Die Comtesse im Briefkasten

Da hat uns jemand eine Flasche teuren Rotwein in den Briefkasten gestellt“, sagte sie am Telefon, „für dich, nehme ich an.“ „Teuer? Sieht der so aus?“ Sie las vor: „Chateau Pichon Longueville, Comtesse de Lalande 1994, Grand Cru classe Pauillac.“ „Neunzehnhundertvierundneunzig? Das klingt sehr teuer. Das ist irgendwas Altes aus dem Bordeaux. Und wer ist jemand?“ Das wusste sie nicht. Kein Zettel dran. Sie habe den Briefkasten klappern gehört (es ist ein selbstgebauter mit Holzdeckel, groß genug für drei Flaschen), sei rausgegangen, und da habe diese Flasche gestanden. Vermutlich sei das ja als Glückwunsch für den Preis gedacht. Mittlerweile hatten nämlich einige Zeitungen gemeldet, dass mir ein Literaturpreis zuerkannt worden war.

„Ja, schon möglich, das wäre ja total nett, aber lag wirklich kein Zettel dabei?“ Ich fand das mysteriös. Da ich meine Phantasie an dem Tag erst mäßig beansprucht hatte, kam ich auf teuflische Pläne. Man kann so eine Flasche ja auch vergiften wie die böse Königin den Apfel für Schneewittchen. Wissend, dass der Adressat teure Weine liebt, aber nicht bezahlen kann, könnte man… Aber warum? „Ja, warum?“, sagte meine Frau lachend. „Auf wessen schwarzer Liste glaubst du denn zu stehen?“ Stimmt. Meine Recherchen lassen, ich muss fast beschämt davon ausgehen, jede Mafia kalt. Sie gelten meist der Musik, die, wie man weiß, auch richtig fiesen Typen viel Freude machen kann.

Bei einem wirklich durchtriebenen Anschlag hätte wenigstens ein Zettelchen mit den Worten „On vous adore“ an der Flasche kleben können, als beunruhigende kleine Anspielung auf mein derzeitiges Thema. Nein, kein Anschlag. Aber welcher Dorfbewohner stellt einem eine Flasche Schattoh Wahnsinn in die Box? Eigentlich kamen nur die befreundeten Akademiker in Frage, die noch die besseren Zeitungen lesen. Der Arzt, der Geistliche. „Nee, davon weiß ich nichts“, sagte der Arzt, als ich ihn anrief, „aber wir könnten trotzdem mal wieder eine Flasche öffnen.“ Der Geistliche war im Urlaub. Inzwischen hatte ich nachgeschlagen im „Kleinen Johnson“, dem besten Weinführer.

Das Chateau war tatsächlich der Wahnsinn. Vier rote Sterne, das Maximum. Und der Jahrgang? „Heftige Regenfälle bei der Lese, Vorsicht geboten“, las ich über 1994. “Jetzt trinken.“ Andererseits hieß es gerade von diesem Gut, „selbst in ungünstigen Jahren“ liefere es „langlebige Weine von fabelhafter Rasse und üppiger Art.“ Mein Vater liebt solche Weine. Als er kam, erzählte ich von der ungeklärten Provenienz der Flasche. Ihn störte sie nicht. „Wir machen es so, ich koste vor“, sagte ich, „und wenn ich dann nicht tot umfalle, ist er okay.“ Ich drehte den langen Korken heraus, dekantierte den Wein (ein edles rostbraunes, glühendes Rot), probierte. „Schmeckt jedenfalls nicht nach Polonium.“

Er schmeckte so horizonterweiternd, dass man beim Beschreiben unweigerlich in diese unfreiwillig komische Weinlyrik geriete, mit Walderdbeeren, Ledersätteln und Fruchtnachhall. Ich sage lieber, dass ich mich beim Genießen sehr geborgen fühlte, aber nicht beengt, wie in einem alten großen Haus mit hohen Fenstern zum Garten, bei Sonnenuntergang. Was die Anonymität des Überbringers betrifft, fällt mir ein Satz von Gustav Mahler ein, den er 1910 an Arnold Schönberg schrieb: „Was liegt eigentlich daran, wer die Werke schreibt. Wenn sie nur zur rechten Zeit da sind.“ Genau. Erstens sollen sich die Autoren mal nicht zu persönlich nehmen, und zweitens froh sein, wenn nach dem Werk der Wein zur rechten Zeit da ist, egal von wem. Danke!

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