Kategorie-Archiv: Kolumne

»Alles verrückt, es gibt kein Entkommen…«

Was passiert, wenn ein lange vergessener Komponist auf eine Romanfigur trifft, die denselben Namen trägt? Ich bin mir nach Winterberg & Winterberg in Berlin nicht mehr sicher, ob es Zufälle gibt – sicher ist nur, dass ich mehr von Hans Winterberg hören möchte.

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»Ja, ja, wenn die Geschichte ein Eisenbahnnetz wäre, wäre Jitschin ein Hauptbahnhof… Wallenstein, der Krieg von 1866, auch Bismarck war hier, ja, ja, alles verrückt, es gibt kein Entkommen…« So erzählt es der 99-jährige, der in Jičín Station macht, seinem Reisebegleiter und Altenpfleger. Zwei sehr ungleiche Männer, Tschechen mit Wohnsitz Berlin auf der letzten sentimentalen Reise des Alten, 1918 geboren, der besessen ist von Geschichte, nicht nur der tschechischen, sondern der mitteleuropäischen, von der er dem Begleiter unablässig erzählt. Zug um Zug, Bahnhof um Bahnhof. Und das erzählt, das liest nun in Berlin der Tscheche, der sich diesen Wenzel Winterberg erdacht hat, der 1972 geborene Jaroslav Rudiš. Er steht in der rappelvollen Schwartz´schen Villa und zieht uns hinein ins Geflecht der Schienen und der Geschichte, die sich in Winterbergs langem Leben spiegelt und ihm tiefe Wunden schlug.

Es ist aber weit mehr als eine Lesung. Hier ist nämlich auch Musik von Winterberg zu hören, einem Tschechen, der wirklich lebte, Hans Winterberg, den Rudiš überhaupt nicht kannte, als er seinen 541-Seiten-Roman schrieb, Winterbergs letzte Reise, und den er auch nicht kennen konnte, weil das Œuvre dieses 1901 in Prag geborenen Komponisten bis vor wenigen Jahren praktisch unbekannt war, weggeschlossen unter sonderbarsten Umständen am Ende eines Lebens, das ebenfalls romanreif ist und 1991 in einem oberbayerischen Städtchen endete.

Seine Vita ist freilich nicht der Grund, seine Musik aufzuführen und einzuspielen, sondern der Hintergrund eines Œuvres von höchstem Rang. Es wird mittlerweile bei Boosey & Hawkes verlegt. Die jüdische Prager Kulturelite vor der Besetzung durch die Nazis 1939 hatte einen ganz eigenen Sound, der Komponisten wie Kraśa, Schulhoff, Klein und Ullmann verband, und Hans Winterberg war einer von ihnen. Man findet bei ihm die rhythmischen Patterns von Leoš Janáček, Einflüsse Schönbergs, undogmatisch umgesetzt, späten Impressionismus, ein bisschen Paris der 1920er, Jazz …

Man findet darin auch den Vielvölkerstaat, in dem der Fabrikantensohn Winterberg aufwuchs, die Heterogenität so vieler Sprachen, Kulturen, Ethnien, Religionen, die sich im Prag der Habsburger Monarchie bündelte und deren Ende überstand. Und so trifft sich der Komponist Winterberg auf verblüffende Weise mit der Romanfigur Winterberg, die Jaroslav Rudiš lebendig werden lässt zwischen Stücken für Klaviertrio, einer Cellosonate, einem Streichquartett. Sein verschrobener, aber gar nicht dummer Greis reist nämlich hartnäckig mit einem Baedeker von 1913 durch das Mitteleuropa von 2017, mit dem letzten Reiseführer der Donaumonarchie, an deren Ende er zur Welt kam. Wie kommt es überhaupt zu der verrückten Kombi zweier Winterbergs? Cellistin Adele Bitter stieß während einer CD-Produktion mit Musik des Komponisten zufällig auf das Buch, Produzent Frank Harders-Wuthenow fand es spannend, lud Rudiš ein, und so führen uns der reale und der fiktive Winterberg gemeinsam durch (nicht nur) böhmische Jahrzehnte voller tiefer Brüche und fragiler Blüten. Die beiden treffen sich aber auch in der Struktur der Partituren und der Prosa.

Da ist zum Beispiel das Vivace der Cellosonate von 1951, die Adele Bitter und Holger Groschopp spielen, ein von Ragtime-Synkopen durchzogenes Perpetuum mobile, das einer Zugfahrt mit ihren immer wechselnden Ausblicken gleicht, dem Grundmuster des Romans und seiner Reisekapitel. Da sind außerdem die vielen Ebenen, die sich überlagern, in der Musik wie im Text. Der alte Protagonist sinniert ja nicht nur darüber, wie sich 1866 mit der Schlacht von Königgrätz schon die Schrecken des nächsten Jahrhunderts vorbereiteten, er trauert auch um seine Jugendliebe Lenka, ein jüdisches Mädchen, das vor den Nazis aus der Tschechoslowakei floh und dessen letztes Lebenszeichen aus Sarajewo kam. Der jüngere Protagonist, Jan Kraus, hat selbst so seine Probleme und gesteht schon früh: »Ich halte es nicht mehr lange mit Winterberg aus.«

Und dann hört man das Streichquartett, das der andere, reale Winterberg 1936 komponierte, wie eine Verdichtung mehrerer Perspektiven. Nicht als Analogie zur Erzählung, sondern als eine Abstraktion, in ihrem Ereignisreichtum so transparent, dass man hindurchblicken kann auf die Welt und zugleich ein Subjekt spürt, auf das die Welt einwirkt. Einerseits scheint die Musik sich selbst überlassen, ohne »Richtung«, andererseits steht sie unter Hochspannung. Man kann dieser Nicht-Erzählung so gut folgen, weil Motive, Muster, Polyrhythmen schlackenlos deutlich werden, weil es Dialoge, Haltepunkte, Neuansätze gibt. Aber nie eine Überdeutlichkeit, schon gar kein »Das bin ich!« In dieser Musik des Wandels bleibt die Persönlichkeit Hans Winterberg so verborgen, wie die fiktive Persönlichkeit Wenzel Winterberg im Roman offengelegt wird.

Es ist tatsächlich eine Uraufführung, die wir da in Steglitz hören, vom Adamello Quartett perfekt und intensiv realisiert. Ein absolut außergewöhnliches Werk, das die These des Musikwissenschaftlers Michael Haas stützt, die tschechischen Komponisten dieser Generation könnten neben der Berliner Sachlichkeit und der Zweiten Wiener Schule bestehen. Nur wurden sie fast alle in Auschwitz ermordet. Winterberg verlor viele Angehörige in der Shoah, er selbst wurde noch im Januar 1945 ins Ghetto Theresienstadt deportiert und dort am 8. Mai von sowjetischen Soldaten befreit. Unmöglich, an dieser Stelle auch nur in Umrissen die gezackte Lebenslinie Winterbergs zu skizzieren und den Kosmos seines Schaffens, das bis zur Rhythmophonie für Orchester von 1967 reicht. Aber das würde auch schlecht zur Unmittelbarkeit passen, mit der das Konzept dieses Abends uns vor der soundsovielten musikalischen Gedenkstunde bewahrt.

Viel zu oft nämlich führt die Rezeption von Komponisten, die Opfer der Judenverfolgung wurden, in ein zweites Ghetto, wo aus künstlerischen Persönlichkeiten gleich noch mal »Opfer« werden. Wie gut tut es der Musik von Hans Winterberg da, wenn wir von einer ganz anderen Seite kommen –  unterwegs mit Wenzel Winterberg und seinem oft genervten Begleiter Jan Kraus, mit dem Autor Jaroslav Rudiš, der da seinen Text plastisch macht und uns neben den Schrecken der Geschichte auch die Wonnen des Bieres und der Zigaretten ahnen lässt, in die Kraus gern flüchtet, und dessen Prosa so menschlich, so offen ist und, obwohl auf Deutsch geschrieben, so »tschechisch«, dass sie sich leicht mit der Musik verbindet. Nach Winterberg fahren die beiden übrigens auch, nach Vimperk in Südböhmen. Es ist eine Endhaltestelle, und sie bleiben einfach im Zug sitzen. Das passt. Es ist kein Abend für Endstationen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand als Nr. 43 der Kolumnenreihe “Rausch & Räson” für das Magazin VAN und ist dort seit 17. Juli 2024 online. Die illustration ist von Merle Krafeld.

Warum ich Bruckner verheiratet habe

Das große Jubiläum rückt heran: Anton Bruckner 200! Volker Hagedorn räumt schon mal die bewährten Klischees beiseite und entdeckt einen Typen, der ironisch sein kann, Star Wars überholt und sich sinfonisch selbst therapiert

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Die Menge der Musikjubiläen in diesem Jahr ist schier unfassbar, auch wenn man nur die bis 1924 nimmt und mit mindestens einer Null hinten dran. Und dann sollte man noch die Uraufführungsjubiläen weglassen, sonst würde neben Bach und Gershwin kein Gras mehr wachsen. Der Leipziger lieferte vor 300 Jahren 48 Kantaten ab, dazu noch die Johannes-Passion, der Mann aus Brooklyn brachte es 1924 auf rund 60 Songs, ganz zu schweigen von der Rhapsody in Blue… Bei den 150sten Geburtstagen drängeln sich die Fans von Arnold Schönberg, Reynaldo Hahn, Charles Ives und Gustav Holst, und bei den zweihundertsten kommt neben Bedřich Smetana der Mann in den Blick, für den ich diesen statistischen Einstieg überhaupt veranstalte, Anton Bruckner.

Und zwar nicht, weil Bruckner – am 4. September 1824 in Ansfelden, Oberösterreich, geboren – sonst nicht präsent genug wäre, sondern weil die Klischees so präsent sind, die sich ihm angelagert haben, für die er natürlich auch einiges geliefert hat und die auch den aufregendsten Interpretationen und Diskursen so getrotzt haben, dass sie mir sogar noch durch den Kopf gingen, als ich vor sieben Jahren anfing, seine Sinfonien mal genauer kennenzulernen. Neun Mal dieselbe Sinfonie, lautet ein Klischee (unabhängig davon, dass es elf Sinfonien gibt), beschreibbar wahlweise durch »Kathedrale« (weil er so katholisch war) oder durch »Alpengipfel«, außerdem alle »orgelmäßig« (weil er Organist war), als Mensch: tief gläubig, autoritätsfixiert, verklemmt.

Das alles wird beim Hören und Mitlesen schnell nebensächlich. Am meisten hat mich überrascht, dass der Mann ironisch sein kann. Wenn man das mit Zwinker-Emojis in den Partituren markieren wollte, könnte eins davon in den ersten Satz der Fünften Sinfonie gesetzt werden, Takt 262. In wenigen Sekunden geraten da Horn und Holzbläser von Ges-Dur nach D-Dur, auf so schwindelerregend elegante Weise, dass der Einsatz der Flöten danach wie ein Kichern klingt. Sicher kann man auch ganz seriös nur von Kontrapunktik und Motivabspaltung sprechen. Da schwingt dann aber nichts mit von dem, was da freigesetzt wird. Noch weniger, was Eleganz oder gar Ironie für einen bedeutet, der sich mit dieser Sinfonie aus einer bleischweren Depression herauskomponiert hat.

Womit wir beim Biografischen wären. Die meisten seiner Sinfonien gehen über Bruckners unspektakuläres Leben so weit hinaus, dass zwischen beidem oft ein Gegensatz gesehen wird – das Komponieren als einer Art überirdischer Kompensationsleistung. Es ist aber ein besonderer Fall der Identität von Kunst und Leben. Die Sinfonien waren, seit Bruckner 40 Jahre alt war, seine eigentliche Welt, er lebte darin, darum wartete er nicht auf Aufträge und war zwar oft frustriert, aber nicht zu entmutigen. Er bewegte sich in einer sinfonischen Welt, die ihre eigene Biographie hat. Nicht nur, wenn in der Sechsten ein Thema aus der Fünften zitiert wird, das kein Zeitgenosse wiedererkennen konnte, weil die Fünfte erst sechzehn Jahre nach ihrer Vollendung uraufgeführt wurde.

Die Sechste… Als sie fällig wurde in der Folge meiner Essays für das Gürzenich-Orchester, hatte ich nacheinander die Achte, Dritte, Siebte, Erste, Neunte und Fünfte erkundet. Ich war davon so beeindruckt wie erschöpft und stellte mir zur Entspannung vor, »Bruckners Sechste« sei seine sechste Ehefrau, nämlich Josepha von Metternich-Wittgenstein, eine Millionenerbin, die jetzt 141-jährig in Beverly Hills lebt und großzügig schlecht verdienende Autoren und Physiotherapeutinnen unterstützt. Als ich dem Programmredakteur das schrieb, antwortete er: »Dass Bruckner sechsmal verheiratet war, ist doch ein alter Hut, mich wundert es ein wenig, dass Sie das offenbar vorher nicht wussten. Man hört das immerhin sehr deutlich in seiner Musik, auch die Tragik seines völlig entkräfteten Verlöschens am Lebensende liegt sicherlich darin begründet.«

Wir erdachten uns Details rund um diese offenbar nicht unanstrengende Josepha, während ich in der realen Sechsten Sinfonie (wieder mal) den Bruckner traf, zu dem ein wildes Leben mit sechs Frauen besser passte als das Dasein eines unberührt alternden Universitätsbeamten in Wien. Ein Typ, der um 1880 mit galaktischem Sound im ersten Satz die Star Wars überholt, mit Patterns arbeitet, Schnitten und Zooms, der im letzten Satz andauernd Anläufe abbricht (»haltloses Treiben«, findet selbst der kluge Peter Gülke) und das Material für sich stehen lässt, sehr modern und, ja, cool. Weit entfernt vom »armen Organisten aus Wien« (Cosima Wagner), der er schon 1873 nicht war, als er sich in Bayreuth vom bewunderten Richard Wagner mit Weihenstephan vom Fass abfüllen ließ und ihm anschließend die Dritte, die »Symfonie in Dmoll« widmete. Voll mit Wagnerzitaten, die in späteren Fassungen verschwanden.

Und von wegen »armer Organist«: Bei der Londoner Weltausstellung 1871 wurde Bruckner, der an der neuen Orgel der Royal Albert Hall gastierte, derart gefeiert, dass er auch Heiratsanträge bekam. So etwas überforderte ihn, aber dafür ist das Metropolenadrenalin voll in seine Zweite Sinfonie geschossen. Es gibt so endlos viel zu entdecken bei diesem Komponisten! Man muss sein Image zum Jubiläum ja nicht komplett umdrehen wie bei Franz Kafka, der jetzt, 100 Jahre nach seinem Tod, auf einmal wie ein Ausbund an Lebensfreude durch alle Medien hopst. Aber wenn man Bruckner mit Neugier in seine Musik folgt, entdeckt man das eigentliche Leben dieses Mannes. Und natürlich noch viel mehr, vom Licht bis zur Nacht der Welt. Und wie gehe ich nun damit um, dass François-Xavier Roth, dessen großem Bruckner-Projekt ich meine Abenteuer mit Anton verdanke, toll dirigiert, aber mies gewhatsappt hat? Puh. Die Frage bleibt erstmal so offen wie das zerbröselnde pianissimo-Ende des Kopfsatzes der Achten, nachdem der Komponist das ganze Triumphgetöse gestrichen hatte.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand als Nr. 42 der Kolumnenreihe “Rausch & Räson” für das Magazin VAN und ist dort seit 26. Juni 2024 online. Die illustration ist von Merle Krafeld.

Zwischen Weitblick und Lupe

Die Aufnahme der späten Mozart-Sinfonien, die das Ensemble Resonanz 2020 vorlegte, flasht noch heute. Mit Mozarts Prager Sinfonie meinten die Musiker es jüngst allerdings etwas zu gut.

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Ab und zu, nicht sehr oft, platzt einem Klassiker der Marmor ab. Mozarts Jupitersinfonie zum Beispiel. Aber halt, wo soll denn da noch Marmor gewesen sein? Mozart wird doch seit einem halben Jahrhundert freigelegt, aufgekratzt, zum Leben seiner »Klangrede« gebracht, wie Befreiungspionier Harnoncourt das nannte, und ins vibrierende Umfeld der Französischen Revolution, die in seinem 34. Lebensjahr losbrach. Ja, aber offenbar hatten wir es uns mit diesem neuen, richtigen Mozart schon wieder nett eingerichtet, ob mit historischen Instrumenten oder ohne. Man sollte gar nicht glauben, wie schnell Marmor nachwächst, oder Moos – wobei das natürlich nur Metaphern sind für eine Rezeptionsverstetigung, die uns vom Unmittelbaren trennt.

Das Unmittelbare ist nicht nur eine Bauchgeschichte, es ist im Gegenteil sehr komplex, wie ein Mensch, von dem man sich ein gewisses Bild gemacht hatte und der in der Nähe vielschichtig bis widersprüchlich wird. Diese Nähe haben vor gut drei Jahren das Ensemble Resonanz und sein Dirigent Riccardo Minasi in Mozarts drei berühmtesten Sinfonien, den letzten, auf eine Weise erreicht, die über die Sensation für eine Saison weit hinausgeht. Im Finale der Jupitersinfonie mit diesen Musikern geht es mir selbst beim dritten Hören ein bisschen wie mit sieben Jahren, als ich eine Brille bekam und zum ersten Mal sah, dass der Küchenfußboden, den ich immer für ockerfarben gehalten hatte, in Wirklichkeit aus vielen verschiedenen Farbpünktchen bestand.

Da ist diese Spannung nicht nur der großen, auch der kleinen Linien, der Extraakzent, der in Takt 17 aus der Wiederholung zweier Thementakte ein Sprungbrett macht, so wie hier generell die Wiederholung von Motiven nie ins Statische führt, sondern zum Nachfassen, zur Intensivierung. Da ist ein neues Verständnis der Kontrapunktik, die Mozart mit unwahrscheinlicher Eleganz einsetzt, aber, was man sonst nicht hört, auch fürs Unelegante nutzt, für den aggressiven, fast dreckigen Zubiss etwa, mit dem sich in engem Abstand drei Instrumentenkombis mit einem Fanfarenmotiv jagen. Es gibt auch eine Kontrapunktik der Farben und Aktionen, nicht nur der Linien. Die Bässe versuchen mit ihren Auftakt-Anfällen in der Durchführung das Thema in den Geigen zu zerfetzen, neben dem die Holzbläser chromatisch träumen.

Dazu kommt das ganz andere, der entspannte Blick zwischendrin, etwa das dreizehn Mal wiederholte g in den Hörnern, das wie ein unbeteiligter Traktor durchs Feld tuckert, während in der Harmonik schon ein paar Dementoren Nebel verbreiten. Das muss man erstmal hinkriegen, eine 235 Jahre alte Partitur im Klang so vieldimensional zu realisieren, dass wir unsere Welt in ihr finden und zugleich den Eindruck haben, Mozart in dem Moment zu erleben, in dem er das aufschrieb, offensichtlich entschlossen, an die Grenzen zu gehen. Man spürt eine Modernität fast ein bisschen so wie sonst in Strawinskys Sacre, nur eben innerhalb einer Sprache, die mit Konventionen ihrer Zeit arbeitet.

Minasi hat es hingekriegt, auch deswegen, weil viele vorgearbeitet haben, weil er selbst als Geiger in der historischen Aufführungspraxis groß wurde, die beim Ensemble Resonanz auch mit einem 440er A und modernen Instrumenten prägend ist. Aber es kommt noch etwas hinzu. Ein anderer Horizont, eine besondere Neugier und Begeisterung, ein Beiseitefegen von allem »was bisher geschah«. Es war eine enorme Leistung von Dirigent und Ensemble, diesen Schwung bei gleich drei Sinfonien dieses Ranges zu halten, mitsamt aller Konzentration und Präzision. Ein Glücksfall auch, nach dem der nächste Angang vielleicht ein Atemholen sein muss, ein Rückzug auf die Basis, von der aus man gesprungen ist. So jedenfalls kommt mir die Prager Sinfonie vor, die das Ensemble Resonanz jetzt – wieder bei harmonia mundi – veröffentlicht hat.

Die Mittel, die Minasi zur Neuentdeckung der späten Trias dienten, drohen beim bahnbrechenden D-Dur-Vorgänger Selbstzweck zu werden. Vom neugierigen Blick bleibt die Lupe, unter der nun Sollbruchstellen mit Ritardandi vergrößert werden, bis aus der Vorahnung von Don Giovanni eine didaktische Veranstaltung geworden ist. Das einleitende Adagio zerfällt in Zäsuren; das Allegro wird vorm Rhythmuswechsel bei 5’17 (Takt 124) so abgebremst, dass ich zuerst an einen Schnittfehler dachte. Krassester Fall von etlichen Manövern, die Disruptivität auf einer Ebene behaupten, wo sie nicht komponiert ist. Dabei kann Tempogestaltung Wunder wirken, wie dieselben Musiker es in Mozarts g-Moll-Sinfonie gezeigt haben: Da wird im 1. Satz nach der Generalpause das Tempo um die kleine spürbare Idee zurückgenommen, die den Szenenwechsel in Opernnähe rückt. So subtil wünscht man sich manches in der Prager, auch bei den Betonungen. Im Adagio scheint das Wichtigste der geradezu missionarisch vorgeführte Akzent innerhalb einer Fünfachtelgruppe zu sein, wo immer sie auftaucht. Ein Akzent, wo ein Gedanke schon fast zu viel wäre in der Zärtlichkeit, die sich da zu entfalten beginnt – besser gesagt, beginnen könnte.

Aber auch da, wo einem etwas fehlt, erfährt man ja etwas über ein Stück. Und über die Interpreten. Es mag sein, dass Riccardo Minasi die 1786er Sinfonie neben den Dreien von 1788 etwas unterschätzte und sie im Licht der Linzer Sinfonie von 1783 sah, mit der die CD beginnt: Da ist Mozart wirklich noch nicht im – von ihm selbst zu entwickelnden – Großformat angekommen. Nun geht es den Hamburger Musikern wie ihm: Sie werden von dem Level aus gehört, das sie selbst erreicht haben. Was überhaupt kein Problem ist, sondern wahrscheinlich das Beste, was Künstlern passieren kann.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand als Nr. 41 der Kolumnenreihe “Rausch & Räson” für das Magazin VAN und ist dort seit 20. Dezember 2023 online. Die illustration ist von Merle Krafeld.