Kategorie-Archiv: Begegnungen

Harte Schule

1. Dezember 2015: Ein Treffen mit dem Dirigenten Gabriel Feltz während der Proben zu Wolfgang Rihms „Hamletmaschine“ in Zürich

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Er hat das ja alles mitgekriegt, hautnah. Und alles war wieder da, als er diese Szene las: „Ich bin der Soldat im Panzerturm“, dazu jäh aufschwellendes Massengebrüll im Radio, und knappes Trommeln, wie Schüsse, Schläge. „Es war der 7. Oktober 89, ich kam vom Geburtstag meiner Schwester, die hat damals im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg gewohnt. Die Straßenbahn fuhr an dem Tag nicht, da merkte man schon, irgendwas stimmt nicht“, sagt Gabriel Feltz. „Ich kam auf eine große Kreuzung, und da lagen lauter einzelne Schuhe herum. Da war gerade eine Demonstration auseinandergeknüppelt worden.“ Am Rand standen noch die Sicherheitskräfte, bewaffnet, vor ihren gepanzerten LKWs.

Der Untergang der DDR, in der Feltz groß wurde, liegt 26 Jahre zurück, aber dieser Tag, an dem noch alles auf Messers Schneide stand, war mit der Hamletmaschine sofort wieder da, mit der Partitur, der Gewalttätigkeit darin, den vier Radios, aus denen die Masse faucht. Eine Woche, ehe er mit den Orchesterproben für dieses Stück in Zürich beginnt, treffen wir uns in Dortmund. Vom Theater inmitten der Stadt, in dem er Generalmusikdirektor ist, will er gleich in ein Lokal. Er hat Hunger und erledigt gern zweierlei zugleich, jetzt also Buletten und Interview, der Lärm im Laden stört ihn nicht, und seine Stimme ist dem mühelos gewachsen. Markant, tiefer Bariton.

Ein Machertyp ist der 44jährige, aber keiner, der sich die Welt zurechtsortiert hat. Auch der 18-jährige ist immer noch da, der fassungslos auf die Schuhe blickt, sich irgendwann wohl auch fragt, in was für einer Welt er Kapellmeister sein wird. Denn das wusste er sicher, schon früh, dass er das sein würde. Der da jetzt in Dortmund im Lärm sitzt, ist gut gelaunt und geerdet, macht sich aber viele Gedanken. Er sieht das Musiktheater Hamletmaschine, 1986 von Wolfgang Rihm vollendet, als „gesellschaftliches Spiegelbild“ mit aktuellem Potential. „Es hat ein extrem destruktives Element in dieser Aggressivität, klanglich, sprachlich, in dieser fragmentarischen Art und Weise.“

Das macht ihm aber auch zu schaffen. Gabriel Feltz ist Praktiker und keiner, der den Leuten aus Prinzip etwas um die Ohren haut. „Zürich ist kein Haus mit unbegrenzter Platzkapazität. Wir werden das Schlagzeug mit 30 verschiedenen Instrumenten in die Logen packen müssen, und wenn die Leute da das Maximum spielten, würde der Schalldruck sie künstlerisch töten. Also hoffe ich, dass ich dem Stück eine leichtere Komponente abgewinnen kann. Andererseits kann ich den Musikern mit schweren Eisenplatten und Vorschlaghämmern nicht sagen, benutzt die mal leiser.“

Den Umgang mit Orchester und Sängern hat Feltz von der Pike auf gelernt. Sein Vater, der Musikpädagoge Eberhard Feltz, hat den Fünfjährigen „zum Geigenspiel getriezt“ und dem Heranwachsenden von Wagner abgeraten. Logische Folge, dass Gabriel kein Geiger wurde und Wagner als „Genius“ verehrt. Zuerst kam aber Beethoven: „Mit acht Jahren hatte ich die Fünfte drin im Kopf und wie Furtwängler sie dirigierte, mit vierzehn hab ich in eine Taschenpartitur von Mahlers Dritter, für fünf Ostmark, schon reingeschrieben, was ich wie schlagen wollte, auch die Ritardandi. Als ich die Sinfonie zwanzig Jahre später aufnahm, habe ich manche dieser Sachen ganz genauso gemacht.“

Das klingt geradliniger, als es für den Studenten an der Hochschule für Musik Hanns Eisler nach dem Mauerfall zunächst lief. Er studierte da im selben Semester wie Sebastian Baumgarten, der Regisseur der Züricher Hamletmaschine. Ein Stipendium als Assistent an der Hamburgischen Staatsoper galt seinen Kommilitonen zwar als „glamourös“, bedeutete aber: „Mit wenig Geld in Hamburg klarkommen und alles machen. Korrepetition, szenische Proben, Vorsingen. Mit 23 können Sie gar nicht alle Stücke. Sie spielen vom Blatt, stochern rum, werden angebrüllt, wenn es nicht stimmt, und haben keine Zeit, sich einen Discount zu suchen, wo Sie billig einkaufen können. Harte Schule.“

Es folgte die sogenannte Ochsentour. Gastdirigenten nach Vorstellungen anquatschen, auf Stellensuche, mit schwangerer Frau. Erste Posten in Lübeck, Bremen, Gera / Altenburg. In Bremen dann dirigierte er ein Großwerk der Moderne: Luigi Nonos Intolleranza, von Johan Kresnik inszeniert. Auf die 147 Proben für seine preisgekrönte Einspielung des Werkes ist Feltz immer noch stolz, auch auf die zehn Jahre bei den Stuttgarter Philharmonikern, wo er mit gewagten Programmen das Publikum vergrößerte. In Dortmund muss er es mit neuen Klängen vorsichtiger angehen lassen, aber: „Wir sind als Dirigenten schrecklich museale Dinosaurier, wenn wir nicht moderne Musik dirigieren!“ Die misst er indessen auch an den alten Meistern.

Gerade darum beeindruckt ihn die Partitur des seinerzeit 35jährigen Wolfgang Rihm, auch wenn ihm ihre Eruptionen Kopfzerbrechen machen. „Die Behandlung der Streicher ist singulär. Man hat als Dirigent nach 25 Jahren eine gewisse Überheblichkeit und denkt, ich hab´alles gesehen, was Streicher können. Wie Wagner sie am Ende der Walküre teilt, wie Mahler es hier und Strauss dort tat. Und wenn dann jemand kommt und den Mut hat, substantiell Neues zu machen, und das kann – das hat schon eine besondere Qualität.“ Doch der erste Blick auf eine unbekannte Partitur ist bei ihm gar nicht so ein handwerklicher. „Ich gehe erstmal nur nach der Optik, so etwas kann ich nicht gleich innerlich hören.“

Er blättert also in der Partitur. Stellt zuerst fest: Handschrift. Das ist schlecht, weil Gedrucktes leichter zu entziffern ist und er sich die Spitzennoten mit Bleistift noch mal oben reinschreiben muss, damit es in den Proben zügig geht. Aber die Handschrift hilft auch, weil er hier „die Person Rihm“ erkennt: „Sehr klar, dominant, beherrschend im positiven Sinn, geerdet, das ist schon beeindruckend.“ An Mahler erinnern ihn Rihms penible Anweisungen, die bis zur Lichtregie gehen. Dann sucht er in den Noten, „was mein Herz und meinen Bauch bedient und gar nicht meinen Kopf!“ In die Aufnahme der Uraufführung hat er nur kurz reingehört. „Ich erschließe mir das lieber selbst.“

Dann strukturiert er. „Die Phrasen hängen eventuell so zusammen und so, da sind es vier plus vier Takte, da drei plus drei… das ist hilfreich, um der DNA des Stückes nahezukommen.“ Bei Mozart macht er das genauso. „Wie in der Reprise von KV 551 acht Takte eingefügt sind, die sowas von elementar toll sind – da sage ich dem Orchester, vergleichen Sie die Stellen, den Unterschied möchte ich hören!“ Für das Strukturieren hat er bei der Hamletmaschine vier Wochen gebraucht, „dann verdichtete sich so langsam, wie man was schlagen könnte.“ Das sei hier aber einfacher als in Zimmermanns Soldaten, die er an der Komischen Oper in Berlin dirigierte, in der umjubelten Produktion aus Zürich.

Mittlerweile ist Gabriel Feltz in Rihms Partitur auf der Suche, „wo ich Momente der Stille installieren kann, Schattierungen, Nachdenklichkeit.“ Ihn fasziniert, was Rihm „terrassenartige Stilwechsel“ nennt. Vom schlagenden Anfang zum ersten Händelfragment, dann zum Scherzo, später eine danse macabre, „in der es um den täglichen Mord geht. Die Schnelligkeit und die Form der Dissonanzen bewirken einen gewissen groove, also eigentlich muss das doch ein bisschen witzig sein, ja?“ Die vier Radios allerdings sind nicht witzig. Feltz imitiert im  Gaststättenlärm, wie da das Volksgebrüll herausfaucht. Unberechenbar. Noch etwas fällt ihm ein bei dieser Szene. „Das berühmte Bild aus Peking, wo dieser eine chinesische Student vor einer Kolonne von T 54 Panzern steht und sie zum Stoppen bringt. Das hat mich unendlich beeindruckt, bis heute.“ Feltz sagt nicht, für wie politisch und wirksam er Kunst neben solchen Ereignissen hält. Vielleicht genügt es, dass die in seinem Kopf sind, wenn er die Hamletmaschine in die Gegenwart steuert, in der Hoffnung, „dass wir die Leute erreichen.“ Aber jetzt muss er erstmal die Sache mit den Trillerpfeifen klären. Die sind dem Chor nämlich zu schrill.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 35 der Oper Zürich, Dezember 2015. Eine Interviewfassung des Gesprächs ging am 21. Januar 2016 bei VAN online. Foto: Gabi Mladenovic, Concerti

 

“It was always dancing. Didn’t matter how.”

Nancy Osbaldeston erzählt, wie sie aus Südengland über Manchester, London und Antwerpen ans Ballett der Oper Zürich kam. Und warum Spitzenschuhe auch gut für die Avantgarde sind.

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Für ein Städtchen von nur 3500 Einwohnern hat Cuckfield, den Kuckuck im Wappen tragend und sechs englische Meilen von der Kanalküste entfernt, erstaunlich viele «notable people» zu verzeichnen. Romanciers, Theologen, Schauspieler, Wissenschaftler, Sportler. Der Jüngste auf der Liste ist ein Cricketspieler, die Zweitjüngste eine Tänzerin. Die kam hier zur Welt und in einen Kindergarten, in dem sich jeden Freitag eine Ballettlehrerin einfand. Nancy, erklärte sie den Eltern der Dreijährigen, sei das einzige Kind, das wirklich exakt im Takt der Musik hüpfe. Was sie davon hielten, wenn sie Unterricht bekäme? «I think I loved it from the beginning», sagt Nancy Osbaldeston, seit dem vergangenen August Erste Solistin im Ballett Zürich.

Wir sitzen in einem kleinen Garderobenraum des Opernhauses, der weder an Südengland denken lässt noch ans Ballett, wenn man mal vom Klavier absieht und den Spiegeln, die in Nancys Metier keine geringe Rolle spielen, und ich prüfe besorgt die Distanz zwischen Aufnahmegerät und Tänzerin. Was nämlich in ihrem Metier gar nicht gebraucht wird, ist eine laute Stimme, wobei immerhin, wie ich noch lernen werde, längst auch Tänzerinnen auf der Bühne Töne, Worte, Geräusche von sich geben dürfen. Ein einziges Mal wird Nancy Osbaldeston laut in dieser Stunde, aber Worte verwendet sie dabei nicht.

Jetzt brauche ich erstmal Nachhilfeunterricht in Sachen Tanz, und den erteilt sie mit leiser Stimme und in hohem Tempo. Sie hat viel zu sagen, zuallererst über William Forsythe, den legendären amerikanischen Choreografen, in dessen In the middle, somewhat elevated Nancy ein grosses Solo hat. «Es ist ein ikonischer Klassiker, ein Traum für Tänzer, ich liebe es. So lange her, 1987, und immer noch so gut. Er hat eigentlich kein Thema. Es ist einfach nur Tanz, purer Tanz, dancing at hardest: Wie weit kann man gehen?» «Ist das das Gegenteil eines Handlungsballetts?» «Ja und nein. Selbst wenn ein Stück keine Story hat, findest du manchmal eine, Beziehungen, Verbindungen. Schon wenn sich zwei Personen die Hände reichen, ist da eine Art Dynamik.»

Es komme auch darauf an, mit wem sie tanzt. Mit dem einen Partner könne etwas anderes entstehen als am nächsten Abend mit dem anderen. «Very minimally, but I ’ll feel the difference, ich weiß nicht, ob es dem Publikum auch so geht, wahrscheinlich ja. Und selbst mit nur einer Person kann eine Geschichte entstehen, je nachdem, wie ich einen Rhythmus interpretiere oder bestimmte Dinge akzentuiere. Vielleicht kommt da die Geschichte meiner Persönlichkeit zum Vorschein?» Sie lacht. Es wäre die Geschichte einer ziemlich entschlossenen Persönlichkeit, für die es nie einen Plan B gab. «It was always dancing. Didn’t matter how.» In Manchester, wohin die Familie zog, als Nancy fünf Jahre alt war, tanzte sie in der Schule und lernte auf Wochenendkursen, mit sechzehn bewarb sie sich an verschiedenen Tanzschulen, wobei klassisches Ballett nur eine von vielen Optionen war. «Ich wollte nur tanzen, egal was und wo, es hätte auch auf einem Kreuzfahrtschiff sein können!»

Es wurde aber die English National Ballet School in London, und nach drei Jahren dort wurde Nancy am English National Ballet engagiert. Aus ihrer Zeit dort habe ich ein Interview gefunden. «Was habe ich gesagt? Wer war ich da?» Sie war 24 Jahre alt, als man sie fragte, wie sie sich die Zeit nach dem Tanzen vorstelle. «Ich höre nicht auf», sagte sie damals. «Ich eröffne eine Compagnie für alte Tanzpensionäre, damit ich noch auftreten kann, wenn ich Großmutter bin.» Sie lacht, die Idee gefällt ihr immer noch. «Ich weiß, dass ich immer tanzen werde, ob das nun gut aussieht oder nicht.» Schon 2013 sah es so gut aus, dass Nancy den Emerging Dancer Award bekam; ein Jahr später wechselte sie zum Opera Ballet Vlaanderen nach Antwerpen, um dort acht Jahre zu bleiben.

Dem Lockdown verdankt man ihre erste größere choreografische Arbeit. Libertango zur Musik von Astor Piazzolla ging online und beeindruckte auch die Süddeutsche Zeitung: «Der Mix wird auch Tango-Aficionados überzeugen, die zunächst geneigt sind, den gemeinsamen Auftritt von Spitzenschuh und Bandoneon für Ketzerei zu halten», schrieb Dorion Weickmann. Nancy meint, es sei einfach, Piazzolla zu choreografieren: «Diese Musik bittet uns geradezu, sie zu tanzen!» Das geht ihr nicht mit jeder Musik so. «Ich bin kein massiver Fan dieser Avantgardesorte von…» Es folgt ein verblüffend lautes Miauen, dann fährt sie dezent fort: «Aber man kann sich auch da hineinbewegen.» Auch auf Spitzenschuhen, die für Nancy keineswegs Attribute von gestern sind.

Das klassische Ballett, ohne «pointe shoes» nicht denkbar, ist ihre Basis. «Ich hatte auch mal Gesangsstunden und vergleiche es damit. Wenn du Singen in Richtung Oper und Klassik trainiert hast, kannst du in alle Richtungen gehen, bis zum Jazz. Wenn du die Regeln kennst, kannst du sie brechen. Je mehr man kennt, desto mehr kann man verbinden. Ich kann mit verschiedenen Körperlichkeiten, physicalities, spielen, mit verschiedenen Stilen, sie wie aus einer Werkzeugkiste nehmen… Es gibt zum Beispiel so viele Arten, die Arme zu bewegen!» Sie wirft sich in eine Angeberpose, die Arme angewinkelt, die Fäuste geballt. «Aber es geht nicht nur um Posen, Formen, Haltungen, es geht darum, wie man durch sie hindurchfließt, das muss man auch lernen. Wie ein Tänzer zu einer bestimmten Haltung hinkommt und was ihr folgt, ist wichtig!» Das gilt für alle Arten von Tanz, und natürlich tanzt Nancy auch ohne Spitzenschuhe, wenn es gefragt ist – und an manchen Abenden auch mit und ohne, wie in der neuen Produktion Countertime. «Es ist genau umgekehrt wie in Autographs, wo wir die Spitzenschuhe am Schluss einsetzen, bei Forsythe. Jetzt beginnen wir ziemlich klassisch mit MacMillan und brechen das dann auf.»

Was hinter so einer Aufführung steht, ist einer der härtesten Jobs, die es in der Theaterwelt gibt. Jeden Vormittag wird trainiert, «wir müssen immer in Topform sein». Dieser «class» folgen sechs Stunden Proben mit einer Stunde Pause dazwischen, sofern keine Aufführung ansteht – und selbst der Tag nach einer Aufführung hat so ein volles Programm. «Das ist schon ziemlich hart», meint Nancy, «es geht nur, wenn man diesen Job liebt. Man muss ihn sehr lieben. In einem schon nicht mehr vernünftigen Maß…» Der Auftritt selbst ist dann erst recht beglückend. «Keine Unterbrechung mehr, keine Wiederholung! The show is just…», sie klatscht in die Hände, «one time! Now or never!»

Der harte Job, die strenge Hierarchie in der Gruppe ist auch mit viel Solidarität verbunden. «Ich bin ja ein bisschen älter», sagt die 35-Jährige ohne Koketterie, «und helfe den anderen gern. Aber jeder braucht Hilfe. Ich habe die hässliche Angewohnheit, dass ich dauernd in den Spiegel gucke, wenn ich tanze. Das hilft oft gar nicht, auf der Bühne gibt es ja keinen Spiegel. Es sieht auch komisch aus, den Kopf beim Tanzen so zu verdrehen. Wir brauchen immer jemanden, der uns beobachtet, ein zweites Auge.» Dabei helfen ihr auch Kolleginnen und Kollegen, die sie schon aus Antwerpen und London kennt: Ruka Nakagawa, Shelby Williams, Esteban Berlanga, Charles-Louis Yoshiyama. «It’s a small world…»

Ja, und dann ist da ihre Tochter. Sie kam vor drei Jahren in Belgien zur Welt, zog mit ihren Eltern für zwei Jahre nach Toulouse und schliesslich mit ihnen nach Zürich. «Wenn ich nach Hause komme, holt sie meinen Geist komplett aus dem Arbeitsalltag heraus. Das ist sehr gesund. Manchmal fühle ich mich schuldig, weil ich so viel arbeite, aber das geht ja nicht ewig so. Ich hoffe, sie erinnert sich später nur an die guten Seiten.» Zum Beispiel an gestern, als die Dreijährige ein Kostüm anzog und zur Musik tanzte, die ihre Eltern anstellten. «Wie sie die Musik interpretiert… it’s natural,» sagt Nancy, «it’s so natural!»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 122 der Oper Zürich, April 2025 und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Der Ballettabend Countertime mit Choreographien von Kenneth MacMillan, Cathy Marston und Bryan Arias hat am 10. Mai 2025 Premiere. Foto: Oper Zürich

“Oh Gott, wie soll das jemals gehen?”

Ein Treffen mit vier Solisten des Ensembles Cantando Admont während der Proben zu Beat Furrers neuer Oper “Das große Feuer” in Zürich

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Fünf Jahre ist es her. Friederike Kühl hatte gerade ihr Gesangsstudium in Rostock abgeschlossen, „vier Wochen vor dem Lockdown, mit Konzert, mit Publikum, richtig schön. Dann war alles zu und ich stand da mit einem Beruf, der plötzlich verboten und gefährlich war. Ich habe erstmal Hartz 4 beantragt. Und dann bin ich in Salzburg bei Cantando eingesprungen.“ Großes, befreites Gelächter in der kleinen Runde, die im Foyer der Probebühne zusammensitzt. Längst ist Friederike festes Mitglied des Ensembles Cantando Admont, das in Zürich an Beat Furrers neuer Oper Das große Feuer arbeitet. Sie nennt es „eine Schicksalsgemeinschaft“. Zwölf Vokalsolisten sind es insgesamt, vier von ihnen erzählen mir vor der nächsten Probe von sich und ihrer Arbeit.

Sie lachen oft dabei. Verschiedener könnten sie nicht sein, verbundener aber auch nicht. Da ist Bernd Lambauer, schmal, gelassen, blondes Haar bis knapp über die Schultern, Mitte fünfzig und gebürtig aus Graz – dort und in Wien hat das Ensemble seinen Sitz. Rechts von ihm sitzt ein weiterer Tenor am Tischchen, Hugo Paulsson Stove, 1993 in Stockholm geboren, den man nicht als schwedischen Naturburschen unterschätzen sollte, auch wenn er so aussieht. Eher florentinisch wirkt Helēna Sorokina, aber sie kommt vom anderen Ufer der Ostsee, aus Riga, und lebt in Wien. Für diese Altistin schrieb Beat Furrer die „Prophezeihungen“ in seiner Oper, so, wie er jede:n von ihnen beim Komponieren vor sich hatte.

„Wir haben die Partitur von ihm so nach und nach übers Internet bekommen“, sagt Bernd, „dann schaut man sich´s an und denkt, oh Gott, wie soll das jemals gehen! Das ist das erste Stadium.“ „Die initiale Frustration“, sagt Hugo, „das muss so sein!“ „ Als ich meine Prophezeihungsszene gekriegt habe“, sagt Helēna, „dachte ich, ich hab in meinem Leben noch nichts Schwierigeres gesehen. In der einen Sprache zu sprechen und parallel in der anderen Sprache zu singen! Challenge accepted! Die Belohnung für das, was wir hier machen: Man kommt auf ein Level, von dem man nie gedacht hat, dass man da landen könnte. Man sieht, dass Beat uns schätzt, vielleicht mehr als wir uns selber.“

Sie haben alle vier schon vieles von Beat Furrer gesungen, diesem Meister der suggestiven Klangräume und fein kalkulierten Verdichtungen, und auch Friederike, gebürtige Stuttgarterin, kennt das „Verzweiflungsmoment“ bei der Annäherung an seine vertrackten Partituren. „Da schreie ich ihn innerlich an: Ist das dein Ernst, muss das so sein? Aber dann kommt dieses Erlebnis, dass ich an seiner Musik wachse, als Künstlerin und Mensch, und dass aus diesen kleinen Punkten Musik wird. Diesen Vorgang gibt´s bei Mozart natürlich genau so, aber bei ihm überspringt man das – die Pamina hat man ja schon tausend Mal gehört. Es war ein total schönes Erlebnis, mir selbst bei dem Schritt zuzugucken.“

„Ich denke, es ist wie Winken“, meint Helēna. „Eigentlich zwei unterschiedliche Bewegungen, eine nach rechts, eine nach links. Aber daran denken wir nicht bei Mozart, da winken wir automatisch. Hier müssen wir es erst lernen.“ „Und das bedeutet für den Ausführenden eine Vertiefung“, sagt ihre Kollegin, „das macht es für uns so wertvoll auch für Musik, die man schon kennt. Irgendwann nach einem Projekt mit Beats Musik hatte ich ein Weihnachtsoratorium. Die Echoarie hatte ich schon mal gesungen, aber es machte solchen Spaß, in diese Arie anders reinzugehen!“ Sie alle haben ihre Erfahrungen mit dem Repertoire, und ABBA lieben sie auch. Um so spannender, eine neue Musiksprache zu lernen.

„Es ist der schönste Moment, wenn es dann wie Winken ist“, findet Hugo. Doch in Das grosse Feuer ist der Weg zu diesem Moment noch hürdenreicher als in früheren Werken von Furrer. Zum einen, weil sich viele Charaktere in diesem Regenwalddrama ständig ändern – „manchmal sind wir Teil der Gesellschaft, manchmal mutieren wir in Wesen, die nicht von dieser Welt sind, auch die Musik ändert sich, unsere sängerischen Aufgaben“, sagt Helēna. Zum andern gehören zu diesen Aufgaben auch Mikrointervalle aus der Obertonreihe.

„Es ist in verschiedenen Tonarten“, erklärt Hugo, „harmonisch gedacht, aber ganz komplex.“ „Das stelle ich mir schwierig vor“, meine ich. Fast unisono rufen sie: „Das ist es!“ Friederike geht ins Detail: „Es gibt einen Grundton und von dem aus müssen wir die Mikrotöne ansteuern, nicht so ungefähr, sondern zum Beispiel den elften Oberton. Der liegt zwischen Quart und Tritonus…“ „Aber nicht die mathematische Hälfte“, wendet Bernd ein. „Wir mussten lernen, wie wir blind mitten in der Nacht diesen Oberton in Bezug zum Fundamentalton finden können“, sagt Helēna. „Und wenn´s dann stimmt beim Singen“, bekennt ihre Soprankollegin, „ist es körperlich geil!“ Alle lachen. „Oder?“

„Das kann man tatsächlich in Worten nicht beschreiben“, sagt die Altistin. „Es ist einfach ein anderes körperliches Gefühl, als wenn man Halbtöne und mathematische Vierteltöne singt.“ Vielleicht könne man es, sagt Tenor Bernd, mit den reinen Terzen in der alten Musik vergleichen, aus der Zeit vor den „wohltemperierten“, also künstlich egalisierten zwölf Halbtönen. „Deswegen beschäftigen wir uns als Ensemble ja auch viel mit alter Musik.“ Das war von Anfang an so, 2016, als die Dirigentin Cordula Bürgi mit Bernd Lambauer und weiteren Sängern das Ensemble gründete – benannt nach dem Stift Admond in der Steiermark. Mit Renaissancemusik aufgewachsen, von Avantgarde fasziniert, gelernte Sängerin und Geigerin, steuerte sie Cantando Admont bald an die Spitze der Gruppen, die im 16. wie im 21. Jahrhundert zuhause sind.

Cordula Bürgi war es auch, die Helēna nach einer Empfehlung engagierte. Die weiss noch jetzt auf den Tag genau, wann und womit sie 2017 debütierte, das geht Hugo nicht anders. Wie Friederike, aber zwei Jahre vor ihr sprang er in Salzburg ein, in Beat Furrers Musiktheater Begehren. „Drei Tage vor Probenbeginn wurde ich gefragt, davor habe ich fast nichts Zeitgenössisches gemacht. Ich habe nur geschummelt die ganze Zeit,“ er lacht, „ich bin einfach mitgegangen.“ Es muss gut gegangen sein, er blieb dabei. „Es gibt viele Musiker, die wollen nur Klassik und Romantik, bis dahin und nicht weiter. Ich will das nicht. Ich will denken, dass es heute Komponisten gibt, die großartig sind, und die gibt´s. Dabei kommt man auch den toten Komponisten viel näher. Alle wollen musikalisch etwas ausdrücken, gesagt haben und aufs Papier schreiben. Egal ob das Bach oder Bruckner ist, es ist derselbe Drang.“

Aber mit einer Oper wie Carmen ist Das große Feuer nun wirklich nicht zu vergleichen. Wie könnte man einem blutigen Laien den Unterschied erklären? „Ich könnte nicht sagen, ich spiele dir die schöne Arie aus der Furrer-Oper vor“, meint Hugo. Grosses Gelächter, Helēna summt gleich die Arie „Près des remparts de Séville“. „Bei Carmen“, sagt sie dann, „gehen wir immer von Melodien aus, aber so einfach ist das nicht. Auch dort sind die Geräusche, die Umgebung, die Gesellschaft der Zeit eingewoben. Wir sind es nur gewohnt, diese Musik auf eine bestimmte Art zu hören, sie wird konsumiert.“

Und wie ist es mit der Handlung der neuen Oper? Natürlich gibt es eine Geschichte, aber sie ist nicht so eindeutig auf Rollen verteilt. „Wir sind Boten, Naturereignisse, Einzelpersonen, aufgewühltes Volk“, sagt Helēna, Hugo ergänzt: „Manche Sachen sind fest und andere wie Rauch, oder Fließendes… da muss man als Publikum einfach mitkommen!“ Auf jeden Fall sei es dramatische Musik, und ihr Bezug zum Text helfe ihnen, das alles auswendig zu lernen. „Und dann“, meine ich, „kommt die Regie und verlangt wieder etwas Neues…“ „Das ist immer ein Problem!“ ruft Friederike sofort, alle lachen. Und dann begeben sie sich auf die Probebühne, um auch dieses Problem zu lösen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 120 der Oper Zürich, erschienen März 2025. Die Uraufführung von Beat Furrers Oper Das große Feuer findet am 23. März 2025 unter der Leitung des Komponisten statt, in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca. Näheres hier. Das Foto (privat) zeigt (v.l.n.r.) Bernd Lambauer, Hugo Paulsson Stove,  Helēna Sorokina und Friederike Kühl.