet, die von Haken durchgearbeitet hat – allein sein 20-seitiger neuer Aufsatz für die Musikforschung ist mit rund 90 Fußnoten bewehrt –, begreift, wo eines der Probleme für einen Forscher liegen könnte, dem keine Professur den Rücken freihält. Dass er freilich überhaupt anfangen konnte, ist der Universität Paderborn zu verdanken, die Anschubhilfe leistete.

Der 49-Jährige ist ein Archiv-Tiger, der jedes Fädchen verfolgt. Da ihm die These vom Lehrgang vor der Beförderung keine Ruhe ließ, ging er in der Deutschen Dienststelle Hunderte von Akten von Feldgendarmen durch: Nirgends ein Hinweis. Umso erheblicher, wenn Eggebrecht in seinen Taschenkalender bald nach seiner Versetzung zur FGA 683 eine “Singestunde mit dem 3. Zug” notiert. Wieder also jene Einheit, von der deren Mitglied Harry K. später sagte, “wir standen nur dort”, nämlich im Spalier”. K., mit dem Eggebrecht noch 1943 korrespondierte, wurde mit ihm gemeinsam zum Unteroffizier befördert, ebenso jener Heinrich W. aus demselben Zug, der sich bei seiner Vernehmung so detailliert an den Pastorensohn Eggebrecht erinnerte, aber an keinen Lehrgang vor der Beförderung, der doch ein erstklassiges Alibi gewesen wäre. Offensichtlich hatten sich die drei einfach im Dienst bewährt.

“Es ist naiv, zu glauben, er sei nur mitgegangen und habe an Schein und Schütz gedacht und gelitten”, sagt ein deutscher Musikhistoriker, der, um Gräben überbrücken zu können, nicht genannt werden möchte und irritiert ist über das “Verteidigungsverhalten” vieler Kollegen. Wenn die Deutschen 70 Jahre nach dem Geschehen noch nicht in der Lage seien, ihr Betroffensein von der historischen Aufklärung zu trennen, müsse man die Debatte vielleicht wirklich in die USA verlagern, “damit daraus Geschichte wird, kein Tribunal”. So sieht es auch Anne C. Shreffler. Es gehe nicht darum, einen Wissenschaftler “vollständig zu diskreditieren”. Sie möchte Eggebrecht jetzt erst recht lesen: “Ich halte es für möglich, dass er, wie so viele andere der Kriegsgeneration, mit seiner Erfahrung zu besonderen Einsichten kam.”

Bildung und Barbarei – wie gehört beides zusammen?

Das “Bedürfnis nach zweifelsfreien moralischen Verhältnissen”, wie es Richard Klein schon vor drei Jahren im Merkur der akademischen Welt vorhielt, entspricht dem Beharren auf dem “Einzeltatnachweis”, der jeden Zweifel ausschließt. Auf den verzichtet aber inzwischen selbst die Rechtsprechung, sofern es um den Holocaust geht. Vom Paradigmenwechsel in der Strafverfolgung kündet das Urteil, das im Mai 2011 gegen John Demjanjuk erging, einst Aufseher im KZ Sobibor. Der 91-Jährige, dem keine einzige “Mitwirkungshandlung” nachgewiesen werden konnte, wurde wegen “Beihilfe zum Mord” in 28.060 Fällen verurteilt (das Urteil wurde nicht rechtskräftig, da Demjanjuk während des Revisionsverfahrens gestorben ist). Freilich geht es hier um den Dienst in einer Tötungsmaschine, nicht um die Zugehörigkeit zu einem Truppenteil.

Und es geht bei Eggebrecht um keinen Prozess, sondern um eine Frage, die der Historiker Ulrich Herbert so formulierte: “Wie kriegen wir die beiden Teile seiner Biografie zusammen?” Es sind zugleich zwei Teile jüngerer Geschichte, aus der wir kommen: Bildung und Barbarei. Irgendwo dazwischen steht die rätselhafte Tagebuchnotiz vom 7. Juni 1943. Der 24-Jährige, nun vor Leningrad in der Panzerjäger-Abteilung 28, schreibt: “Was gibt es, das man sich nicht nach allen Richtungen hin erkämpfen muss? In der ersten Zeit war dieser Kampf ›nach hinten‹ schwerer als das freie Gefecht gegen den ollen Ivan. Man glaubte, ich sei nur hierhergekommen, um Offizier zu werden, und wollte mir wohl zeigen, dass das nicht so leicht ist. Aber ich bin ja doch aus ganz anderen Gründen hier und hab’ zur Sache einen großen reinen Willen.”

Der Artikel erschien am 11. Juli 2013 in der ZEIT

Der verschollene Bach

Spektakulärer Notenfund in Kiew – muss die Musikgeschichte neu geschrieben werden?

Ich will nicht abstreiten, dass ich mich sehr gefreut habe”, sagt Christoph Wolff. Musikwissenschaftler untertreiben gern. Wenn ein Forscher nach 30jähriger Suche 5000 Handschriften findet, die die Musikgeschichte durcheinander bringen könnten, stellt man sich das eher dramatisch und düster vor. Wie bei Howard Carter vor dem Grab des Tutanchamun. Doch das Museumsarchiv für Literatur und Kunst in Kiew ist elektrisch beleuchtet. Und Wolff ein kühler Kopf.

Der Dekan an der Harvard University gilt als einer der wichtigsten Bach-Forscher unserer Zeit, er zählt zu den Ideengebern und Entdeckern der Zunft. Schon 1985 gelang es ihm zur Überraschung aller, 60 Choralvorspiele des jungen Johann Sebastian Bach aufzustöbern.

In Kiew war Wolff auf der Suche nach einem Stempel, einer Lyra mit fünf Saiten – das Zeichen der Berliner Singakademie. Er sah es gleich beim ersten Stück, das er vom Regal nahm. Der Stempel bewies, dass der Forscher jene legendäre Sammlung gefunden hatte, die in den gut 200 Jahren ihres Bestehens niemals erschlossen wurde – und die den Nachlass von Carl Philipp Emanuel Bach enthält.

Der berühmteste Bach-Sohn als Stürmer und Dränger Er ist der berühmteste Bach-Sohn, eine singuläre Gestalt zwischen Barock und Klassik, von der Mozart sagte: “Er ist der Vater, wir sind die Bubn. Wer von uns was Rechts kann, der hats von ihm gelernt.” Noch 1812 besorgte sich Beethoven Klavierstücke des Mannes, den seine Zeitgenossen “den großen Bach” nannten.

Heute kennt keiner mehr die Musik, die dieser in den letzten 20 Jahren seines Lebens schrieb – bis auf sein Oratorium Auferstehung und Himmelfahrt, eines der modernsten Werke jener Zeit. 1778 uraufgeführt, wurde das Oratorium gleich dreimal von Mozart dirigiert. Es ist eine nie da gewesene Sturm-und-Drang-Musik, in der die alten Rezitative, Affekte, harmonischen Abläufe aufbrechen und eine neue Seelenlandschaft erscheint.

Der homogene Stil, mit dem die Wiener Klassik unser musikalisches Bild des späten 18. Jahrhunderts noch immer dominiert, war Carl Philipp eher fremd. Die Grundausbildung bei seinem Vater gab ihm eine Sicherheit, so subjektiv und offen zu komponieren, dass uns seine Musik mitunter an die beunruhigende Autarkie des Ulysses von Joyce denken lässt – und an die Romantik.

Bislang war seine Auferstehung nur ein Einzelstück, allein 20 Passionen aus der Hamburger Zeit des Musikers galten bislang als verschollen. Deren Handschriften lagen einst – zusammen mit 50 Klavierkonzerten und weiteren unbekannten Stücken – in den Archiven der Berliner Singakademie, einem Privatverein wohlhabender Amateure, die sich seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts trafen. Wie die Handschriften dorthin gekommen sind, ist eines der vielen Rätsel um den Schatz der 5000. Möglicherweise hat der Berliner Bankier Abraham Mendelssohn sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem Sammler abgekauft und der Akademie geschenkt.

So gut wie nie ließen sich die Privatiers in die Karten gucken, und so weiß man auch nicht, wie die Handschriften des ältesten Bach-Sohnes Friedemann in die Sammlung gelangten. Es durfte kaum ein Außenstehender die Bestände besehen, selbst der große Bach-Biograf Philipp Spitta stand Mitte des 19. Jahrhunderts vor verschlossenen Türen. “Die haben immer Sperenzchen gemacht”, meint Musikwissenschaftler Wolff. Akademiechef Carl Friedrich Zelter bewachte den Schatz – zu dem auch die Briefe seines Freundes Goethe zählen – wie ein Drache, und seine Nachfolger hielten es ebenso.

Besucher konnten selten mehr als ein paar Takte beäugen, obwohl die Sammlung wohl eines der wichtigsten Fenster ins 18. Jahrhundert ist. Bislang wird die musikalische Epoche nach 1750 vor allem mit Wien in Verbindung gebracht – Berlin und Hamburg spielen kaum eine Rolle. Das dürfte sich allerdings dank der Notenfunde ändern, nicht nur Carl Philipps wegen.

Denn neben dessen komplettem Spätwerk finden sich unter den 5000 Handschriften auch Werke eher obskurer Gestalten wie etwa Johann Gottlieb Janitschs, von dem noch 60 Quartette vermisst werden. Das ästhetische Spannungsfeld zwischen Norddeutschland und Wien ließe sich dank solcher Funde neu vermessen. Die Sammlung wird von Kennern mit dem Fund von Krakau verglichen – doch der enthielt zwar Mozart-Handschriften, aber keine unbekannten Werke. Diesmal ist mit unzähligen Novitäten zu rechnen.

Danach hat Christoph Wolff alle die Jahre gesucht. War die Sammlung der Singakademie 1945 bei Bombenangriffen verbrannt? Als Beutekunst nach Schlesien geschafft worden? Oder wollten die Ost-Berliner Kollegen nicht zugeben, dass sie den verschollenen Schatz hatten? Als ein paar Notenbücher aus Moskau auftauchten, gab es einen ersten Hinweis auf Kiew am Djnepr. Jetzt hat er sich bestätigt.

30 Jahre lang fahndete der Wissenschaftler nach den Noten Die Rote Armee hatte die Sammlung der Singakademie von Berlin nach Rußland geschafft – aus ihrer Sicht hatten die Deutschen nach all den Verbrechen des Krieges ihr Recht an den Musikalien verwirkt. Und es dauerte lange, bis man zumindest einem Amerikaner deutscher Herkunft nicht mehr misstraute. Wieder und wieder bekam der gebürtige Solinger Wolff nur eine Antwort aus Kiew: “Nichts vorhanden, nie vorhanden gewesen.”

Seit 1976 arbeitete der Forscher im Music Department in Harvard, wo es auch ein Ukrainian Research Institute gibt. Von hier aus erforschen seine Historikerkollegen das russische Mittelalter und dessen Knotenpunkt Kiew. Mit ihnen tat sich der Musikwissenschaftler zusammen. So war das Netz geknüpft, als sich in einem Zeitschriftenbeitrag der Hinweis auf Musikalien in Kiew fand.

“Ist hier nicht”, hieß es auf erneute Nachfrage. Die gesamten Beutekunstbestände waren unter Aufsicht des KGB gewesen, Geheimhaltung war selbstverständlich und funktionierte offenbar auch Jahre nach dem Ende der Sowjetunion sehr gut. Es war ein ehemaliger Geheimdienstler, der im Sommer dieses Jahres wissen ließ, man habe da Tausende Musikhandschriften unbekannter Provenienz.

Mit regierungsamtlicher Einladung und US-Pass flog Wolff umgehend von der amerikanischen Ostküste an den Dnjepr. Im Museumsarchiv neben der byzantinischen Sophienkirche führte man ihn und seine Mitarbeiterin in ein winziges Büro, das man sich nach den vorsichtigen Andeutungen des Forschers so vorstellen darf, wie es im Kalten Krieg ein US-Regisseur ausgestattet hätte.

In trübem Licht saß hinter kahlem Tisch der Geheimdienstmann, Direktor des Archivs – es war dessen letzter Tag vor der Pensionierung. Beharrlich erklärte er, die Genehmigung sei nicht gültig, das Archiv im Umbau. Man möge sich nicht weiter bemühen. Hektische Verhandlungen auf allen Ebenen, anderntags wurde Christoph Wolff vom alten Direktor als “Berater” eingestellt. Und dann öffnete sich die Tür zum Archiv …

“Er ist der Einzige, der das hat schaffen können”, sagt Bach-Forscher Peter Wollny in Leipzig über seinen Kollegen und Lehrer Wolff, dessen Fund ihn jahrelang beschäftigen wird. Denn Wollny ist Mitherausgeber sämtlicher Werke von Carl Philipp Emanuel Bach und stellt schlicht fest: “Für uns beginnt die Forschung jetzt neu.”

Und für alle, die sich mit überkommenen Perspektiven nicht zufrieden geben. Es darf spekuliert werden, dass Carl Philipp Emanuel Bach jetzt endgültig aufsteigt zur bestimmenden Figur zwischen Mozart und Johann Sebastian Bach – mit Wirkungen bis hin zum späten Beethoven.

Und die Musiker weltweit dürften sich über den Fund ebenso freuen wie die Forscher. Längst sind sie mit der Sprache vertraut, in der Bachs Söhne und ihr Umkreis von den neuen Gefühlen kündeten. Und sie könnten anhand der 5000 Manuskripte erkunden, ob die Romantik der Musik nicht doch schon während der Klassik und im Norden begann. Dass auch Musikforschung selbst etwas Romantisches hat, steht jetzt schon fest …

Zunächst sollen nun die hervorragend erhaltenen Blätter fotografiert werden, und Kiew hat signalisiert, dass sie nach Berlin zurückkehren könnten. Bis jetzt hat Christoph Wolff nur einen flüchtigen Blick auf die Schätze geworfen. Aber er könnte sagen, was auch Howard Carter sagte, als er erstmals in die Grabkammer Tutanchamuns spähte. “Können Sie etwas sehen?”, fragte sein Partner hinter ihm. Carter drehte sich langsam um. “Ja. Wunderbare Dinge.”

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 12.08.1999

Spoof und Sex und Schostakowitsch

Das größte Musiklexikon der Welt stellt neue Fragen, revidiert alte Antworten und erreicht Lichtgeschwindigkeit

Otto Jägermeier hat es mal wieder geschafft. Der beliebteste aller gefälschten Komponisten kommt vor in Band 24, Seite 220. Zwar ist er längst als lexikalischer Betrug enttarnt, nun aber wird Jägermeier gerichtet und gerettet in einem: Unter spoof articles (“Scherzartikel”) hat er seinen Platz auf dem Olymp, im traditionsreichsten und größten aller Musiklexika.

The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Second Edition kann es sich leisten, blinden Passagieren von einst ein paar Zeilen zu gönnen. Mit 25 Millionen Worten und Wörtern, verteilt auf 29 499 Artikel, ist es das größte Vehikel, das die vergleichsweise junge Musikwissenschaft jemals vom Stapel gelassen hat. Und das gleich doppelt.

Was in den 29 blauen Bänden steht, soll im Internet zum “Nervenzentrum” des Musikwissens werden. Nicht, weil einfach alles drinsteht wie überall im Netz, sondern alles, was wirklich wichtig ist in der Tonwelt. Was nicht so wichtig ist, erfährt man unter www. grovemusic. com aber auch. Etwa dass es in der Lexikonzentrale nach baked potatoes riecht. Die Leute in 25 Ecclestone Place, London SW 1, sind nämlich auch nur Menschen, wie sie in ihren Hausmitteilungen versichern, sie benutzen sogar noch Papier und Stift zum Korrigieren, sie laufen zur Überprüfung von Zitaten, um Fakes und Fehler rechtzeitig zu orten, in die British Library wie vor 120 Jahren ihr Urahn Sir George Grove.

1890 war der mit der ersten Ausgabe fertig, die mit Index und Appendix sechs Bände umfasste. Fünf Ausgaben folgten, 1980 dann mit 20 Bänden der New Grove, seither das Leitmedium der Musikologen. Auch gegen diesen Vorläufer muss sich das neue Projekt behaupten, wenn sich die bislang 60 Millionen Mark Investition für Macmillan Publishers lohnen sollen.

Die gewichtigste Konkurrenz kommt aus Deutschland, wo Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) erscheint. Band für Band seit sieben Jahren, noch nicht fertig und nicht im Netz – so wirkt neben dem Briten auch das jüngste Flaggschiff der deutschen Musikwissenschaft wie ein schwerfälliger Holzkahn, von dem allerdings auch Anregung ausgeht.

Natürlich ist Musikwissenschaft längst keine nationale Angelegenheit mehr. Die 6000 Autoren des Grove schreiben in 98 Ländern, oft für mehrere Lexika. Dennoch haben diese Bücher ihre spezifische Geschichte. Kein Zufall etwa, dass die neue MGG spät, aber gründlich den Nationalsozialismus erkundet und nicht nur da mit essayistischen Ansätzen arbeitet.

So nutzten die Deutschen eine Lücke der britischen Lexikontradition, in der man sich bislang an traditionelle Formen und Kriterien hielt. Jetzt riskiert aber auch der Grove Themen und Methoden, die es vorher nicht gab. Denn die Maßstäbe, die man einst am Kanon “großer Werke” entwickelte, genügen nicht für die Rhythmen der Beduinen und auch nicht mehr für Beethoven.

Unter dem überraschenden Stichwort Music werden die neuen Trends abgesteckt, nämlich interkulturell und historisch bewusst zu arbeiten: Musik ist nicht absolut, sondern von Bedingungen abhängig. Das wissen wir, niemand ist eine Insel, und was heißt das konkret? Zum Beispiel, dass jede Musik sich auf vorhandene Musik bezieht.

Die Frage ist nun, ob Debussy den Tristanakkord verjuxt

Was im MGG mit “Zitat” begann, wird im Grove zu Borrowing (Anleihen) erweitert – ein neues Forschungsfeld, das weit mehr fordert, als in All you need is love die Marseillaise zu erkennen. Es geht auch darum, in welcher Form Anleihen gemacht werden. Ob etwa in Strawinskys Sacre Debussys Wolken nur anklingen oder ob Debussy den Tristanakkord offen verjuxt. Und ob es jemand merkt. Bezüge funktionieren je nach Publikum verschieden. Wer die deutsche Hymne hört, denkt nicht unbedingt an Kaiser Franz, für den Haydn sie erdachte, vielleicht aber an die Nazis, die ihr Reich mit dieser Melodie “über alles in der Welt” stellten. Und wer erkennt in den Liturgien des Mittelalters ihre frühchristlichen Quellen und deren jüdische Vorgänger?

Im Grunde ist die Geschichte der “Anleihen” bis hin zur Scratching-Technik, mit der DJs alte Platten in neue Zusammenhänge bringen, eine Geschichte der Musik und des Hörens und der 80-Spalten-Text dazu ein spannender Einstieg. Er zeigt detailgesättigt, wie Musikereignisse nicht als vermeintlich “autonom”, sondern als Teil eines Netzes beschrieben werden können.

Auf andere neue Wege weist die Grove-PR-Abteilung besonders nachdrücklich hin – nämlich auf jene Essays, die ältere Musikologen in Schreckstarre versetzen können. Schwule und lesbische Musik, Geschlecht, Sex und Frauen in der Musik. Da paart sich faktischer Nachholbedarf mit Political Correctness und bringt mitunter Ideologie hervor. Zwar warnen die Autoren von Gay and Lesbian Music vor Kurzschlüssen, führen aber Poulencs Stilbizarrerien straff auf den homosexuellen Hintergrund zurück: “Klar hörbar” sei für Eingeweihte die klingende Genreverschränkung als Kritik am Establishment. Na schön. Heteros müssen also draußen bleiben, dürfen aber weiterlesen und guten Gewissens Voyeuristen sein.

Den Anhängern traditioneller Lexikografie bleibt die Basis des Grove, die 20 000 Biografien, darunter 3000 neue über Komponisten des 20. Jahrhunderts, und behutsam revidierte Monografien wie zum Madrigal, wo sich die Forschung seit 1980 in feinsten Akzentverschiebungen, mitunter nur in einem Adverb niederschlägt – und natürlich in der üppigen Bibliografie. Zu den 5600 gänzlich neu geschriebenen Artikeln gehören auch 73 Spalten über den Jubilar des Jahres, Giuseppe Verdi, eins der Glanzstücke im Grove. Hier erlebt man die Vorteile einer Musikwissenschaft, die “historisch bewusst” arbeitet, indem sie die Großen nicht von ihrem Ruhm und Ende her, sondern in ihren Umständen erforscht.

Roger Parker räumt auf mit Verdis (Selbst-) Stilisierung als Durchbeißer aus ärmsten Verhältnissen und als Opernrevolutionär. Zunächst sei er vom Vater, in typischer middle-class fashion, auf die Bildungsebene gehievt worden. Und habe, von dort zum Komponieren gelangt, sich durchaus an traditionelle Formen gehalten, sie aber “von innen” erweitert.

Wenn man da liest, wie Verdis frühes Grundrezept funktionierte, ist das fast schon eine Anleitung zum Opernschreiben. Von der Themenplanung bis zum Melodiepartikel kommt man dem Komponisten so nahe wie nie. Als Gegenteil harmonisierender Inszenierung von “Genie” entsteht die so nüchterne wie aufregende Rekonstruktion einer Werkstatt. Es wäre nicht fair, diesen Beitrag (der gegenüber dem alten Grove nur Angaben zu Verdis Honoraren vermissen lässt) zum Maßstab für alle zu machen. Über Wagners Komponieren beispielsweise wurde schon so viel geschrieben, dass ein gründlicher Neuansatz, geschweige denn ein Summary der Sekundärliteratur, im Lexikon nicht zu leisten ist.

Dafür erfährt man viel über Wagners Texte, auch zu seinen Ungunsten: Die Regenerationsschriften werden als antisemitischer Hintergrund des Parsifal nicht mehr nur erwogen, sondern identifiziert. Wer Abgründe lieber in tonaler Hinsicht erkunden möchte, sollte den PC einschalten. Unter Tristan Chord findet man online weit mehr als im gedruckten Register: 50 Treffer. Sie bringen einen zum Beispiel zu Harmony, Analysis, Rhetorics, Psychology und, versteht sich, zu Borrowing. Billig ist der Zugang nicht (600 Mark jährlich), gewährt aber gleichsam die Vogelperspektive aufs Labyrinth. Was dort steht, soll ständig aktualisiert werden, und es ist unsicher, ob das jetzige Niveau der Datenflut standhält.

Zumal der legendäre Chef des Unternehmens nicht mehr mitmacht. Stanley Sadie, seit 1970 Herausgeber und Seele des Grove, ist dem Independent zufolge in der Schlussphase aus dem Chefsessel komplimentiert worden. Die Arbeit ging Macmillan Publishers nicht schnell genug voran. Vielleicht ist darum manches auch ein bisschen zu schnell gegangen.

Etwa bei Schostakowitsch, dessen Sinfonien schon genauer untersucht wurden, als der Artikel es merken lässt. Bei genialen Interpreten von Huberman bis Kremer, die hier nur Marginalien sind. Und vor allem bei Pop und Rock. Da gibt es zwar einen weit besseren Hauptartikel, als die MGG ihn bietet, aber jenseits dessen bleibt die alte Herablassung.

Es ist ja nicht unkomisch, wenn unter Heavy Metal steht, die Fans seien “als headbanger bekannt infolge der heftigen Nickbewegungen, mit denen sie ihre Wertschätzung der Musik bekräftigen”. Aber wenn das die prägnanteste Mitteilung bleibt, ist die Perspektive nicht weit von dem Blick entfernt, den frühe Kolonisatoren auf geheimnisvoll trommelnde Farbige warfen. Während eben Letztere sich differenziert beschrieben finden, ist vom britischen Patriotismus nicht mal genug übrig, um einer Würdigung der Beatles mehr Platz zu gönnen als der Innenansicht des Bayreuther Festspielhauses. In zwei Spalten für ihre Musik kann schlecht erklärt werden, was denn die hier als “klassisch” gelobte Eleganz der McCartneyschen Harmonik ausmacht.

Da reicht der “interkulturelle” Ansatz nicht über alte Schranken hinaus. So viel zu den herberen Enttäuschungen. Aber auch sie schmälern nicht die schier ozeanische Größe, Tiefe und Vielfalt des Unterfangens mit seinen Schatztruhen, Ausblicken, Echoloten, den luxuriösen Stunden auf dem Sonnendeck des Vertrauten und den Überraschungen am Strand.

Man möchte Funde sammeln: Die CD-Tipps in Performance Practice, die Anekdote von Kaiser Wilhelm, der für seine Autohupe ein Leitmotiv von Wagner wählte, den Kernteil des Elliott-Carter-Artikels, der in der sonst identischen MGG-Fassung fehlt, die Kommission aus Berliner Musikern in den 1840ern, die Kritikern öffentlich Zeugnisse ausstellte.

Nicht zu vergessen Pietro Gnocchi. Der soll von 1689 bis 1775 gelebt und 25 Bände über die Geschichte der antiken griechischen Kolonien im Osten geschrieben haben sowie ein Magnifikat betitelt Il capo di buona speranza. Dieses Kap hat zufälligerweise auch Otto Jägermeier auf dem Weg nach Madagaskar umsegelt. Der Grove wird daran nicht scheitern.

The New Grove Dictionary of Music and Musicians Second Edition; Macmillan Publishers, London; 29 Bände, 2950.- £ (12 Monate Zugang zur Online-Edition: 190.- £ )

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 12.03.2001