Kategorie-Archiv: Begegnungen

Harte Schule

1. Dezember 2015: Ein Treffen mit dem Dirigenten Gabriel Feltz während der Proben zu Wolfgang Rihms „Hamletmaschine“ in Zürich

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Er hat das ja alles mitgekriegt, hautnah. Und alles war wieder da, als er diese Szene las: „Ich bin der Soldat im Panzerturm“, dazu jäh aufschwellendes Massengebrüll im Radio, und knappes Trommeln, wie Schüsse, Schläge. „Es war der 7. Oktober 89, ich kam vom Geburtstag meiner Schwester, die hat damals im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg gewohnt. Die Straßenbahn fuhr an dem Tag nicht, da merkte man schon, irgendwas stimmt nicht“, sagt Gabriel Feltz. „Ich kam auf eine große Kreuzung, und da lagen lauter einzelne Schuhe herum. Da war gerade eine Demonstration auseinandergeknüppelt worden.“ Am Rand standen noch die Sicherheitskräfte, bewaffnet, vor ihren gepanzerten LKWs.

Der Untergang der DDR, in der Feltz groß wurde, liegt 26 Jahre zurück, aber dieser Tag, an dem noch alles auf Messers Schneide stand, war mit der Hamletmaschine sofort wieder da, mit der Partitur, der Gewalttätigkeit darin, den vier Radios, aus denen die Masse faucht. Eine Woche, ehe er mit den Orchesterproben für dieses Stück in Zürich beginnt, treffen wir uns in Dortmund. Vom Theater inmitten der Stadt, in dem er Generalmusikdirektor ist, will er gleich in ein Lokal. Er hat Hunger und erledigt gern zweierlei zugleich, jetzt also Buletten und Interview, der Lärm im Laden stört ihn nicht, und seine Stimme ist dem mühelos gewachsen. Markant, tiefer Bariton.

Ein Machertyp ist der 44jährige, aber keiner, der sich die Welt zurechtsortiert hat. Auch der 18-jährige ist immer noch da, der fassungslos auf die Schuhe blickt, sich irgendwann wohl auch fragt, in was für einer Welt er Kapellmeister sein wird. Denn das wusste er sicher, schon früh, dass er das sein würde. Der da jetzt in Dortmund im Lärm sitzt, ist gut gelaunt und geerdet, macht sich aber viele Gedanken. Er sieht das Musiktheater Hamletmaschine, 1986 von Wolfgang Rihm vollendet, als „gesellschaftliches Spiegelbild“ mit aktuellem Potential. „Es hat ein extrem destruktives Element in dieser Aggressivität, klanglich, sprachlich, in dieser fragmentarischen Art und Weise.“

Das macht ihm aber auch zu schaffen. Gabriel Feltz ist Praktiker und keiner, der den Leuten aus Prinzip etwas um die Ohren haut. „Zürich ist kein Haus mit unbegrenzter Platzkapazität. Wir werden das Schlagzeug mit 30 verschiedenen Instrumenten in die Logen packen müssen, und wenn die Leute da das Maximum spielten, würde der Schalldruck sie künstlerisch töten. Also hoffe ich, dass ich dem Stück eine leichtere Komponente abgewinnen kann. Andererseits kann ich den Musikern mit schweren Eisenplatten und Vorschlaghämmern nicht sagen, benutzt die mal leiser.“

Den Umgang mit Orchester und Sängern hat Feltz von der Pike auf gelernt. Sein Vater, der Musikpädagoge Eberhard Feltz, hat den Fünfjährigen „zum Geigenspiel getriezt“ und dem Heranwachsenden von Wagner abgeraten. Logische Folge, dass Gabriel kein Geiger wurde und Wagner als „Genius“ verehrt. Zuerst kam aber Beethoven: „Mit acht Jahren hatte ich die Fünfte drin im Kopf und wie Furtwängler sie dirigierte, mit vierzehn hab ich in eine Taschenpartitur von Mahlers Dritter, für fünf Ostmark, schon reingeschrieben, was ich wie schlagen wollte, auch die Ritardandi. Als ich die Sinfonie zwanzig Jahre später aufnahm, habe ich manche dieser Sachen ganz genauso gemacht.“

Das klingt geradliniger, als es für den Studenten an der Hochschule für Musik Hanns Eisler nach dem Mauerfall zunächst lief. Er studierte da im selben Semester wie Sebastian Baumgarten, der Regisseur der Züricher Hamletmaschine. Ein Stipendium als Assistent an der Hamburgischen Staatsoper galt seinen Kommilitonen zwar als „glamourös“, bedeutete aber: „Mit wenig Geld in Hamburg klarkommen und alles machen. Korrepetition, szenische Proben, Vorsingen. Mit 23 können Sie gar nicht alle Stücke. Sie spielen vom Blatt, stochern rum, werden angebrüllt, wenn es nicht stimmt, und haben keine Zeit, sich einen Discount zu suchen, wo Sie billig einkaufen können. Harte Schule.“

Es folgte die sogenannte Ochsentour. Gastdirigenten nach Vorstellungen anquatschen, auf Stellensuche, mit schwangerer Frau. Erste Posten in Lübeck, Bremen, Gera / Altenburg. In Bremen dann dirigierte er ein Großwerk der Moderne: Luigi Nonos Intolleranza, von Johan Kresnik inszeniert. Auf die 147 Proben für seine preisgekrönte Einspielung des Werkes ist Feltz immer noch stolz, auch auf die zehn Jahre bei den Stuttgarter Philharmonikern, wo er mit gewagten Programmen das Publikum vergrößerte. In Dortmund muss er es mit neuen Klängen vorsichtiger angehen lassen, aber: „Wir sind als Dirigenten schrecklich museale Dinosaurier, wenn wir nicht moderne Musik dirigieren!“ Die misst er indessen auch an den alten Meistern.

Gerade darum beeindruckt ihn die Partitur des seinerzeit 35jährigen Wolfgang Rihm, auch wenn ihm ihre Eruptionen Kopfzerbrechen machen. „Die Behandlung der Streicher ist singulär. Man hat als Dirigent nach 25 Jahren eine gewisse Überheblichkeit und denkt, ich hab´alles gesehen, was Streicher können. Wie Wagner sie am Ende der Walküre teilt, wie Mahler es hier und Strauss dort tat. Und wenn dann jemand kommt und den Mut hat, substantiell Neues zu machen, und das kann – das hat schon eine besondere Qualität.“ Doch der erste Blick auf eine unbekannte Partitur ist bei ihm gar nicht so ein handwerklicher. „Ich gehe erstmal nur nach der Optik, so etwas kann ich nicht gleich innerlich hören.“

Er blättert also in der Partitur. Stellt zuerst fest: Handschrift. Das ist schlecht, weil Gedrucktes leichter zu entziffern ist und er sich die Spitzennoten mit Bleistift noch mal oben reinschreiben muss, damit es in den Proben zügig geht. Aber die Handschrift hilft auch, weil er hier „die Person Rihm“ erkennt: „Sehr klar, dominant, beherrschend im positiven Sinn, geerdet, das ist schon beeindruckend.“ An Mahler erinnern ihn Rihms penible Anweisungen, die bis zur Lichtregie gehen. Dann sucht er in den Noten, „was mein Herz und meinen Bauch bedient und gar nicht meinen Kopf!“ In die Aufnahme der Uraufführung hat er nur kurz reingehört. „Ich erschließe mir das lieber selbst.“

Dann strukturiert er. „Die Phrasen hängen eventuell so zusammen und so, da sind es vier plus vier Takte, da drei plus drei… das ist hilfreich, um der DNA des Stückes nahezukommen.“ Bei Mozart macht er das genauso. „Wie in der Reprise von KV 551 acht Takte eingefügt sind, die sowas von elementar toll sind – da sage ich dem Orchester, vergleichen Sie die Stellen, den Unterschied möchte ich hören!“ Für das Strukturieren hat er bei der Hamletmaschine vier Wochen gebraucht, „dann verdichtete sich so langsam, wie man was schlagen könnte.“ Das sei hier aber einfacher als in Zimmermanns Soldaten, die er an der Komischen Oper in Berlin dirigierte, in der umjubelten Produktion aus Zürich.

Mittlerweile ist Gabriel Feltz in Rihms Partitur auf der Suche, „wo ich Momente der Stille installieren kann, Schattierungen, Nachdenklichkeit.“ Ihn fasziniert, was Rihm „terrassenartige Stilwechsel“ nennt. Vom schlagenden Anfang zum ersten Händelfragment, dann zum Scherzo, später eine danse macabre, „in der es um den täglichen Mord geht. Die Schnelligkeit und die Form der Dissonanzen bewirken einen gewissen groove, also eigentlich muss das doch ein bisschen witzig sein, ja?“ Die vier Radios allerdings sind nicht witzig. Feltz imitiert im  Gaststättenlärm, wie da das Volksgebrüll herausfaucht. Unberechenbar. Noch etwas fällt ihm ein bei dieser Szene. „Das berühmte Bild aus Peking, wo dieser eine chinesische Student vor einer Kolonne von T 54 Panzern steht und sie zum Stoppen bringt. Das hat mich unendlich beeindruckt, bis heute.“ Feltz sagt nicht, für wie politisch und wirksam er Kunst neben solchen Ereignissen hält. Vielleicht genügt es, dass die in seinem Kopf sind, wenn er die Hamletmaschine in die Gegenwart steuert, in der Hoffnung, „dass wir die Leute erreichen.“ Aber jetzt muss er erstmal die Sache mit den Trillerpfeifen klären. Die sind dem Chor nämlich zu schrill.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 35 der Oper Zürich, Dezember 2015. Eine Interviewfassung des Gesprächs ging am 21. Januar 2016 bei VAN online. Foto: Gabi Mladenovic, Concerti

 

“Das war wohl vor Ihrer Zeit, junger Mann…“

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Eine sommerliche Begegnung mit Bianca Castafiore, der neben Maria Callas wohl berühmtesten Sopranistin des 20. Jahrhunderts

Es gibt keine Klingel, eine Überwachungskamera sehe ich auch nicht. Alte, hohe Bäume rechts und links in der Sonne, hinten das Schloss, wie man es von vielen Bildern kennt. Siebzehntes Jahrhundert, zwei Flügel, verbunden durch den turmartigen Mittelbau… Als ich die Stufen hochsteige, öffnet sich das Portal, und kurz rechne ich damit, dass mir gleich Nestor gegenübersteht, der Butler mit der gestreiften Weste. Es ist aber eine Dame im schlichten beigen Kostüm, die Haare hochgesteckt, ein bisschen an Simone de Beauvoir erinnernd. „Bonjour, Sie wollen zu Madame …“, sagt sie, ohne sich vorzustellen, und geht mir voran in die Eingangshalle. Vor der Marmortreppe biegt sie nach links ab.

Ein sonniger Saal, Porträts, Skulpturen, ockerfarbene Wände, Sessel mit orangefarbenen Polstern. „Ich sage Madame, dass Sie da sind. Sie können sich in der Zwischenzeit ja ein paar Fragen überlegen“, sagt sie trocken. Als könne es jemand wagen, sich nicht gründlich auf eine Begegnung mit Bianca Castafiore vorzubereiten, neben Maria Callas die berühmteste Sopranistin des 20. Jahrhunderts, knapp 30 Jahre vor ihr geboren. Ein Asteroid heißt nach ihr, ein Platz in Amsterdam, sie wurde in Bühnenwerken, TV-Serien, einem Film von Spielberg gewürdigt. Sie hat ihre Kollegin inzwischen um 48 Jahre überlebt. „No questions concerning her age“, hat mir ihre Londoner Agentin eingeschärft.

„Bienvenue, benvenuto a Moulinsart!“ Der ganze Saal ändert sofort sein Gravitationsfeld. Sie ist etwas kleiner, als ich erwartet hatte, spricht auch tiefer, mindestens eine Dezime unterhalb ihrer Singstimme, und sieht jünger aus – auch wenn mir schon klar war, dass man ihr die 130 Jahre nicht ansehen würde. Sagen wir, so um die fünfzig, in einem Sommerkleid aus den 1960ern, vielleicht eine Idee zu tailliert geschnitten für diese Figur, aber so eine Frau macht sich ja alles passend. Schwarzer Stoff, mit weißen Rosen und violetten Blättern bedruckt. Natürlich weiße Rosen! „Castafiore“ heißt keusche Blume. Sie ist derartig präsent, dass sie das Bild verblassen lässt, das ich in mir trage, aus den acht Bänden Tim und Struppi, in denen sie vorkommt. Aber es passt schon. Die Adlernase, das ondulierte Blond, das auf dem Dekolletée ruhende Amulett…

Sie steuert gleich auf das barocke Porträt über drei Dreimastermodellen zu, Frantz Ritter von Hadoque, um 1670. „Karpock, wie er leibt und lebt, finden Sie nicht, Herr…“ Ich murmele meinen Namen, ehe ich frage: „Wie haben Sie ihn denn kennengelernt? Ich meine, den Kapitän, nicht seinen Vorfahren.“ „Nun ja, sein Vorfahr, der…“ , sie lacht kurz. „Zuerst hörte Harrock mich, wie ich später erfuhr. Das muss 1944 in Brüssel gewesen sein. Er verglich meine Stimme mit einem Hurrikan. Charmant, nicht wahr?“ Sie sagt das ohne Ironie, fast gerührt, als habe Haddock auf ihren Gesang nicht jederzeit mit Fluchtreflexen reagiert. Auf jene Juwelenarie aus dem <em>Faust</em> von Gounod, die sie… „Wissen Sie noch, Signora, wann Sie diese Arie zum ersten Mal sangen?“ Sie hat in einem Sessel Platz genommen, nun darf auch ich mich setzen, an ein Marmortischchen.

„Dopo la prima guerra mondiale, a Piacenza“. Sie wechselt wieder in ihr erstaunlich gutes Englisch. „It was my debut in that century…1921.“ „Darf ich fragen, wie sie dorthin kamen? Wie kamen sie überhaupt zur Musik?“ „Wissen Sie, das mich das noch keiner gefragt hat? Aber erwarten Sie nichts Aufregendes, junger Mann!“ Ein Städtchen in Südtitalien, einfache Verhältnisse, die bande musicale, die Amateurblasorchester, die oft auch beliebte Nummern aus Verdis Opern spielen. Ein kleines Mädchen, das davon berührt ist, dann im Kirchenchor singt, ein Lehrer, dem die Stimme des Mädchens auffällt, der erste Ausflug nach Napoli, Teatro San Carlo… Es wird doch eine längere Geschichte.

„Madame?“ Die Dame im beigen Kostüm schaut herein. Die vereinbarte Stunde sei um, sagt sie mir. “Non, non, Irma, ça va”, sagt die Signora. „Bringen Sie uns einen Tee.“ Ob Irma immer noch die Irma ist, die ich als Zofe Luise aus den Comics kenne? Dann hätte sie sich sehr geändert. Nach dem Debüt an der Scala brauche ich die Sängerin gar nicht erst zu fragen. 1926, Liù in Puccinis <em>Turandot</em>, eingesprungen für Maria Zamboni, „sie sang die Uraufführung, wie Sie sicher wissen. Toscanini hat uns auf Händen getragen! Welcher Dirigent tut das heute noch?“ Von da an war Bianca Castafiore im italienischen Fach so gefragt wie für die französische Oper. Und was blieb davon übrig im Comic? Immer nur die Juwelenarie, auch im Radio. Aus Röhrenempfängern und Transistorradios, 1939 in Watisdah, 1958 in Tibet, im Zelt der Sherpas. „Die Castafiore! Hier? Potzblitz! Will sie uns überallhin verfolgen?“

Irma erscheint, um das Teegeschirr abzuräumen, und tippt auf ihre Armbanduhr, die Signora hebt begütigend die Hand und stimmt ein Liedchen an. „La pendule fait tic-tac tic-tic“, schnelle Noten, kein bisschen schrill, mezzopiano, „les oiseaux du lac pic-pac pic-pic“, ein Chanson, „kennen Sie es?“ „Um ehrlich zu sein…“ „Mais boum, quand notre cœur fait boum, le monde entier fait boum… das war wohl vor Ihrer Zeit, junger Mann.“ Jetzt singt sie dieselbe Weise mit anderem Text. „Boum, quand vot´moteur fait boum…“ „Macht dein Auto Bumm!“, entfährt es mir.<em> Im Reiche des Schwarzen Goldes</em>! Da hört man es im Radio, wie dann natürlich auch „Mich zu sehn, so schön…“. Nun gibt sie mir Nachhilfe. Man habe <a href=”https://www.youtube.com/watch?v=yLBFeoikELo”>diesem Chanson</a> 1938 gar nicht ausweichen können in Frankreich und Belgien, „ein Liebeslied von Charles Trenet, aber Sie können sich denken… ,Die ganze Welt macht bumm‘, in dieser Lage! Wir hatten alle Angst vor dem Krieg. Und als er begonnen hatte, der Krieg, erschien diese Tintin-Geschichte, in Fortsetzungen.“ Sie kennt das also alles bestens.

Dann weiß sie auch, welche Bestürzung ihr Gesang nicht nur beim Kapitän auslöste, der ihr gleichwohl dieses Schloss für immer überlassen hat. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt sie: „Monsieur Hergé musste ja vieles ändern. Natürlich hat mich mein guter Kapitän Bartock auch mit Verdi und Puccini gehört. Er reiste mir nach! Und natürlich habe ich nie in Szohôd gesungen, das es nicht gibt…“ „Oberst Sponsz!“ „Jaja… das war in… einer anderen Diktatur.“ „Aber, wenn ich das so sagen darf, Berührungsängste hatten Sie nie, politisch?“ „Nein, das dürfen Sie nicht so sagen“, sagt Irma, die wie auf ein Stichwort hin wieder erschienen ist. „Madame hat die Nähe zu den Mächtigen oft genutzt, um deren Widersachern zu helfen. Sie wurde sogar einmal inhaftiert.“ Das war 1976, in San Theodoros. Sie kam frei. Aber danach trat sie nie wieder auf.

Bianca Castafiore blickt lächelnd vor sich hin, fast bewegungslos, wie zum Bild erstarrt, die Hände mit Ringsteinen in vier Farben über dem Schoß gefaltet, während Irma fortfährt: „Sie ist in diesen bandes dessinées nicht zufällig zu einer Zeit aufgetaucht, in der die Frauen begannen, ihre Stimme zu erheben. Der Preis dafür war, dass diese Stimme…“ „Boum, le monde entier fait boum“, singt die Diva da erneut, versonnen, leise, bricht ab und erklärt: „Eine gute technische Basis ist alles. Damit kann eine Sängerin sehr alt werden.“ Ich hatte sie noch nach der Oper <em>Die Sache Makropulos</em> fragen wollen, in der die Sängerin Emilia Marty mithilfe eines Elixiers dreihundert Jahre alt wird. Aber ich bin sicher, dass die Castafiore mit Janáček nichts anfangen kann, zuwenig bel canto…

Mir ist ein bisschen schwindlig, als ich das schöne Schloss verlasse, am späten Nachmittag. Und im Zug nach Brüssel frage ich mich, ob mir vielleicht ein paar Dinge durcheinandergeraten sind, Dichtung und Wahrheit, Comics und Musik, feministische Essays, die zweiunddreißig Sopranistinnen, die ich schon für die Oper Zürich traf. Aber die Dreiunddreißigste – schlägt nicht gerade in ihr das Herz der Oper? Alles ist dort möglich, und nie vergeht die Zeit, das sonderbar´ Ding. Ja, nach der Marschallin hätte ich sie auch noch fragen können…

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Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien als letzter Beitrag der Reihe Volker Hagedorn trifft… im MAG 123, Mai 2025, der letzten Ausgabe des Magazins der Oper Zürich zum Ende der dreizehnjährigen Intendanz von Andreas Homoki. Das Foto versammelt jene neun Bände der Comicreihe Tim und Struppi, in denen Bianca Castafiore auftritt, gehört oder erwähnt wird, in chronologischer Folge von 1939 (Vorabdruck von König Ottokars Szepter) bis 1976.

“It was always dancing. Didn’t matter how.”

Nancy Osbaldeston erzählt, wie sie aus Südengland über Manchester, London und Antwerpen ans Ballett der Oper Zürich kam. Und warum Spitzenschuhe auch gut für die Avantgarde sind.

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Für ein Städtchen von nur 3500 Einwohnern hat Cuckfield, den Kuckuck im Wappen tragend und sechs englische Meilen von der Kanalküste entfernt, erstaunlich viele «notable people» zu verzeichnen. Romanciers, Theologen, Schauspieler, Wissenschaftler, Sportler. Der Jüngste auf der Liste ist ein Cricketspieler, die Zweitjüngste eine Tänzerin. Die kam hier zur Welt und in einen Kindergarten, in dem sich jeden Freitag eine Ballettlehrerin einfand. Nancy, erklärte sie den Eltern der Dreijährigen, sei das einzige Kind, das wirklich exakt im Takt der Musik hüpfe. Was sie davon hielten, wenn sie Unterricht bekäme? «I think I loved it from the beginning», sagt Nancy Osbaldeston, seit dem vergangenen August Erste Solistin im Ballett Zürich.

Wir sitzen in einem kleinen Garderobenraum des Opernhauses, der weder an Südengland denken lässt noch ans Ballett, wenn man mal vom Klavier absieht und den Spiegeln, die in Nancys Metier keine geringe Rolle spielen, und ich prüfe besorgt die Distanz zwischen Aufnahmegerät und Tänzerin. Was nämlich in ihrem Metier gar nicht gebraucht wird, ist eine laute Stimme, wobei immerhin, wie ich noch lernen werde, längst auch Tänzerinnen auf der Bühne Töne, Worte, Geräusche von sich geben dürfen. Ein einziges Mal wird Nancy Osbaldeston laut in dieser Stunde, aber Worte verwendet sie dabei nicht.

Jetzt brauche ich erstmal Nachhilfeunterricht in Sachen Tanz, und den erteilt sie mit leiser Stimme und in hohem Tempo. Sie hat viel zu sagen, zuallererst über William Forsythe, den legendären amerikanischen Choreografen, in dessen In the middle, somewhat elevated Nancy ein grosses Solo hat. «Es ist ein ikonischer Klassiker, ein Traum für Tänzer, ich liebe es. So lange her, 1987, und immer noch so gut. Er hat eigentlich kein Thema. Es ist einfach nur Tanz, purer Tanz, dancing at hardest: Wie weit kann man gehen?» «Ist das das Gegenteil eines Handlungsballetts?» «Ja und nein. Selbst wenn ein Stück keine Story hat, findest du manchmal eine, Beziehungen, Verbindungen. Schon wenn sich zwei Personen die Hände reichen, ist da eine Art Dynamik.»

Es komme auch darauf an, mit wem sie tanzt. Mit dem einen Partner könne etwas anderes entstehen als am nächsten Abend mit dem anderen. «Very minimally, but I ’ll feel the difference, ich weiß nicht, ob es dem Publikum auch so geht, wahrscheinlich ja. Und selbst mit nur einer Person kann eine Geschichte entstehen, je nachdem, wie ich einen Rhythmus interpretiere oder bestimmte Dinge akzentuiere. Vielleicht kommt da die Geschichte meiner Persönlichkeit zum Vorschein?» Sie lacht. Es wäre die Geschichte einer ziemlich entschlossenen Persönlichkeit, für die es nie einen Plan B gab. «It was always dancing. Didn’t matter how.» In Manchester, wohin die Familie zog, als Nancy fünf Jahre alt war, tanzte sie in der Schule und lernte auf Wochenendkursen, mit sechzehn bewarb sie sich an verschiedenen Tanzschulen, wobei klassisches Ballett nur eine von vielen Optionen war. «Ich wollte nur tanzen, egal was und wo, es hätte auch auf einem Kreuzfahrtschiff sein können!»

Es wurde aber die English National Ballet School in London, und nach drei Jahren dort wurde Nancy am English National Ballet engagiert. Aus ihrer Zeit dort habe ich ein Interview gefunden. «Was habe ich gesagt? Wer war ich da?» Sie war 24 Jahre alt, als man sie fragte, wie sie sich die Zeit nach dem Tanzen vorstelle. «Ich höre nicht auf», sagte sie damals. «Ich eröffne eine Compagnie für alte Tanzpensionäre, damit ich noch auftreten kann, wenn ich Großmutter bin.» Sie lacht, die Idee gefällt ihr immer noch. «Ich weiß, dass ich immer tanzen werde, ob das nun gut aussieht oder nicht.» Schon 2013 sah es so gut aus, dass Nancy den Emerging Dancer Award bekam; ein Jahr später wechselte sie zum Opera Ballet Vlaanderen nach Antwerpen, um dort acht Jahre zu bleiben.

Dem Lockdown verdankt man ihre erste größere choreografische Arbeit. Libertango zur Musik von Astor Piazzolla ging online und beeindruckte auch die Süddeutsche Zeitung: «Der Mix wird auch Tango-Aficionados überzeugen, die zunächst geneigt sind, den gemeinsamen Auftritt von Spitzenschuh und Bandoneon für Ketzerei zu halten», schrieb Dorion Weickmann. Nancy meint, es sei einfach, Piazzolla zu choreografieren: «Diese Musik bittet uns geradezu, sie zu tanzen!» Das geht ihr nicht mit jeder Musik so. «Ich bin kein massiver Fan dieser Avantgardesorte von…» Es folgt ein verblüffend lautes Miauen, dann fährt sie dezent fort: «Aber man kann sich auch da hineinbewegen.» Auch auf Spitzenschuhen, die für Nancy keineswegs Attribute von gestern sind.

Das klassische Ballett, ohne «pointe shoes» nicht denkbar, ist ihre Basis. «Ich hatte auch mal Gesangsstunden und vergleiche es damit. Wenn du Singen in Richtung Oper und Klassik trainiert hast, kannst du in alle Richtungen gehen, bis zum Jazz. Wenn du die Regeln kennst, kannst du sie brechen. Je mehr man kennt, desto mehr kann man verbinden. Ich kann mit verschiedenen Körperlichkeiten, physicalities, spielen, mit verschiedenen Stilen, sie wie aus einer Werkzeugkiste nehmen… Es gibt zum Beispiel so viele Arten, die Arme zu bewegen!» Sie wirft sich in eine Angeberpose, die Arme angewinkelt, die Fäuste geballt. «Aber es geht nicht nur um Posen, Formen, Haltungen, es geht darum, wie man durch sie hindurchfließt, das muss man auch lernen. Wie ein Tänzer zu einer bestimmten Haltung hinkommt und was ihr folgt, ist wichtig!» Das gilt für alle Arten von Tanz, und natürlich tanzt Nancy auch ohne Spitzenschuhe, wenn es gefragt ist – und an manchen Abenden auch mit und ohne, wie in der neuen Produktion Countertime. «Es ist genau umgekehrt wie in Autographs, wo wir die Spitzenschuhe am Schluss einsetzen, bei Forsythe. Jetzt beginnen wir ziemlich klassisch mit MacMillan und brechen das dann auf.»

Was hinter so einer Aufführung steht, ist einer der härtesten Jobs, die es in der Theaterwelt gibt. Jeden Vormittag wird trainiert, «wir müssen immer in Topform sein». Dieser «class» folgen sechs Stunden Proben mit einer Stunde Pause dazwischen, sofern keine Aufführung ansteht – und selbst der Tag nach einer Aufführung hat so ein volles Programm. «Das ist schon ziemlich hart», meint Nancy, «es geht nur, wenn man diesen Job liebt. Man muss ihn sehr lieben. In einem schon nicht mehr vernünftigen Maß…» Der Auftritt selbst ist dann erst recht beglückend. «Keine Unterbrechung mehr, keine Wiederholung! The show is just…», sie klatscht in die Hände, «one time! Now or never!»

Der harte Job, die strenge Hierarchie in der Gruppe ist auch mit viel Solidarität verbunden. «Ich bin ja ein bisschen älter», sagt die 35-Jährige ohne Koketterie, «und helfe den anderen gern. Aber jeder braucht Hilfe. Ich habe die hässliche Angewohnheit, dass ich dauernd in den Spiegel gucke, wenn ich tanze. Das hilft oft gar nicht, auf der Bühne gibt es ja keinen Spiegel. Es sieht auch komisch aus, den Kopf beim Tanzen so zu verdrehen. Wir brauchen immer jemanden, der uns beobachtet, ein zweites Auge.» Dabei helfen ihr auch Kolleginnen und Kollegen, die sie schon aus Antwerpen und London kennt: Ruka Nakagawa, Shelby Williams, Esteban Berlanga, Charles-Louis Yoshiyama. «It’s a small world…»

Ja, und dann ist da ihre Tochter. Sie kam vor drei Jahren in Belgien zur Welt, zog mit ihren Eltern für zwei Jahre nach Toulouse und schliesslich mit ihnen nach Zürich. «Wenn ich nach Hause komme, holt sie meinen Geist komplett aus dem Arbeitsalltag heraus. Das ist sehr gesund. Manchmal fühle ich mich schuldig, weil ich so viel arbeite, aber das geht ja nicht ewig so. Ich hoffe, sie erinnert sich später nur an die guten Seiten.» Zum Beispiel an gestern, als die Dreijährige ein Kostüm anzog und zur Musik tanzte, die ihre Eltern anstellten. «Wie sie die Musik interpretiert… it’s natural,» sagt Nancy, «it’s so natural!»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 122 der Oper Zürich, April 2025 und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Der Ballettabend Countertime mit Choreographien von Kenneth MacMillan, Cathy Marston und Bryan Arias hat am 10. Mai 2025 Premiere. Foto: Oper Zürich