Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Mich reizen Figuren mit einer größeren Fallhöhe”

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Mojca Erdmann, Wahlschweizerin aus Hamburg, singt Kafka in Zürich. Dort erzählt sie (nicht nur) von ihrer Doppelrolle in Haubenstock-Ramatis selten gespielter Kafka-Oper “Amerika”

«Haben Sie mal die Noten gesehen?» «Nein.» «Ich hab’ sie mitgebracht.» Mojca Erdmann holt im Café den Klavierauszug aus ihrer Tasche. Sofort zur Sache, nach Amerika, mitten hinein in diese irre Montage aus den 1960ern, nach der von Buhs, Gelächter und Handgemengen umtosten Uraufführung in Berlin bislang nur zwei Mal produziert, eine Herausforderung ohnegleichen. «Was ist das eigentlich?», habe sie sich gefragt, als sie die Noten zum ersten Mal sah. «Ich habe viel neue Musik gemacht, aber so etwas ist mir noch nicht untergekommen.» Wir blättern im Klavierauszug. Auf manchen Seiten stehen keine Noten, man sieht grafische Gebilde, Linien und Schraffuren zwischen den Taktstrichen, auf anderen gibt es Notenlinien, mal nur drei, auf denen ungefähre Höhen für Sprechgesang notiert sind, denen jählings Töne auf fünf Linien folgen können, ganz präzis, vom b eine grosse Septime runter zum h… Um die zu treffen, ist ein absolutes Gehör hilfreich, wie Mojca Erdmann es hat, aber allein damit kommt man nicht hinein in ein Werk wie die Amerika­-Oper von Roman Haubenstock­-Ramati nach Kafka. «Ich habe erstmal den Roman gelesen», meint die Sopranistin, «und da ich in Zürich wohne, konnte ich mich mit Michael Richter treffen, dem Studienleiter des Opernhauses, und die Noten mit ihm durchgehen.» In Blau hat sie die Passagen markiert, die sie live singt, in Rot die, die von ihrer Stimme aufgenommen und zugespielt werden, die Figur Klara singt mit sich selbst. Uff. Und was sind das für Charaktere, Klara und Therese?

«Klara ist im Grunde eine reiche Tochter, verwöhnt, brutal, sehr narzisstisch, wirklich das Gegenteil von Therese. Die ist ein Hilfsmädchen im Hotel Occidental, sehr schüchtern, sie erzählt Karl Rossmann ihre ganze Lebensgeschichte. Es ist interessant, diese verschiedenen Frauen schauspielerisch herauszuarbeiten.» Mojca Erdmann selbst hat keine der Eigenschaften, die sie da schildert. Sie wirkt alles andere als selbstbezogen, ohne Diva-­Allüren, vollkommen arbeitsorientiert, freundliche warme Stimme. Und wenn sie, im Gegenteil, so zurückhaltend wäre wie Therese, könnte sie schwerlich längst auf eine Bühnenkarriere zurückblicken, die so reich an Wagnissen ist.

Denn tintenfrische Partien lebender Komponisten zu gestalten, ist auch dann ein Wagnis, wenn diese Künstler so etabliert sind wie Wolfgang Rihm und Aribert Reimann, die beide – und nicht als einzige – für sie geschrieben haben, von Liedern bis zu ganzen Opern. Rihms Proserpina wurde 2009 in Schwetzingen vor allem deswegen ein Erfolg, weil die damals 33­-Jährige die Rolle der in einer antikischen Ehehölle gefesselten Heldin mit grandioser Präsenz und Selbstverausgabung realisierte. Mit der Opernfantasie Dionysos setzten beide 2010 die Zusammenarbeit in Salzburg fort, es wurde die «Uraufführung des Jahres». «Es ist schon toll, wenn man mit den Komponisten sprechen kann», meint sie. «In Dionysos gab es wenige Stellen, wo ich Wolfgang fragte: Kann man hier was ändern? – Ja, schlag mir was vor … wunderbar, machen wir so.» Nun könnte man ja denken, kein Wunder bei einer Sopranistin, die selbst die Tochter eines Komponisten ist, Helmut W. Erdmann aus Emden.

«Nein, durch meinen Vater gab es gar nicht so viel Einfluss, betreffend neue Musik. Er ist auch Flötist, und wir mussten immer leise sein, wenn er Flöte übte…» Sie lacht. Wichtiger war, dass sie schon als Sechsjährige bei den Hamburger Alsterspatzen mitsang, im Kinderchor auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper stand und das Reisen lieben lernte. Der Chor trat in Spanien, Japan, den USA auf, «mit zehn habe ich im Disneyland gesungen. Aber Singen war für mich Spass, ich wollte Geige studieren.» Dann riet ein Musiklehrer der 14­-Jährigen wegen ihrer schönen Stimme, sie solle doch mal Unterricht nehmen, und so wurde sie Schülerin der damals 27-­jährigen Evelyn Herlitzius, die dann eine der grossen dramatischen Sopranistinnen wurde. «Ab da war mir klar, dass die Stimme mein Instrument ist.» Geige studierte Mojca Erdmann aber trotzdem neben dem Gesang, zur Sicherheit. «Ich wusste durch meinen Vater, dass es nicht einfach ist, als Musiker zu überleben. Geige spielte ich auch schon, seit ich sechs war, und wusste, da kann ich als Orchestermusikerin oder Geigenlehrerin mein Geld verdienen. Ich wollte aber weg von zu Hause und habe in Köln vier Semester lang beides studiert.» Wieder Glück: Ihr Gesangsprofessor war Hans Sotin, legendärer Wagner-­Bass, der Gurnemanz schlechthin, und er riet der 21­-jährigen dringend zu, als sie mitten im Studium nach einem Vorsingen in Berlin das Angebot bekam, ins Ensemble der Komischen Oper zu gehen, mit Intendant und Regisseur Harry Kupfer.

«Das war für mich eine unglaublich wichtige Zeit, das Laufenlernen auf der Bühne, zwischen erfahrenen Kollegen. Wie es ist, im Betrieb einzuspringen, nach sechs Stunden Proben noch eine Vorstellung zu singen und dabei die Kräfte einzuteilen.» Von den kleineren Rollen, den Despinas und Ännchens, kam sie zu den grösseren, andere Häuser wurden auf sie aufmerksam. Kent Nagano holte die 29-­Jährige als Gast an die Staatsoper, wo er My way of life dirigierte, ein aus Fragmenten des verstorbenen Tōru Takemitsu gefügtes Musiktheater, «das war eine Collage, an die mich Amerika ein bisschen erinnert». Danach wagte sie den Sprung ins Freiberufliche – und später den nach Zürich. «Ich wollte nach einer Trennung ein neues Kapitel starten, nach elf Jahren in Berlin, und bin allein hierher gereist und habe eine Wohnung gesucht, während des Vulkanausbruchs auf Island. Das war unglaublich kompliziert, weil ich auch noch eine Vorstellung in Wien singen musste.» Die Aschewolken des Eyjafjallajökull legten bekanntlich den Flugverkehr im April 2010 lahm. Aber es klappte, sie fand eine Wohnung zwei Minuten vom See, «es war eine super Entscheidung».

Da sie außer im Winter täglich im See schwimmt, können auch die sportlichen Anforderungen der Amerika-­Inszenierung sie nicht schrecken. Es gibt Kampfszenen, in denen Kopfnüsse und Ohrfeigen genau sitzen müssen, Jiu­-Jitsu ist dabei, break dance, «und Bewegungsabläufe Richtung Tai­-Chi, es braucht viel Kontrolle, weil es sehr langsame Bewegungen sind, und dann das hohe C zu singen … da sind wir noch dran!» Dazu kommen noch die Finessen des Sprechgesangs. «Es ist spannend, mit Sebastian Baumgarten zu arbeiten, der vom Schauspiel kommt und anders mit Worten arbeitet. Man kann auch gegen den Text sprechen», Sebastian hatte so einen Beispielsatz: «Ich bring dich um!» Sie sagt ihn und lässt die letzte Silbe mal eben in die Höhe hüpfen. Ein irrer Effekt.

Fällt es ihr leicht, sich in die Kafka­-Figuren einzufühlen? «Ich kann schnell umdenken und mich nach einer Vorstellung sofort über völlig andere Dinge unterhalten. Natürlich wird man in eine Rolle immer etwas von seinem eigenen Erleben reinbringen. Das ist dann aber die Rolle und nicht Mojca» – übrigens wird der Name, auf ihre slowenische Mutter zurückgehend, wie «Moiza» ausgesprochen. Welche Rollen sind ihr am nächsten? «Figuren mit einer größeren Fallhöhe. Ich war nie ein grosser Fan von Zerlina und Despina. Ich mag Bergs Lulu und Vitellia in Mozarts La clemenza di Tito, die an den Rand ihrer Emotionen getrieben werden. In Hamburg habe ich letztes Jahr die Blanche in Poulencs Dialogues des Carmélites gesungen, das war schon sehr, sehr intensiv. Wenn da am Ende während des Chorals eine Nonne nach der anderen geköpft wird, gingen wir mit Tränen in den Augen auf die Bühne, zusammen ins Ende.» Ebenfalls sehr nah ist ihr die Salome, zu der ihr viele rieten. Ein konzertanter Auftritt mit dieser Partie entfiel wegen Corona. Dafür machte sie im Lockdown eine Aufnahme von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, mit Zubin Mehta am Pult, Daniel und Michael Barenboim und dem Flötisten Emmanuel Pahud. «Eine unglaubliche Atmosphäre», sagt Mojca Erdmann. «An den Umgang mit Sprechgesang in Pierrot Lunaire erinnert mich Amerika besonders.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien im MAG 109 der Oper Zürich, Februar 2024, ebenso auf der Website des Hauses. Die Premiere von Amerika ist am 3. März 2024, es dirigiert Gabriel Feltz, Sebastian Baumgarten inszeniert. Foto: Screenshot aus dem Video mit Schönbergs Pierrot Lunaire ((c) Helios Films/Pierre Boulez Saal), das 2021 in Berlin entstand. Ein Ausschnitt aus dieser noch nicht veröffentlichten Produktion ist im VAN-Interview mit Mojca Erdmann zu finden.

“Was man da hineinsteckt, das ist man ja selbst”

Als sie mit 15 Jahren ihre erste Oper erlebte, schlief Marlis Petersen ein. Später wurde sie eine der spannendsten Sängerdarstellerinnen unserer Zeit – jetzt probt sie die “Lustige Witwe” in Zürich.

Es ist einer dieser Momente, die es nur auf Proben gibt. Vier, fünf Mal schon haben Hanna und Danilo, Marlis Petersen und Michael Volle, die unverhoffte Wiederbegegnung eines nicht unkomplizierten Paares in Paris geprobt, der Hüne mit dem mächtigen Charakterkopf, die zierliche schmale Frau. Ein Dialog, der fast mit einem Kuss endet. Aber nur fast, es muss ja spannend bleiben. Immer wieder lässt Regisseur Barrie Kosky die beiden neu ansetzen, und irgendwann entspannen sie sich, indem sie plötzlich auf Schwäbisch blödeln. «Wir kommen ja aus dem gleichen Eck in Schwaben», hat Marlis Petersen vorher erzählt, «aber es ist das erste Mal, dass wir szenisch gemeinsam etwas machen.»Screenshot 2024-02-05 200052

Es gibt noch weitere Parallelen zwischen den beiden Sängern, auch wenn der Bariton acht Jahre älter ist als die Sopranistin. Beide haben über die Kirchenmusik zum Gesang gefunden und keineswegs auf direktem Weg zur Bühne. «Als ich die erste Oper gesehen habe, mit fünfzehn, bin ich eingeschlafen», sagt Marlis Petersen und lacht hell auf im Zimmer mit den zwei Klavieren, wo wir zusammensitzen. «Das war Rigoletto, da hat die Oper Pforzheim bei uns in Tuttlingen gastiert.»

Tuttlingen, Kreisstadt, näher an Zürich als an Stuttgart – hierhin hat es den Schiffsingenieur Petersen aus Hamburg verschlagen, einen musikalischen Mann mit schöner Stimme, dessen Frau gern Klassik hört. Ihre Tochter Marlis bekommt beizeiten Klavierunterricht. In der Schule und erst recht im Kirchenchor entdeckt sie ihre Stimme – mühelos singt sie Soli, ohne je Gesangsunterricht gehabt zu haben. «Mir war völlig klar, ich muss Gesang studieren! Das durfte ich erstmal nicht, weil die Eltern ihre Zweifel hatten mit der brotlosen Kunst. Der Kompromiss war, dass ich Schulmusik studiert habe, Klavier als Hauptfach.» Das Studium in Stuttgart wird mitfinanziert durch Auftritte mit einer Band, «wir haben die Hits von damals gecovert. Ich habe Keyboard gespielt und gesungen, Whitney Houston, Jennifer Rush, solche Sachen. Ich habe auch in Hamburg bei Cats vorgesungen und hätte die Stelle der Katzenoma haben können, die ‹Memory› singt. Aber dann dachte ich, ich will doch jetzt nicht die alten Katzen singen, und habe mich für die Klassik entschieden!» Aber noch lange nicht für das Theater.

Nun kommt Sylvia Geszty ins Spiel, ungarische Koloratursopranistin, Professorin in Stuttgart. Als Marlis einen ihrer Kurse besucht, hat die Studentin gerade ihre Stimme verloren, «durch einen Gesangslehrer, der mir nicht gutgetan hat. Geszty hat mir in zwei Wochen die Oktave bis zum hohen f aufgemacht und mir war klar, das ist es.» Zwei Jahre studiert sie bei ihr, lernt, die Stimme mit dem Zwerchfell rhythmisch zu stützen, in einen hohen Ton wie in einen Apfel zu beißen, da bricht ein Damm. Und im szenischen Unterricht stellt sich heraus, «dass ich ein natürliches Talent zum Spielen habe. Da brauchte ich gar keinen Unterricht.» Als Marlis 1994 am Theater in Nürnberg vorsingt, mit 26 Jahren, hat sie gleich ein Engagement – und debütiert als Einspringerin. «Eine Operette, Pariser Leben! Drei Tage Proben, und dann stand ich zum allerersten Mal auf der Opernbühne!»

In Nürnberg wird sie auch von ihrem «Lebensruf» erreicht, wie sie es nennt, der Titelheldin von Alban Bergs Oper Lulu, die sie so oft und so intensiv wie keine andere gestalten wird – eine junge Frau, die, eigentlich naiv, eine Reihe von Männern um Verstand und Leben bringt und selbst ein blutiges Ende nimmt. Womit wenig über den ungeheuren Horizont der Musik gesagt ist. «Ich hatte das Gefühl», sagt Marlis Petersen, «das ist einfach die Rolle, die ich ohne Anstrengung verkörpern kann. Eigenartig, gell? Die Ungreifbarkeit dieser Figur hat mich fasziniert. 2015 habe ich dann von ihr Abschied genommen mit zwei Inszenierungen, der von Tcherniakov an der Bayerischen Staatsoper und der von Kentridge an der MET. Es war, als risse ich mir ein Stück Herz heraus. Aber es war nötig, weil das Stück nach achtzehn Jahren schon auf die Seele abfärbte. Es ist einfach immer wieder brutal, wie mit ihr als Frau da umgegangen wird.»

Wie schafft sie es überhaupt, solche extremen Gestalten auf der Bühne wahr zu machen? «Was man da emotional hineinsteckt, das ist man ja selbst, sonst könnte man’s gar nicht. Aber man muss sich auch in Psychologien hineinfühlen, die sehr dramatisch sein können, wie Medea, die ihre eigenen Kinder umbringt. Du musst auf der Bühne zu einem Gefühl kommen, dass du so viel Hass in dir trägst auf jemand anderen, dass du bereit bist, deine eigenen Kinder zu schlachten – damit das Publikum diese Energie versteht. Es ist herausfordernd, diesen Anteilen in sich zu begegnen. Ich glaube, wir haben sie alle. Das Theater ist ein geschützter Raum, wo man diese Gefühle ausleben kann, den Zorn, aber auch die Weichheit, die Tränen, das Staunen. Dort wird jeder berührbar.»

Was alles hineinspielt in eine Gestalt wie Medea, das hat Marlis Petersen 2010 an der Wiener Staatsoper gezeigt, als Titelheldin in der Uraufführung von Aribert Reimanns Medea. Welche Kraft sie in die berstenden, brechenden Gesangslinien brachte, mit welcher Dringlichkeit sie das leiseste Filigran erfüllte, das ließ einen tatsächlich verstehen, warum sie auf die Katastrophe zusteuerte. «Für mich», sagt sie, «war die Partitur das Komplexeste, was ich jemals in meinen Händen hatte. Es hat einen ganzen Monat gedauert, bis ich das dechiffriert hatte. Und das dann auswendig zu lernen, diese Intensität – da war ich hinterher fix und fertig.» Und trotzdem flog sie direkt nach der letzten Vorstellung nach New York, als Einspringerin an der MET, zwei Tage vor der Premiere von Ambroise Thomas’ Hamlet. Würde sie so etwas wieder tun? «Nein. Das bin ich nicht mehr. Ich habe mich damals überreden lassen.»

Inzwischen ist ihr die griechische Gelassenheit näher. Seit sieben Jahren lebt sie im selbstgebauten Haus zwischen 77 Olivenbäumen in Koroni, an der westlichen Südspitze der Halbinsel Peloponnes. Dorthin zog sie sich auch zurück, als der Lockdown die Bühnen paralysierte. «Ich habe fünf Monate lang nicht mal mehr Musik gehört! Das war für mich sehr heilsam, eine große Tankstelle, aber danach beginnt das Nachdenken. Über die Degradierung der Kunst, den Umgang mit Andersdenkenden. Da hat eine große Spaltung der Gesellschaft begonnen, in der wir mittendrin sind. Da wird viel passieren.»

Marlis Petersen sagt das nicht im Ton einer Kassandra. Nicht die Heroinnen der Antike haben sie nach Griechenland gezogen, sondern Meer und Sonne und Mentalität. Sie findet Veränderungen auch spannend, weil sie Neues mit sich bringen, und eine ihrer liebsten Bühnenfiguren ist die Susanna in Mozarts Figaro – eine selbstbewusste Spielmacherin. «Die hat mich immer beglückt, aber jetzt werde ich dafür zu alt, jetzt müsste ich in dieser Oper die Gräfin singen, und die entspricht mir nicht so», sie lacht. Sie spricht sehr offen über ihre Grenzen und liebt einen Dirigenten wie Kirill Petrenko dafür, dass er sie so respektiert, wie sie ist. «Ohne ihn hätte ich Strauss’ Salome nicht gesungen, die ist mir sängerisch eine Nummer zu dramatisch. Er hat dem Orchester gesagt, wir müssen der Marlis einen musikalischen Anzug schneidern. Das fand ich so berührend!» Berührt hat es sie auch, wie Hans Werner Henze, schon im Rollstuhl, sie nach der Berliner Uraufführung seiner Oper Phädra zu sich heranwinkte. «Für mich ein heiliger Moment. Ich habe gedacht, ohje, jetzt gibt es Kritik oder Lob vom grossen Meister. Und dann macht der seine Jacke auf, holt den Whisky raus und hat ihn mir angeboten! Ich musste so lachen!»

Es ist nicht das Lächeln einer Operettendiva, das im Gesicht der Hanna Glawari spielt, der reichen, jungen, der «lustigen» Witwe auf der Probebühne. Diese Frau hat auch mehr hinter sich als eine komplizierte Beziehung mit Danilo, dem Lebemann aus Pontevedro. Viel mehr. Mit einer gewissen Nachsicht blickt sie auf den Trubel zwischen Geld und Liebe. Eine Diva guckt anders. Es sei denn, eine Diva guckt so wie die auf dem Etikett des Olivenöls, das Marlis Petersen auf dem Peloponnes selbst herstellt. «Diva’s Elixir» steht darauf, und die Sopranistin auf dem Foto darunter wirkt sehr entspannt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 108 der Oper Zürich, Februar 2024, und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Szenenfoto mit Michael Volle (Danilo) und Marlis Petersen (Hanna): Monika Rittershaus. Die Premiere der Lustigen Witwe in der Regie von Barrie Kosky, dirigiert von Patrick Hahn, ist am 11. Februar 2024.

“Ich sang alles, was die Leute wollten…”

Offenbach, Zemlinsky, Rameau – es gibt kaum einen vielseitigeren Sänger als den Südfranzosen Mathias Vidal. In Zürich verkörpert er die tragikomische Titelheldin von Rameaus Oper “Platée”

In dieser Probe ist er nicht die Hauptperson, und das passt ganz gut zu Mathias Vidal als dem, der er jenseits der Bühne ist. Extrem bescheiden. Wie intensiv er sein kann, stimmlich, szenisch, das wissen die Zuschauer und Kollegen seines gewaltigen Repertoires von Monteverdi bis zur Moderne, aber dieses Potenzial wird jetzt gerade nicht gebraucht. Er steht am Rand der Probebühne und wartet, bis La Folie, die funkelnde Sopranistin Mary Bevan, und die acht Tänzer ihn erreicht haben, umschlungen, ihm einen Hut aufgesetzt, ihn und seine Kollegin zu einem Tänzchen geführt haben, das vorn am Cembalo gespielt wird, während Emmanuelle Haïm mit Schwung dirigiert. Abbruch. Regisseurin Jetske Mijnssen tauscht sich mit dem Choreografen Kinsun Chan aus, Haïm überprüft selbst ein paar Takte am Cembalo, Mathias Vidal trinkt einen Schluck Tee.

Es ist eine von diesen Proben, bei denen aus wenigen Takten mehrere Baustellen werden, ineinander übergehend, in denen zwischen Konzept und Improvisation etwas so Komplexes zusammenwächst, dass man als Zaungast nicht gleich durchblickt und umso mehr die gut gelaunte Gelassenheit geniesst, mit der alle dabei sind. Und natürlich die Musik, diesen Rameau’schen Tonfall, der aus dem späten französischen Absolutismus schon in andere Zeiten vorzugreifen scheint, der noch etwas filigran Barockes hat und schon… ja, was? Als Mathias Vidal und Theo Hoffmann, der den sarkastischen Kleingott Momus spielt, einen knappen Dialog singen, schwebt ein Hauch Offenbach über die Szene, etwas Französisches jenseits der Revolution, von der Platée noch gut vier Jahrzehnte entfernt ist, die Komödie mit der Tenor singenden Sumpfnymphe.

«Gounod, Massenet, Bizet», sagt Mathias Vidal, als wir uns im Foyer darüber unterhalten. «In diese Richtung muss man Rameau singen. Es ist dieselbe Familie, dieselbe DNA. Das ist nicht Lully oder Charpentier, wir sind in der grossen französischen Oper.» Das gelte nicht zuletzt für seine Partie. «Für einige in Frankreich bin ich überhaupt nicht der Beste für dieses Repertoire. Sie wollen die Stimme sehr leicht für das ganze Barock, meine ist ihnen zu stark. Dabei habe ich keine Siegfriedstimme! Aber Rameau, das ist keine Kammermusik.»

«Haute-contre» habe nichts mit Countertenor zu tun, es bedeute bei Rameau einfach Tenor, so wie «dessus» die alte Bezeichnung für Sopran ist, «bas-dessus» für Mezzosopran, «taille» für Bariton und «basse-taille» für Bass. Allerdings: Bei Marc-Antoine Charpentier, 40 Jahre vor Rameau geboren, «liegt Haute-contre viel höher. Das kann ich nicht singen, unmöglich, da singe ich immer taille! Also, vorsichtig sein mit der französischen alten Musik!» Er lacht.

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Mathias Vidal ist zierlich, hat dunkle Locken, braune Augen, einen knappen Bart und entspricht optisch durchaus dem Klischee vom Südfranzosen, der er ist, vor knapp 46 Jahren an der Cote d’Azur im Hafenstädtchen Saint-Raphaël zur Welt gekommen als Sohn eines Amateursaxophonisten. Mehr erzählt er über seine Eltern nicht, und dass er selbst eine Familie und Kinder hat, findet er nicht unbedingt erwähnenswert. Er selbst begann als Siebenjähriger mit dem Klavierunterricht. Als er in Nizza studierte, 50 Kilometer nordöstlich von seiner Vaterstadt, interessierten ihn Musikwissenschaft, Chor- und Orchesterleitung und immer mehr der Gesang. Das fing an im Chor der Oper von Nizza. Im kleinen Gattières nördlich dieser Stadt sang Mathias mit 20 Jahren zum ersten Mal eine Rolle in Hoffmanns Erzählungen. Von da war es ein grosser Sprung ans Pariser Conservatoire, wo er Gesang bei Christiane Patard studierte.

«Ich lernte alles bei ihr, mit sehr guter italienischer Technik, die lehre ich nun selbst. Sie starb leider vor zwei Jahren, sonst wäre ich jede Woche in Paris. Man braucht immer einen Lehrer, wenn man Sänger ist.» Rameau war damals noch in weiter Ferne, aber nicht Emmanuelle Haïm, die um 16 Jahre Ältere, die als Lehrbeauftragte ihm und anderen Studentinnen und Studenten Musik von Claudio Monteverdi nahebrachte. «Bis ich 25 war, habe ich eigentlich nur Belcanto gesungen, italienische Oper. Das sind auch meine Wurzeln, eine meiner Grossmütter kommt aus Sizilien, und sie sang dauernd diese Arien… Nach dem Konservatorium sang ich zum ersten Mal französische Romantik. Keine Hauptrollen!»

Das war in Compiègne, jener nordfranzösischen Stadt, die außer ihrer historischen Bedeutung für Frankreich wie für Deutschland auch ein Théâtre Impérial aus der Zeit Napoléons III. hat, seit langem bekannt für seine Opernausgrabungen. Hier debütierte Mathias 2004 in Bizets noch nie aufgeführter Oper Noé, «und in derselben Saison sang ich Rossinis Barbier, Offenbachs La Périchole und ein bisschen frühe französische Musik mit Gérard Lesne, dem berühmten Counter. Ich sang alles, was die Leute wollten, ich dachte einfach, ah, da ist ein Job für dich!» Dieser bunte Start ins Bühnenleben scheint wegweisend bei einem, den man in Frankreich «éclectique» nennt, in vielen Genres zu Hause und nicht leicht zu etikettieren. Ist das ein Problem?

«Es wechselt von Haus zu Haus, wie man besetzt wird. Hier Rameau, da Operette…» Nein, das Hauptproblem ist ein anderes, und es gilt für alle französischen Sänger: «Wir haben tolle Musiker und nur 20 Operntheater, das ist nichts. In Deutschland gibt es 120. Warum? Theater in Nantes und anderen Grossstädten zeigen viel weniger Vorstellungen als zum Beispiel das in Oldenburg. Die festen Ensembles sind vor 40 Jahren verschwunden. Es gibt also nur Gastspiele. Wenn du in Frankreich auftrittst, geht es um das Leben, du hast nur einen Schuss! Wir versuchen diese musikferne Mentalität zu ändern, das geht nur langsam.» Umso lieber denkt er an den Erfolg, den eine Koproduktion der Theater von Lille und Rennes hatte, die 2017 Zemlinskys Einakter Der Zwerg auf die Bühne brachten. Es war der norwegische Talentscout Pål Christian Moe, der Mathias für die tragische Titelrolle empfahl.

Wer ihn im Mitschnitt erlebt, begreift sofort, warum das einschlug. Eine Stimme, die den Worten folgt, die fleht und nicht prunkt, eine Körpersprache, die zeigt, was dieser «Zwerg» vor allem ist – ein zutiefst verunsicherbares Wesen. «Ich war sehr glücklich mit diesem Charakter», meint er, «und mit der Atmosphäre dieser Musik, der Harmonik. Wir haben in Frankreich auch Werke aus dieser postromantischen Periode, aber die sind eleganter. Bei Zemlinsky ist es sehr real. Und auf Deutsch zu singen ist zwar nicht einfacher, aber klarer. Die Worte verbinden sich besser.»

Tatsächlich fiel ihm der Weg zu Zemlinsky leichter als der zu Rameau. «Ich war sehr langsam mit diesem Komponisten, und bei meiner ersten Produktion war ich improvable, denn es ist sehr schwer. Das Schwierige ist, die Ornamente und eine grosse Stimme zusammenzubringen. In der ersten Woche der Proben wird die Stimme erstmal klein, weil man alle Töne erwischen will. Man muss zu einer bestimmten Flexibilität finden.» Die Zürcher Platée ist die dritte, die Mathias auf der Bühne singt – nach Produktionen in Frankreich und Japan –, aber die erste, bei der die von den Göttern genasführte hässliche Nymphe eben keine ist, sondern ein männlicher Souffleur, der sich in einen Startänzer verliebt. Für ihn macht das keinen fundamentalen Unterschied. «Es sind dieselben Gefühle, dasselbe Spiel zwischen den Charakteren. Und die Figur ist sehr reichhaltig, naiv und anmassend, komisch, romantisch, tragisch.»

Ein Wunsch freilich bleibt offen. Ideal für Rameau und den Stimmumfang eines Haute-contre, meint er, sei ein Stimmton von 400 oder 405 Hertz statt 415 wie hier, «aber für Platée ist das okay, es ist eine Komödie!» Um was genau, frage ich ihn, geht es eigentlich in der komplexen Szene, die gerade geprobt wurde? «Platée wartet auf ihre Hochzeit mit Jupiter», sagt er in seinem sanften südfranzösischen Englisch. «She is enjoying moments. And… that’s it.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 107 der Oper Zürich, auf deren Website er ebenfalls zu finden ist. Die Premiere von Platée fand am 10. Dezember 2023 statt.