Der verschollene Bach

Spektakulärer Notenfund in Kiew – muss die Musikgeschichte neu geschrieben werden?

Ich will nicht abstreiten, dass ich mich sehr gefreut habe”, sagt Christoph Wolff. Musikwissenschaftler untertreiben gern. Wenn ein Forscher nach 30jähriger Suche 5000 Handschriften findet, die die Musikgeschichte durcheinander bringen könnten, stellt man sich das eher dramatisch und düster vor. Wie bei Howard Carter vor dem Grab des Tutanchamun. Doch das Museumsarchiv für Literatur und Kunst in Kiew ist elektrisch beleuchtet. Und Wolff ein kühler Kopf.

Der Dekan an der Harvard University gilt als einer der wichtigsten Bach-Forscher unserer Zeit, er zählt zu den Ideengebern und Entdeckern der Zunft. Schon 1985 gelang es ihm zur Überraschung aller, 60 Choralvorspiele des jungen Johann Sebastian Bach aufzustöbern.

In Kiew war Wolff auf der Suche nach einem Stempel, einer Lyra mit fünf Saiten – das Zeichen der Berliner Singakademie. Er sah es gleich beim ersten Stück, das er vom Regal nahm. Der Stempel bewies, dass der Forscher jene legendäre Sammlung gefunden hatte, die in den gut 200 Jahren ihres Bestehens niemals erschlossen wurde – und die den Nachlass von Carl Philipp Emanuel Bach enthält.

Der berühmteste Bach-Sohn als Stürmer und Dränger Er ist der berühmteste Bach-Sohn, eine singuläre Gestalt zwischen Barock und Klassik, von der Mozart sagte: “Er ist der Vater, wir sind die Bubn. Wer von uns was Rechts kann, der hats von ihm gelernt.” Noch 1812 besorgte sich Beethoven Klavierstücke des Mannes, den seine Zeitgenossen “den großen Bach” nannten.

Heute kennt keiner mehr die Musik, die dieser in den letzten 20 Jahren seines Lebens schrieb – bis auf sein Oratorium Auferstehung und Himmelfahrt, eines der modernsten Werke jener Zeit. 1778 uraufgeführt, wurde das Oratorium gleich dreimal von Mozart dirigiert. Es ist eine nie da gewesene Sturm-und-Drang-Musik, in der die alten Rezitative, Affekte, harmonischen Abläufe aufbrechen und eine neue Seelenlandschaft erscheint.

Der homogene Stil, mit dem die Wiener Klassik unser musikalisches Bild des späten 18. Jahrhunderts noch immer dominiert, war Carl Philipp eher fremd. Die Grundausbildung bei seinem Vater gab ihm eine Sicherheit, so subjektiv und offen zu komponieren, dass uns seine Musik mitunter an die beunruhigende Autarkie des Ulysses von Joyce denken lässt – und an die Romantik.

Bislang war seine Auferstehung nur ein Einzelstück, allein 20 Passionen aus der Hamburger Zeit des Musikers galten bislang als verschollen. Deren Handschriften lagen einst – zusammen mit 50 Klavierkonzerten und weiteren unbekannten Stücken – in den Archiven der Berliner Singakademie, einem Privatverein wohlhabender Amateure, die sich seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts trafen. Wie die Handschriften dorthin gekommen sind, ist eines der vielen Rätsel um den Schatz der 5000. Möglicherweise hat der Berliner Bankier Abraham Mendelssohn sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem Sammler abgekauft und der Akademie geschenkt.

So gut wie nie ließen sich die Privatiers in die Karten gucken, und so weiß man auch nicht, wie die Handschriften des ältesten Bach-Sohnes Friedemann in die Sammlung gelangten. Es durfte kaum ein Außenstehender die Bestände besehen, selbst der große Bach-Biograf Philipp Spitta stand Mitte des 19. Jahrhunderts vor verschlossenen Türen. “Die haben immer Sperenzchen gemacht”, meint Musikwissenschaftler Wolff. Akademiechef Carl Friedrich Zelter bewachte den Schatz – zu dem auch die Briefe seines Freundes Goethe zählen – wie ein Drache, und seine Nachfolger hielten es ebenso.

Besucher konnten selten mehr als ein paar Takte beäugen, obwohl die Sammlung wohl eines der wichtigsten Fenster ins 18. Jahrhundert ist. Bislang wird die musikalische Epoche nach 1750 vor allem mit Wien in Verbindung gebracht – Berlin und Hamburg spielen kaum eine Rolle. Das dürfte sich allerdings dank der Notenfunde ändern, nicht nur Carl Philipps wegen.

Denn neben dessen komplettem Spätwerk finden sich unter den 5000 Handschriften auch Werke eher obskurer Gestalten wie etwa Johann Gottlieb Janitschs, von dem noch 60 Quartette vermisst werden. Das ästhetische Spannungsfeld zwischen Norddeutschland und Wien ließe sich dank solcher Funde neu vermessen. Die Sammlung wird von Kennern mit dem Fund von Krakau verglichen – doch der enthielt zwar Mozart-Handschriften, aber keine unbekannten Werke. Diesmal ist mit unzähligen Novitäten zu rechnen.

Danach hat Christoph Wolff alle die Jahre gesucht. War die Sammlung der Singakademie 1945 bei Bombenangriffen verbrannt? Als Beutekunst nach Schlesien geschafft worden? Oder wollten die Ost-Berliner Kollegen nicht zugeben, dass sie den verschollenen Schatz hatten? Als ein paar Notenbücher aus Moskau auftauchten, gab es einen ersten Hinweis auf Kiew am Djnepr. Jetzt hat er sich bestätigt.

30 Jahre lang fahndete der Wissenschaftler nach den Noten Die Rote Armee hatte die Sammlung der Singakademie von Berlin nach Rußland geschafft – aus ihrer Sicht hatten die Deutschen nach all den Verbrechen des Krieges ihr Recht an den Musikalien verwirkt. Und es dauerte lange, bis man zumindest einem Amerikaner deutscher Herkunft nicht mehr misstraute. Wieder und wieder bekam der gebürtige Solinger Wolff nur eine Antwort aus Kiew: “Nichts vorhanden, nie vorhanden gewesen.”

Seit 1976 arbeitete der Forscher im Music Department in Harvard, wo es auch ein Ukrainian Research Institute gibt. Von hier aus erforschen seine Historikerkollegen das russische Mittelalter und dessen Knotenpunkt Kiew. Mit ihnen tat sich der Musikwissenschaftler zusammen. So war das Netz geknüpft, als sich in einem Zeitschriftenbeitrag der Hinweis auf Musikalien in Kiew fand.

“Ist hier nicht”, hieß es auf erneute Nachfrage. Die gesamten Beutekunstbestände waren unter Aufsicht des KGB gewesen, Geheimhaltung war selbstverständlich und funktionierte offenbar auch Jahre nach dem Ende der Sowjetunion sehr gut. Es war ein ehemaliger Geheimdienstler, der im Sommer dieses Jahres wissen ließ, man habe da Tausende Musikhandschriften unbekannter Provenienz.

Mit regierungsamtlicher Einladung und US-Pass flog Wolff umgehend von der amerikanischen Ostküste an den Dnjepr. Im Museumsarchiv neben der byzantinischen Sophienkirche führte man ihn und seine Mitarbeiterin in ein winziges Büro, das man sich nach den vorsichtigen Andeutungen des Forschers so vorstellen darf, wie es im Kalten Krieg ein US-Regisseur ausgestattet hätte.

In trübem Licht saß hinter kahlem Tisch der Geheimdienstmann, Direktor des Archivs – es war dessen letzter Tag vor der Pensionierung. Beharrlich erklärte er, die Genehmigung sei nicht gültig, das Archiv im Umbau. Man möge sich nicht weiter bemühen. Hektische Verhandlungen auf allen Ebenen, anderntags wurde Christoph Wolff vom alten Direktor als “Berater” eingestellt. Und dann öffnete sich die Tür zum Archiv …

“Er ist der Einzige, der das hat schaffen können”, sagt Bach-Forscher Peter Wollny in Leipzig über seinen Kollegen und Lehrer Wolff, dessen Fund ihn jahrelang beschäftigen wird. Denn Wollny ist Mitherausgeber sämtlicher Werke von Carl Philipp Emanuel Bach und stellt schlicht fest: “Für uns beginnt die Forschung jetzt neu.”

Und für alle, die sich mit überkommenen Perspektiven nicht zufrieden geben. Es darf spekuliert werden, dass Carl Philipp Emanuel Bach jetzt endgültig aufsteigt zur bestimmenden Figur zwischen Mozart und Johann Sebastian Bach – mit Wirkungen bis hin zum späten Beethoven.

Und die Musiker weltweit dürften sich über den Fund ebenso freuen wie die Forscher. Längst sind sie mit der Sprache vertraut, in der Bachs Söhne und ihr Umkreis von den neuen Gefühlen kündeten. Und sie könnten anhand der 5000 Manuskripte erkunden, ob die Romantik der Musik nicht doch schon während der Klassik und im Norden begann. Dass auch Musikforschung selbst etwas Romantisches hat, steht jetzt schon fest …

Zunächst sollen nun die hervorragend erhaltenen Blätter fotografiert werden, und Kiew hat signalisiert, dass sie nach Berlin zurückkehren könnten. Bis jetzt hat Christoph Wolff nur einen flüchtigen Blick auf die Schätze geworfen. Aber er könnte sagen, was auch Howard Carter sagte, als er erstmals in die Grabkammer Tutanchamuns spähte. “Können Sie etwas sehen?”, fragte sein Partner hinter ihm. Carter drehte sich langsam um. “Ja. Wunderbare Dinge.”

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 12.08.1999