Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern”

Dirigent, Geiger und Sänger Dmitry Sinkovsky spricht über die Arbeit an Cavallis Eliogabalo in Zürich, sein Orchester in Russland und seinen Titelhelden aus der Ukraine

Wir sitzen neben einem Wald von schwarzen Notenständern auf der ansonsten leeren Probebühne. Arbeitslicht, Stille – puristischer geht es kaum. Auf ein Pult hat Dmitry Sinkovsky, ein kräftiger 42-Jähriger, der die Haare hinterm Kopf zum Knoten geschnürt trägt, seine dicke Partitur gestellt, ein anderes Pult habe ich mir in die Waagrechte gebogen, als Tischchen für den Kaffee. Der ist dringend nötig. Wie sich herausstellt, hat auch der Dirigent nur vier Stunden Schlaf gehabt, allerdings nicht wegen einer Zugverbindung. Er hat bis spät in die Nacht noch Wortbedeutungen im italienischen Libretto recherchiert. Was die Protagonisten in Francesco Cavallis früher Barockoper Eliogabalo singen, ist nämlich selten ohne Hintersinn…

Aber jetzt möchte ich erstmal wissen, ob er, der diese Oper musikalisch leitet, auch Geige spielen wird. Denn vor ein paar Minuten, als ein paar Schritte weiter auf der anderen Probebühne die heutige Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern und dem Regisseur Calixto Bieito endete, hat Sinkovsky noch fröhlich ein paar Akkorde angestrichen. Sein Barockinstrument hat er immer dabei. Besser gesagt, beide Instrumente, denn Countertenor ist er ja auch. «Auf jeden Fall spiele ich», meint er, «zusammen mit Luca Pianca an der Laute. Das müssen wir machen, denn diese Musik fordert viel Improvisation. Calixto möchte auch, dass ich an einigen Stellen singe, aber das lassen wir noch offen.» Er lacht. «Keiner weiss, was in einer Woche passiert. Die Proben sind ein permanenter Prozess.»

Sicher ist nur, dass, wenn Dmitry Sinkovsky spielt oder singt, er sich auf demselben hochprofessionellen Level bewegen wird wie die anderen Akteure auch. Das Label Glossa hat ihn als Interpreten von Beethovens Violinkonzert ebenso im Programm wie mit einer CD, auf der er Lieder von Sergej Akhunov singt, geschrieben für seine Stimme und die historischen Instrumente seines Ensembles «La Voce Strumentale». Bei Naïve erschien eine CD, auf der er Vivaldis Vier Jahreszeiten spielt und dazu noch eine Arie des Venezianers singt, fast unnötig zu sagen, dass er das Ganze auch dirigiert. Inzwischen dirigiert er auch Opern von Rossini, Verdi, Tschaikowski. Auch dazu kommen wir noch…
sinkovsky

Was er derzeit an der Oper Zürich macht, ist Neuland für Sinkovsky – eine Oper aus dem Jahr 1667. «Das Früheste, was ich je spielte, sang, dirigierte», sagt er, auf  Englisch, denn sein Deutsch findet er nicht so gut wie sein Italienisch, Serbokroatisch, Französisch und, natürlich, Russisch. «Aber Dirigieren ist bei dieser Musik nicht das Dominierende, auch wenn ich natürlich Einsätze gebe. Ich bin eher der, der es zusammensetzt, Instrumente aussucht, kürzt. Wenn man nicht kürzt, dauert Eliogabalo dreieinhalb Stunden, es sollen aber nur etwas mehr als zwei werden. Die Rezitative sind sehr, sehr lang, manchmal endlos, es wird oft dasselbe auf immer neue Weise erzählt. Das ist leichter zu kürzen als Monteverdi, den man eigentlich gar nicht kürzen kann. Aber man muss aufpassen, kein wichtiges Material dabei zu verlieren. Es gibt unglaubliche Momente in dieser Oper, die sind… wow, echte Meisterstücke.»

Was es nicht gibt, ist eine Instrumentierung. Es gibt Instrumentalstimmen, «die kann man besetzen, wie man will. Ich will so viele Farben wie möglich. Zinken, Flöten, Dulzian, Posaune, Harfe, drei Theorben, Laute, Lirone, Cembalo, Orgel… Jede Person bekommt ihre musikalische Identität, ihr Instrument.» Das ist schon deswegen hilfreich, weil Cavalli ein dichtes Netz machtpolitischer wie sexueller Intrigen zwischen zehn Männern und Frauen komponiert hat, an der Spitze der grössenwahnsinnige Kaiser, der eigentlich alle Frauen beansprucht und vor Gewalt nicht zurückschreckt, aber natürlich trotzdem wunderschön singen darf, wie es mir Sinkovsky nun demonstriert. «Oh che vaghi candori…»

Seine schlanke, fokussierte Stimme schwebt im mezzopiano durch den stillen Saal, nach «che morbide rose» bricht er ab. «That’s it, ein Arioso von acht Takten. Eliogabalo singt sie für Gemmira, die Alessandro liebt, und die weichen Rosen… das ist etwas Physisches.» «Etwas Erotisches.» «Oh yes. Ich habe bis halb vier daran gesessen, hinter diese Metaphern zu kommen. Wir sprechen heute nicht mehr in Metaphern. Wie ausdrucksvoll diese Sprache war!» Und mit der Emotion müsse man beginnen, die Technik sei nur Unterstützung. «Das habe ich von Harnoncourt gelernt. Es ist eben nicht so, dass man in die Noten guckt und sagt, ja, kenne ich, den Rhythmus», er singt ein paar punktierte Noten, «der muss so und so verziert werden», er umgibt die Töne mit 32tel-Girlanden. «Natürlich muss man wissen, wie man Verzierungen schreibt. Aber Cavalli, das ist hauptsächlich gesprochene Musik. Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern, mehr als eine Verzierung oder ein Vibrato oder kein Vibrato.»

Es macht Spass, Cavallis Geheimnisse zu erkunden, aber ich möchte auch wissen, wie eigentlich ein Musiker zu Cavalli kommt, der zuerst am Konservatorium seiner Geburtsstadt Moskau in die alte russische Schule des Geigens einstieg, virtuos, hochromantisch, Bruch, Brahms, Tschaikowski… «Am Konservatorium war damals Alte Musik schon in Mode, Pinnock, Gardiner, Leonhardt, die Pioniere. Ich hörte das und bekam eine Gänsehaut, es war wie ein geheimer Raum. Mit zwanzig hatte ich das Glück, als Geiger zu einer erfahrenen Gruppe von Barockmusikern zu kommen, Musica Petropolitana aus St. Petersburg. Die brachten mich mit berühmten Musikern in Kontakt, mit dem Counter Michael Chance, mit Emma Kirkby. Und ich dachte, wenn ich in Zukunft Dirigent sein will, und das wollte ich, sollte ich auch singen lernen. Was will man Sängern sagen, wenn man nicht versteht, was sie tun?»

Na schön, aber das muss ja nicht gleich zu einer Zweitkarriere als Counter führen. Wie hat er seine Stimme entdeckt? «Das fragen mich Sänger auch.» Er lacht, dann schmettert er ein sehr hohes «Haaa» in die Luft. «Okay.» Der frischgebackene Barockgeiger bekam Unterricht bei Marie Leonhardt, der Sänger bei Michael Chance. Der kommende Dirigent studierte in Zagreb Chorleitung und in Toulouse Orchesterleitung. Seit Februar 2022 ist Dmitry Sinkovsky Chefdirigent der Oper in Nizhny Novgorod, einer Millionenstadt 400 Kilometer östlich von Moskau. Seit ebenso langer Zeit herrscht Krieg in der Ukraine. Wie aber kommt damit der Sänger der Titelpartie klar, der Ukrainer Yuriy Mynenko? «Wir haben uns ohne jede Diskussion vom ersten Tag an verstanden. Wir machen dasselbe Ding. So sollte es sein in unserer kleinen musikalischen Gemeinschaft, die zusammenbleiben muss in jeder Art von Zeit. Ich bin der Zürcher Oper dankbar, den Vertrag eingehalten zu haben.»

Er erzählt vom Orchester in Nizhny, ein sehr junges Ensemble von 25- bis 27-Jährigen, «diese neugierigen jungen Augen sind mir mehr wert als Geld, so motiviert, die wollen arbeiten, die sind wie eine Familie. Und egal mit welcher Situation man sich befasst, immer kümmert man sich um seine Familie. Leute mit einer festen Stelle im Orchester, mit Familie und Verwandten, haben keine Wahl, woanders hinzugehen wie reisende Musiker. Die können nur die Musik verlassen und auf die Strasse gehen. Besonders als Solist und Dirigent sollte man daran denken, dass es weitaus Abhängigere gibt.» Und die lässt er nicht sitzen.

«Keiner weiss, was in einer Woche passiert», Dmitry Sinkovskys Satz zum Probenprozess passt auch zur Weltlage. Nur dass man im Theater eher mit dem Schönsten rechnet als mit dem Schlimmsten. Für den Ensembleleiter, Sänger und Geiger hat sich der Regisseur schon wieder eine neue Herausforderung einfallen lassen, ein viertes Metier. «Calixto sagte heute, hier will ich einen ballo, einen Tanz, mach was! Also werde ich heutenacht ein paar Ritornelle komponieren. Im Stil von Cavalli, oder seine Themen benutzend, mit Zink oder Geige im Stil einer Triosonate…» Es wird wohl mal wieder spät werden.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 97 der Oper Zürich, November 2022, sowie online.

“Für eine Ideologie ist Lachen das gefährlichste”

Jérémie Rhorer dirigiert Offenbachs Barkouf in Zürich – und hat nicht nur Berlioz einiges vorzuwerfen. Ein Gespräch über Komik und Ideologie in der Musik – und das Entkommen aus der Vorstadt

Es regnet heftig. Kein Tag, an dem man beschwingt zur Arbeit geht. Genau der richtige Tag für Jacques Offenbach, um seine funkelnde Energie zu entfalten, 142 Jahre nach seinem Ableben in Paris. Man spielt sich erstmal ein im großen Orchesterprobensaal am Kreuzplatz, Dienstbeginn gegen 10 Uhr vormittags, hinten plaudern die Solisten, es ist ihre erste Probe für Barkouf zusammen mit dem Orchester. Dann nimmt auf seinem Schemel vor den Musikern Jérémie Rhorer Platz, 49 Jahre alt, nicht gross, beiges Jackett, sparsame Gesten. Er gibt den Einsatz zur ersten Nummer, und plötzlich wandelt sich die Atmosphäre. Diese Rhythmen, diese Schnitte und Farben, diese kleinen Verrücktheiten! Eine unverregnete Heiterkeit breitet sich aus.

Ab und zu eine Unterbrechung, eine Korrektur: Betonungen werden verschoben, die Silben im Tenor brauchen mehr staccato. Um die ersten Geigen leiser zu haben, genügt eine kurze Armbewegung links. Klarheit entsteht und noch mehr von dieser Heiterkeit, die nicht banal ist, sondern voller Leben. Inzwischen sitzen da keine Diensthabenden, es ist ein Ensemble von Musikern. Die Sänger werden übermütiger, immer mehr von den Gesten, den Charakteren, die sie mit Klavier und Regie erprobt haben, brechen aus. Man könnte meinen, Offenbach irgendwo amüsiert lächeln zu sehen, vielleicht auch noch nachdenken: Ist das gut, Fagott zum Pizzicato? Ja, sogar sehr gut. Der Zuhörer am Saalrand verspürt erste Suchtsymptome. Bitte noch eine Nummer, noch ein Duo, Trio, Quintett…

Aber damals bei der Uraufführung in Paris war nach sieben Vorstellungen Schluss, Anfang Januar 1861. «Schwer zu verstehen, warum», sagt Jérémie Rhorer, als wir nach der Probe durch etwas weniger Regen zu Starbucks hinübergehen, «auch wenn Barkouf durch die Kritik von Hector Berlioz wirklich zerstört wurde.» Er schwärmt von den Farben, der grossen Palette, mit der Offenbach zwei verschiedene Welten deutlich mache, den machiavellistischen Zynismus der Politiker, «von der Groteske switcht er zum Tieferen, zum sanften Charakter etwa von Maïma. Er hat dieses Talent, wie Bizet und später Bernstein und viele Jazzmusiker, direkt zum Ohr zu kommen.» Und das besondere Talent zur Komik solle man nicht unterschätzen. «Es ist eines der kostbarsten Talente, die Freude auszudrücken. Das Leben, das Lachen. Für eine Ideologie ist Lachen das gefährlichste.»

Er erwähnt Umberto Ecos Der Name der Rose. Das verbotene Buch in diesem Roman, das vom finsteren Bibliothekar vergiftet wird und durch dessen Lektüre dann die Mönche sterben, ist das Buch von Aristoteles, in dem die Komödie behandelt wird, er tritt für Freude und Lachen ein. «Auch Mozart und Haydn konnten das Komische sehr gut», meint Rhorer, «aber man muss sich bei Offenbach hüten, es überzuinterpretieren. Humor braucht subtile Balance. Zuviel ist nicht mehr komisch. Der Dirigent muss auch die Eleganz des Komponierten garantieren, auf Artikulation und Präzision bestehen.» Das alles sagt er nachdenklich, bedachtsam seine Worte auf Englisch wählend. Er ist selbst ein Komponist, den um so mehr das Handwerkliche interessiert, die Mittel, die eingesetzt werden. «Je tiefer ich in das Stück einstieg, desto mehr war ich vom Handwerk beeindruckt. Offenbach weiss, was er tut. Es klingt fruchtig, spirituoso, es ist schmackhaft. Es gibt keine schwachen Stellen.»

Berlioz, meint er, habe sich vielleicht gerade an Offenbachs Souveränität im Umgang mit der Harmonik gestört, den er als laienhaft abtat. «Berlioz selbst hatte, ehrlich gesagt, für Harmonik kein offensichtliches Talent. Ich glaube, er wusste selbst, dass es eine seiner Schwächen war. Aber er hat mit seiner Kritik Offenbach fast ein bisschen aus der Gesellschaft gestossen, und leider wusste er, was er tat. Dieses Machtausüben zwischen Musikern ist in Frankreich eine Konstante, von Lully, der Kollegen bekämpfte, bis zu Pierre Boulez.» Den Einfluss des grossen Serialisten hat Rhorer noch im Conservatoire der 1990er bemerkt, als er Komposition studierte. «Ich wollte über Tschaikowski, Puccini, Prokofjew sprechen, die wurden nicht in Erwägung gezogen. Und die Tendenzen in der zeitgenössischen Musik fand ich deprimierend, ideologisch.»

Mir fällt dazu Steve Reich ein, der sich im New York der 1960er vor die Alternative gestellt sah, entweder so zu komponieren wie Boulez oder wie Cage, wenn er nicht ausgelacht werden wollte, und seinen eigenen Weg fand. «Erstaunlich, dass Sie das sagen! Tatsächlich hat mich Reich gerettet, seine Musik öffnete eine Welt. Aus irgendeinem Grund war er trotz seiner Neotonalität am Konservatorium akzeptiert, ich durfte mich in der Analyse mit ihm beschäftigen.» Boulez aber bleibt für Jérémie Rhorer «eine dunkle Figur», geradezu der Gegenpol zum zutiefst bewunderten Leonard Bernstein. Ein Filmmitschnitt von Mahlers Dritter wurde ihm zur Offenbarung. «Er lässt sie neu entstehen. Bei ihm ist jeder willkommen zur Feier der Menschlichkeit!»

Für das Anti-Elitäre hat der zurückhaltende Rhorer vielleicht um so mehr Sinn, als er keineswegs auf den lichten Höhen des Bildungsbürgertums zur Welt kam. Der Grundschüler im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine wollte Tennisspieler werden, «aber alle Kursplätze an dem Mittwochnachmittag, der es sein musste, waren belegt.» Also schickte ihn seine Mutter in die Musikschule, wo er sich die Flöte aussuchte. Aber der Unterricht war von zweifelhafter Qualität, er wollte da weg. Eine Anzeige wies den Weg: Bei der Maîtrise de Radio France, dem Kinderchor des Rundfunks, konnte man sich bewerben. Jérémie sang vor und wurde angenommen. Dann kam der Tag, als Colin Davis den Chor dirigierte.

«Ich sah ihm zu, und das war’s. Wie er mit seinen Gesten die Musik erhob, den Klang modellierte… Die Schönheit des Ausdrucks war so offensichtlich. Da war ich zehn.» Von dem Tag an wollte Jérémie ein Dirigent werden. «Aber haben Sie nicht als Cembalist begonnen?» «Das war ein Weg, um da hinzukommen. In Paris gab es einen Dirigenten, Emil Tchakarov, der sagte mir, dirigieren kannst du nicht lernen. Er hatte es in Bulgarien gelernt, indem er grosses Repertoire für fünfzehn Musiker transkribierte, die er dann dirigierte. Er sagte, bau dir dein eigenes Orchester. Ich sammelte zuerst sechs Musiker, um Mozarts Adagio und Fuge zu dirigieren, da war ich sechzehn.» Mit 21 Jahren, mittlerweile studierter Cembalist und Komponist, gründete er mit dem Geiger Julien Chauvin das Orchester Le Cercle d’Harmonie, auf historischen Instrumenten spielend, dann ging es steil aufwärts. Die dritte CD nahmen sie schon mit Diana Damrau auf, mit Rhorer am Pult. 2011 debütierte das Ensemble im Londoner Barbican Centre, 2016 bei den Proms. Am Pariser Théâtre des Champs-Élysées produzierten sie die grossen Opern von Mozart. Dessen Don Giovanni dirigierte Rhorer 2017 auch beim Festival in Aix-en-Provence – elektrisierender, klarer hat man die Ouvertüre noch nicht gehört.

Dass er als Gastdirigent von Salzburg bis Edinburgh, von der Wiener Staatsoper bis zur Brüsseler La Monnaie unterwegs ist, bei Gewandhausorchester und Tschechischer Philharmonie, wird man von Rhorer selbst nicht erfahren, ohne nachzufragen. Eher schon, warum Verdi auf dem Stimmton A=432 Hertz bestand. Warum Poulenc depressiv wurde, als er sich mit Zwölftonmusik befasste. Wie unglaublich Tschaikowskis Meisterschaft in der Harmonik ist. Und wie eng es im Orchestergraben der Opéra-Comique zuging, als dort Barkouf uraufgeführt wurde. Keine gewerkschaftlich festgelegten Mindestabstände, «es war gestopft voll! Ein Aspekt, den man im Kopf haben sollte.»

Und war es nicht so, vorhin bei der Probe, dass die Musiker auf dem riesigen Podium an der Kreuzstrasse einander näher zu kommen schienen, obwohl sich kein Stuhl bewegte? Ein bisschen Magie ist wohl auch dabei. Wir stehen auf, es regnet draußen nicht mehr, und der Dirigent lächelt. Nicht wegen Jacques Offenbach, sondern weil sein einjähriger Sohn und dessen Mutter ein paar Strassen weiter auf ihn warten. «Wir müssen noch zu Migros, einkaufen…»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 96 der Oper Zürich, Oktober 2022, sowie online.

“Man muss seiner Stimme treu bleiben”

Wie ein Junge aus Iowa in die Welt der Oper geriet: Eric Cutler, 45, debütiert in Zürich als Siegmund und erzählt vom Weg dorthin

Es gibt die einen, deren Eltern auch schon Sänger oder Musikerinnen waren oder klassische Musik als Bildungshintergrund hatten. Und es gibt die anderen. John Daszak, Arbeitersohn aus Manchester. Serena Farnocchia, Tochter eines toskanischen Ambulanzfahrers. Piotr Beczała, Sohn eines Textilarbeiters und einer Näherin in einer polnischen Kleinstadt. Vivica Genaux, Tochter eines Chemikers in Alaska. Georg Nigl, Sohn eines Wiener Schneidermeisters. Lise Davidsen, Tochter eines norwegischen Elektrikers und einer Krankenpflegerin. Sie alle zählen zu den Solistinnen und Solisten der Oper Zürich, viele sind Weltstars.

Und nun wartet am Künstlereingang ein 45-Jähriger auf mich, der bis zu seinem fünfzehnten Lebenjahr nicht mal wusste, dass es so etwas wie Oper gibt. Eric Cutler hat die Statur eines Bodyguards, aber so, wie er sich im Café hinsetzt und spricht, klar und eher leise, hat er etwas von einem grossen Jungen, der sich selbst noch wundert über seinen Weg aus Iowa in die Welt der Oper, in der er als lyrischer Tenor Karriere machte und Europas Bühnen eroberte, dann ins dramatische Fach wechselte, voriges Jahr als Erik in Bayreuth einschlug und nun in Zürich als Siegmund doppelt debütiert – in der Rolle und am Haus.

«Der Anfang war einfach Zufall», sagt er. Eric und seine Schwester wuchsen auf im 3000-Einwohner-Örtchen Adel, dreissig Meilen westlich von Des Moines, Hauptstadt des US-Bundesstaats Iowa. Die Mutter arbeitete in einer Firma für Glasfaserkabel, der Vater als Metzger – «ganz normale Typen» –, als er sich mit einem Austauschschüler aus Mexiko befreundete. «Sein Vater war Tenor, und er hat all diese Platten mitgebracht. Wir hörten eine, und das war so ein Moment, den ich nie vergessen werde. Ich habe ihn angeguckt und gesagt: Was ist DAS denn?» «Das ist Oper.» Es war Luciano Pavarotti, der «E lucevan le stelle» aus Puccinis Tosca sang. Bis dahin kannte Eric nur Pop und Rock. «Für mich war sofort klar, ich muss mehr hören.» Er besorgte sich Nachschub aus der Bibliothek in Des Moines, und bald wurde es ernst mit der «love affair», wie er seine Opernliebe nennt. Er machte sich vertraut mit dem Gesang grosser Tenöre wie Pavarotti, Björling, Gedda, di Stefano, Wunderlich. Er zog nach Decorah im Norden von Iowa, wo das Luther College bekannt für gute Chorarbeit war. Eric bekam dort Gesangsunterricht, und er lernte schnell. Es gab auch kleine Opernproduktionen, ohne Orchester. «Wir haben L’elisir d’amore gemacht, ich den Nemorino, und danach ging es zur MET».

Moment mal. Was hat eigentlich diesen Flash begleitet, dieses «ich muss mehr hören»? War etwas Abenteuerliches dabei? «Ich hoffe, dass es nicht komisch klingt», sagt Eric, auf dessen Wunsch wir Deutsch sprechen, «aber das war etwas, das schon in mir drin war. Als hätte ich das schon immer gekannt. Ich kann das nicht anders beschreiben.» Mit diesem Gefühl muss er 1998 auch an der MET vorgesungen haben für das Young Artist Development Program. Der 22-Jährige aus der Provinz, mit so gut wie keiner Solistenerfahrung, gewann einen Wettbewerb, 10.000 Dollar und eine dreijährige Ausbildung am Haus.

Haben seine Eltern diesen Weg unterstützt? «Für meine Mutter war es immer schwer zu verstehen. Oper ist nicht ihre Welt, bis heute. Am Anfang sagte sie, was ist das denn? Kannst du damit Geld verdienen? Aber dann gewann ich diese 10.000 Dollar, okay, da war sie an Bord.» Und Eric Cutler, aus dem Mittleren Westen nach Manhattan katapultiert, lernte die Welt der Oper direkt auf deren amerikanischem Olymp kennen. Der 92-jährige Hauskorrepetitor Walter Taussig, Emigrant aus Wien, der schon die Callas gecoacht hatte, hämmerte ihm die erste kleine Partie ein, mit der er unter James Levine auftreten durfte: Scaramuccio in Strauss’ Ariadne. Danach war Eric bereit für die Welt. Seine Stimme schien wie geschaffen für die Opern des Belcanto, beweglich und schlank, vor allem mit Mozart fiel er auf, bald auch jenseits des Atlantik.

Und als Tamino in der Zauberflöte fiel er 2006 in Edinburgh der Liebe seines Lebens in die Arme: Die Pamina wurde von Julia Kleiter gesungen, der Eric zwei Jahre später nach Deutschland folgte (im Gegensatz zu ihm ist sie in einem Gärkessel der Sangeskunst aufgewachsen, der Chorstadt Limburg). Als er beschloss, das Stimmfach zu wechseln, war das erste Kind der beiden schon drei Jahre alt. Und warum wollte ein erfolgreicher lyrischer Tenor ins «schwere» Fach gehen, zu Wagner? Nach all den Taminos und Ottavios, den Edgardos und Alfredos, den Romeos und Fausts, dem Raoul der Hugenotten, dem Don José der Carmen?

«Es wurde unangenehm in dieser Belcantolage, als ich Mitte dreissig war. Ich konnte all die Partien singen, aber wie ich das tat, war falsch. Mein Kehlkopf war oben, alles war oben. Es gibt bei jedem Sänger, der länger auf der Bühne steht, eine Krise, dies war meine. Ich ging zu einem Gesangslehrer in New York, Michael Paul. Er sagte, du bist ein Heldentenor, kein lyrischer. Ich hielt das für einen Witz. Aber ich bin 1,94 Meter gross, und ich hatte nie mit meinem ganzen Körper gesungen. Ich habe für fast ein Jahr alles abgesagt und bei ihm studiert, zuerst ein paar Wochen in New York und dann über Facetime und alle verfügbaren Medien.» Bis heute ist Michael Paul sein vokaler Mentor.

Das bringt mich auf Stephen Gould, den amerikanischen Heldentenor, der etwa im selben Alter dieses Fach für sich entdeckte, fünfzehn Jahre früher. «Ja, aber er ist einer der Tenöre, die von unten kommen, vom Bariton her. Für mich passen eher Tenöre wie Peter Seiffert oder Gösta Winbergh als Vorbilder. Sie haben all die Mozartpartien gesungen, viel Belcanto, ehe sie Heldentenöre wurden. Wir können nicht so eingedunkelt singen. Man muss seiner Stimme immer treu bleiben. Und es dauert lange, sie zu entwickeln, das ist wie mit Wein.» Da ist es gut, dass Wagners Welt Tenorpartien unterschiedlicher Wucht bereithält – mit Siegfried einzusteigen wäre ein aussichtsreicher Suizidversuch.

cutler eric idomeneo

Eric Cutler begann seinen neuen Weg zu Wagner vor vier Jahren mit Lohengrin in Brüssel. Und seit einem Jahr erlebt das Bayreuther Publikum einen Eric als Erik im Holländer, der endlich mal gefährlich ist und stark genug, um eine Dreiecksgeschichte zu tragen. Den kann nicht mal eine Ohrfeige von Asmik Grigorian als Senta zum Schwanken bringen. Von Sieglinde muss der Siegmund in der Walküre so etwas nicht befürchten. Doch eine grössere Herausforderung ist die Partie nicht nur wegen des «Wälse»-Rufs, dem beliebig ausdehnbaren Ges und G, mit dem Wotans unehelicher Sohn nach seinem Vater ruft. Den hat Eric Cutler auch seiner Frau vorgesungen, sie coachen einander gegenseitig. «Es gibt viele Sängerpaare, die das nicht machen, aber wir sind ein Team. Oper und Musik und Theater und die Kinder, alles gehört dazu.»

Einfach ist das nicht, denn mitunter sind beide Sänger zugleich unterwegs. Dann kümmern sich Erics Schwiegereltern um den Zwölfjährigen und die Neunjährige. Und manche Engagements müssen sich die Eltern verkneifen, mal er, mal sie. «Ein Monat Daddyzeit ist ein Geschenk», meint Eric. «Dann habe ich eine Riesenchance, ihnen Englisch beizubringen.» Seufzend erzähle ich von der norddeutschen Provinz, wo so ein Modell exotisch sei, weil es immer noch üblich ist, dass Ehefrauen höchstens halbtags arbeiten. Er tröstet mich: «In Hessen auch.»

Abends sehe ich ihn wieder, immer noch in Jeans und schwarzem T-Shirt, aber im strahlend weissen Interieur des ersten Aufzugs der Zürcher Walküre. Da vibriert schon etwas zwischen Siegmund und Sieglinde, und deren Ehemann Hunding wirkt aggressiv. Nicht aber der Flüchtling in seinem Haus. Da steht und geht, Orientierung suchend, ein Siegmund, der zwar nichts fürchtet, aber nicht ahnt, welche Kraft ihm noch zuwachsen wird. Man könnte an einen grossen Kerl aus Iowa denken. Wenn da nicht diese Stimme wäre, die mehr weiss und schon ganz andere Bögen spannt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 95 der Oper Zürich, September 2022, sowie online (dort findet man übrigens auch eine hinreißende Playmobilversion der Walküre aus der Reihe “Sommers Oper to go”). Das Foto zeigt Eric Cutler in der Titelrolle von Mozarts Idomeneo 2019 am Teatro Real de Madrid.