Kategorie-Archiv: Oper

Ab in die Reha

Aktualisierung um jeden Preis? Bei Hector Berlioz´ großer Oper „Les Troyens“ in Paris geht das nicht gut

Eigentlich könnte er sich freuen, Hector Berlioz, der vor 150 Jahren in seiner Wohnung in der Rue de Calais starb, total erschöpft vom langen Kampf mit seinem haßgeliebten Paris, zutiefst frustriert auch von der Halbgeburt, die sein Summum Opus 1863 in dieser Stadt erlebt hatte, Les Troyens. Nur drei von fünf Akten wurden aufgeführt, an einem zu kleinem Theater, und dann Abend für Abend gekürzt. Drei Wochen nach der Premiere zeigte ein Karikaturist den Komponisten neben einem Papierkorb voller Noten, eine Schere in der Hand. „Oh, Monsieur Berlioz!“, las man dazu. „Das alles gefällt dem Publikum nicht? Gefährliches Zugeständnis! Oh Meister, da haben Sie noch viel zu tun!“

Mittlerweile werden die Trojaner durchschnittlich einmal im Jahr neu produziert, weltweit, komplett, nur wenige Schnipsel landen noch im Müll wie auch jetzt an der Opéra Bastille. Hier wurde das Werk schon 1990 zur Eröffnung des Neubaus gespielt, allerdings als dekorativ entkerntes Spektakel und weit entfernt vom Zugriff des Regietheaters. Dessen Pionierin Ruth Berghaus hatte den Fünfakter 1983 in einen labyrinthischen Schiffskörper verlegt. Nun scheinen sich an der Bastille viele Wege zu kreuzen – 350 Jahre, nachdem der Sonnenkönig die Pariser Oper gründete. Mit dem 48-jährigen Dmitri Tcherniakov inszeniert ein internationaler Star, der es versteht,  Oper zu aktualisieren und stets neu zu lesen.

Les Troyens sind nicht das unpassendste Sujet in einer Zeit, in der so vieles auf der Kippe steht, in der unfern des historischen Troja Städte zu Ruinen werden und Menschen über das Mittelmeer flüchten wie einst Äneas – der freilich nicht vorhatte, irgendwo Asyl zu beantragen, sondern das römische Reich gründen sollte. Es ist eine Heldengeschichte, die Berlioz in Töne bringt, und insofern doch wieder unpassend. Auch oder gerade fünfzig Jahre nach der ersten szenischen Komplettaufführung bleibt diese Oper, die vom Untergang Trojas zum Hof der Karthagerkönigin Dido führt, eine Herausforderung: Kann man „antike Größe“ umgehen und doch das Stück und seine Gestalten treffen?

Anfangs geht das in Paris noch gut. Wir sehen angeschossene Betonfassaden, ein aufgeräumtes Ruinenviertel von heute, Naher Osten, von kaltem Neonlicht erhellt, darin, puppenstubenhaft: der Saal der Herrscherfamilie. Trojas König Priamos versammelt im holzgetäfelten Autokratenambiente seine Familie zum Gruppenbild, man feiert den Abzug der Belagerer. Einzig die Königstochter Cassandre misstraut der Sache. In Berlioz´ Version ist sie allein mit ihrem Verlobten, bei Tcherniakow richtet sie ihre Untergangsvisionen gegen die ganze schweigende Familie und einen Potentaten, der auch mal einen Regimekritiker wie Laokoon ermorden lässt – so legen es laufende Nachrichtenzeilen im CNN-Stil nahe.

Stéphanie d´Oustrac realisiert Cassandre mit gebündeltem, gleißendem Mezzosopran so heftig und exzessiv, wie Berlioz sie komponiert hat – und hier übertrifft seine Radikalität wirklich alle Zeitgenossen. Vom Dirigenten Philippe Jordan lässt sich das nicht gerade sagen. Sein Orchester ist zwar technisch in traumhaft guter Verfassung, doch selbst wenn Berlioz in höchster Verdichtung hören lässt, was aus dem (hier nicht sichtbaren) Holzpferd über Troja hereinbricht, klingt das unter Jordan bestenfalls wie ein geschmeidiges Vorspiel zum zweiten Akt. Derweil lässt Tchnerniakov den Äneas zum Verräter werden: dieser Énée paktiert mit den Griechen, und vielleicht gelingt ihm auch deshalb die Flucht. Kein Held eben.

Interessant, doch neben der Musik wirkt die Idee papieren. Außerdem ist in Tcherniakovs skeptisch-aufklärendem Blick kein Platz für Geister. Dem Schatten Hektors, des toten Trojanerhelden, hat dessen Namensvetter ein paar sehr abgründige Takte geschrieben, mit einer fast zwölftönigen Folge gedämpfter Horntöne. In Paris ist der Geist ein Foto, die Stimme weit entfernt, Énées schlechtes Gewissen halt, schon klar. Nichts Unheimliches. Wie sich dann in die Partitur die Ereignisse überschlagen, Raserei, Angst, Verschmelzung von Solisten und Chor – all das läuft ins Leere. Die pragmatische Analyse ist den fatalen Zuspitzungen, Tableaus, Visionen nur in Ansätzen gewachsen.

troyens paris 2019B Früher war hier mal Karthago: Jekaterina Sementschuk als Didon. Foto: Vincent Pontet

So gesehen tritt Tcherniakov im dritten Akt, der Énée nach Karthago in Didons Arme führt, die Flucht nach vorne an. Wenn diese Gestalten zu groß sind für die Analyse und mit ihrer verdammten Schicksalsdurchdrungenheit jede Familienaufstellung sprengen – dann kommen sie eben in die Anstalt! In ein Reha-Center für Kriegsopfer, hell und freundlich, dessen Cheftherapeut Narbal eine Vorliebe für szenisches Ausagieren der Macken seiner Patienten hat, darunter Didon, die gern die Königin spielt, später auch Énée, der sich einbildet, ein Weltreich gründen zu müssen. Nur die Liebe der beiden ist kein Spiel.

Es gibt unter den jüngeren Regisseuren wohl keinen, der so ein Konzept so perfekt umsetzen könnte – echt bis zu den Beinprothesen mitspielender Kriegsopfer, die sich darauf verlassen können, dass es Tcherniakov ernst ist mit der Aktualisierung. Und mit dem Stück? Während ihm etwa bei Verdis Trovatore eine zutiefst berührende Neuerzählung gelang, erlebt man nun die virtuose Hilflosigkeit, den Manierismus, vielleicht gar die Arroganz eines Regietheaters, dem die Suche nach der „Geschichte dahinter“ über alles geht, jener Geschichte, die immer zu uns und in die Gegenwart führen soll. Passen die alten Texte noch, fragt man dann. Ja und nein. Intelligent ist das Ganze, bis zum Pingpongtisch durchdacht. Aber weiter geht es nicht.

Der Zuschauer ist vorwiegend damit beschäftigt, Texte und Töne mit der Szene abzugleichen und den Grad der Kongruenz zu vermessen. Nicht, dass in so einer Klinik keine großen, brennenden Herzen zu finden wären! Aber sie wären doch aus sich heraus zu erkunden. Ganz wie Didon, die im vollen Selbstbewusstsein einer sehr mächtigen, schönen, verliebten und verlassenen Frau Passagen von einer emotionalen Zerrissenheit singt, die sie zur großen Gegenspielerin von Richard Wagners zeitgleich komponierter Isolde macht. Bei Berlioz ist es ein Liebestod aus rasender Wut, in dem die Heldin übrigens weitaus menschlicher, ambivalenter, erkennbarer wird als die Wagnersche.

Trotz Pyjama: Jekaterina Sementschuk singt Didon so blühend und verletzlich, Brandon Jovanovich den Énée so viril und sensibel, dass man gespannt jedem ihrer Töne folgt – wie dem ganzen überragenden Ensemble. Aber diese Töne dürfen nicht ins Freie, Unberechenbare führen, das selbst dem „Schicksal“ überlegen wäre und uns darum stärken könnte. Sie führen vielmehr in die Sackgasse einer Opernregie, die einst mit Empathie und Neugier begann und nun in Dekodierbarkeit auf Augenhöhe endet. Das mag mit anderen Opern noch eine Weile gut gehen. Berlioz besteht aber auf seinen Passionen und ist sich hier mal einig mit den konservativen Parisern. Ihr Buh-Orkan hat archaische Wucht.

Dieser Text erschien am 31. 1. 2019 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

 

 

 

 

Raus aus der Wärmestube

Vor 70 Jahren gründete Benjamin Britten im britischen Aldeburgh sein Festival. Jetzt verstört dort ein Werk von Emily Howard die Stammgäste

invisible
Mitten in der Nacht springen alle aus den Betten im ehrwürdigen Wentworth Hotel. Feueralarm, durchdringend! Oder Schlimmeres? Der Kernreaktor von Sizewell B ist nur acht Kilometer von Aldeburgh entfernt – wer tagsüber an der Nordseeküste spazierengeht, sieht im Norden die weiße Kuppel wie aus dem Ei gepellt in der Junisonne strahlen. Doch der Alarm verstummt, und am nächsten Tag sitzen die Leute an den Frühstückstischen, gabeln ihren Bacon, und kein Hercule Poirot wird gebraucht, um in der Agatha-Christie-Atmosphäre des Wentworth das Rätsel der Nacht zu lösen: Eine Dame habe zu heiß geduscht, sagt die Rezeptionistin. Und Rauchmelder reagieren eben auch auf Wasserdampf.

Wer sich als Neuling vom Kontinent zwischen den Stammgästen hier bewegt, älteren, vorwiegend britischen Festivalbesuchern, die ihre Zimmer ein Jahr im voraus buchen und wahrscheinlich alle noch Benjamin Britten gekannt haben, der in diesem Ort 1976 das Zeitliche segnete, ist auf sanfte Weie schon mittendrin in einem Thema, das diesen Komponisten umtrieb: der Außenseiter. Nur einen Möwenschrei vom Hotel entfernt steht zwischen Häusern und Meer trotzig das kleine Rathaus von 1550 im Wind, der allererste Schauplatz von Brittens Oper Peter Grimes. Und um Außenseiter geht es auch in der jüngsten Oper hier, To see the Invisible von Emily Howard.

Die Komponistin aus Liverpool ist unter 40, wie viele der Musiker hier und wie, natürlich, auch eine Menge von Festivalgästen, die es nicht gerade ins Wentworth verschlagen hat. Das Aldeburgh Festival ist alles andere als eine Museumsveranstaltung. Es wurde, vor jetzt 70 Jahren, von jungen Leuten gegründet: Gerade einmal 34 war Benjamin Britten, als er und sein Lebensgefährte Peter Pears hier, wo sie lebten, ein kleines, für alle Genres offenes Musikfest schufen. Seine Hauptspielorte hat es aber schon seit Langem im zehn Kilometer landeinwärts gelegenen Snape, in einer großen, backsteinernen Mälzerei des 19. Jahrhunderts, am grünen Ufer der breiten Alde. Traumhaft.

Ein Alptraum ist dagegen das Sujet, das Emily Howard für ihren Einstand in Britten´s own country gewählt hat: Ein Jahr lang läuft ein Verurteilter als „Invisible“ herum, gebrandmarkt, sodass alle wissen: Den darf man nicht zur Kenntnis nehmen, nicht auf ihn reagieren, ihn nicht berühren, nicht mit ihm sprechen. Der Mann wird seelisch zerrissen. Vor zwei Jahren haben Howard, ihre Librettistin Selma Dimitrijevic und der Regisseur Dan Ayling mit der Arbeit an dieser Kammeroper begonnen, in so engem Austausch, dass „praktische Erwägungen großen Einfluss hatten“, wie die 39-jährige Komponistin erzählt, „bis hin zu der Zeit, die ein Kostümwechsel braucht“.

Howard hat zuvor kaum Musikdramatisches geschrieben, im Gegenteil. Die Stücke, mit denen die Liverpoolerin besonders auffiel, folgten mit großen Orchester scheinbar unbeseelten Modellen: Torus setzt eine aus mathematischen Formeln entstehende Form, die einem Donut ähnelt, in Klänge um, Magnetite unternimmt dasselbe mit mineralischen Kristallen – kaum verwunderlich bei einer Frau, die ihre Tage am liebsten mit der Lektüre mathematischer Bücher beginnt. Aber Howard hat nichts von einer Musterschülerin in der Einsamkeit der Zahlen. Sie ist hellwach, neugierig, witzig, kommunikativ und so schnell im Kopf, dass sie im Gespräch öfters in Lachen ausbricht, anstatt einen ihrer drangvollen Sätze zu beenden.

„Ich mag starke Strukturen“, so erklärt sie ihre Neigung zum Mathematischen in der Musik. „Sie enthüllen auch oft etwas emotional Starkes. Aber so emotional wie dieses Mal war ich noch nie in meiner Musik.“ Es geht in diesen 80 pausenlosen Minuten um eine totalitäre Situation: Ein Mann wird mal eben vom Abendessen weg verhaftet, angeklagt eines „crime of coldness“, eines nicht weiter konkretisierten Vergehens gegen die menschliche Wärme, der es freilich in der Gesellschaft, die sie beruft, komplett fehlt. Eine verlogene Harmonie wird gepflegt, aus der Männer wie Frauen ins Bordell fliehen, um sich zu Klängen von John Dowland verwöhnen oder foltern zu lassen.

Vor diesen konzentrierten Grausamkeiten gibt es zur Eröffnung des Festivals sicherheitshalber ein Sinfoniekonzert im wunderbaren Saal, den Britten 1967 ins Fabrikgebäude einbauen ließ. Über 850 geflochtenen Klappsesseln unter hohem Holzgebälk entsteht mit wenig Nachhall ein präziser, voller Klang, der perfekt zum BBC Scottish Symphony Orchestra passt, geleitet von John Wilson: homogen in allen Gruppen, blitzsauber, mit körperlicher Wucht spielen die Musiker die Sinfonia da Requiem, die Britten während des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil komponierte. Ein seltsames Werk aus gespannter Zeit: Selbst im zerfetzten Dies Irae klingt noch die Schönheit einer Welt von gestern nach. Und Leonard Bernsteins Klaviersinfonie The Age of Anxiety von 1949 hört sich mittlerweile wie der größenwahnsinnig verzweifelte Versuch an, allen Ballast der romantischen Tradition mit in die Zukunft zu schleppen.

Davon ist To see the invisible denkbar weit entfernt. Fast skelettiert sind die Klänge, die vor 300 Zuschauern im Britten Studio nebenan die kleine Birmingham Contemporary Music Group liefert, oberhalb der Spielfläche postiert: von metallischen Akzenten über anfallsartige Klarinettenkoloraturen bis zu Mozartischen Streicherwellen, von Kadenzen über Bitonales bis zum Geräusch. Keine kohärente Musiksprache tröstet da, kein Hoffnungsschimmer. Nach kafkaesk aussichtslosem Prozess sieht der Verurteilte, auf den niemand reagiert, die Welt von außen, genießt anfangs noch, dass er ungestraft Voyeur sein oder Kuchen klauen darf, und entwickelt dann in zunehmender Depression sogar Verständnis für die, die ihn ausschließen.

Sieben exzellente Sänger teilen sich 22 Rollen, und von Anfang an gibt es eine weibliche Parallelfigur, die sich zum Gegenüber des „Unsichtbaren“ entwickelt, als weiterer Outcast. Am Ende, als er wieder in die „Normalität“ zurückkehren darf, sie aber nicht, fleht sie ihn an, auf sie zu reagieren. Es ist ein Duett zwischen Sopranistin Anna Dennis und Bariton Nicholas Morris, bei dem man fast vergisst, dass da gesungen wird, in weit ausgreifenden Linien. „This is my most Monteverdian“, sagt Emily Howard, „I’m very much part of it.“

Dem Zuhörer und Zuschauer fällt die Identifikation nicht so leicht. Man ist nach dem Abend erschöpft wie nach einer Operation. Oder empört wie der Kritiker des Guardian, der fragt, ob es bei einem so renommierten Festival denn keine Qualitätskontrolle gebe, es fehle der Partitur an „bedeutsamer Musik“, abgesehen von den Zitaten aus Dowlands Songs und Mozart Così fan tutte . Von Britten aus gehört, mag er recht haben. Aber in Howards Partitur, einer Art Versuchsanordnung, wirkt auch das Unhörbare, der Prozess, den die Komponistin, durchaus mathematisch, dahinter wirken lässt. Und man begreift die Diagnose nach dieser Operation. Es ist ja keine lebensrettende OP. Vielmehr erforscht sie das Verhältnis von Individuum und Normen und kommt zu dem Befund „unheilbar“. Was wiederum nicht schlecht an diese herbe Küste passt, die noch keinen Künstler zu verklärten Blicken auf die Welt veranlasst hat.

W.G. Sebald, der große deutsche Schriftsteller, wähnte sich in dieser Gegend zu Thatchers Zeiten mitunter schon in einer Art Post-Apokalypse – anders als die Touristen, die jetzt in boomenden Aldeburgh zwischen Fish´n´Chips-Läden und kleinen Galerien herumschlendern. „Vielleicht leben wir alle in dieser world of warmth“, sagt Emily Howard am Tag nach der Uraufführung, „darüber kann man wirklich nachdenken.“ Falls Opern auch Rauchmelder der Gesellschaft sein sollten, reagieren sie nicht auf Wasserdampf. Nur leider hört nicht jeder ihre Signale.

Dieser Text erschien in der ZEIT vom 14. Juni 2018 sowie auf ZEIT online und ist urheberrechtlich geschützt. Gegenüber der Druckfassung wurde aus dem “österreichischen” Schriftsteller Sebald wieder ein deutscher. Das Foto von Steven Cummiskey zeigt Nicholas Morris als “Invisible”

Fieberkurven des Ungesagten

Ein komponierter Familienroman: Aribert Reimanns neue Oper “L’invisible” bricht das Schweigen gegenüber dem Tod und wird in Berlin zum Triumph

Nirgendwo ist das Schweigen, das Beschweigen so schlimm wie in einer Familie. Die Bande sind zu eng für den Ausbruch, die Abhängigkeiten und Rituale zu stark. Doch was man beschweigt, das ereignet sich erst recht. Der Tod gewinnt im Schweigen an Macht, der “Eindringling”, wie ihn Maurice Maeterlinck in seinem kleinen Drama L’intruse nennt. Da leidet eine Wöchnerin, deren Neugeborenes nicht schreit, als sei ihm das Schweigen schon mitgegeben. Die junge Frau leidet hinter verschlossener Tür, bis hin zum Tod, ohne die Familie. Die meiden die Kranke, sitzen steif am gedeckten, leeren Tisch, der Vater mit verschränkten Armen, zwei Mädchen wie Püppchen, eine größere Schwester beunruhigt, ein Onkel, der sich bis zum Zynismus sorglos gibt …

So sitzen sie in der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne, während sechs Kontrabässe mit Schlägen des Bogenholzes und harschem Zupfen das Schweigen zerreißen, während die Celli knapp und stoßweise zu atmen beginnen und ein alter Mann blind nach einem Stuhl tastet, der Vater der weggesperrten Mutter. Der Einzige, der seine Sorge äußert, der Einzige, der größere Linien singt: “Man weiß nicht, was passieren wird …” Er stört im tableau vivant der fahlen Farben, mit dem die jüngste, die neunte Oper von Aribert Reimann beginnt: L’invisible, gefügt aus drei kurzen Dramen des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck: L’intruse (“Der Eindringling”), Interieur und La mort de Tintagiles werden verbunden zu einem Familienroman im Schatten des Todes, der den 1936 geborenen Komponisten seit frühester Zeit begleitet.

Am Ende des Abends wird ein Kind sterben, einer unfassbaren Macht ausgeliefert. Vielleicht ist dieses Kind so alt wie der geliebte große Bruder des Komponisten im Jahre 1944, Dietrich Reimann, dem die Partitur gewidmet ist. Er lag in Berlin mit Scharlach im Krankenhaus, als dieses von einer Bombe getroffen wurde. Reimanns Kriegserlebnisse, Feuer, Angst, Flucht, wirken in vielen seiner Opern nach, zuletzt in den Flammen seiner 2010 an der Wiener Staatsoper uraufgeführten Medea. Aber über Traumabewältigung ging das immer weit hinaus. Zum meistgespielten deutschen Opernkomponisten nicht nur seiner Generation wurde Aribert Reimann auch, weil die Intensität seiner Fragen an Leben und Tod sein Handwerk schärfte, seine Musiksprache – und weil er seine Themen nie an Aktualitäten band.

Die ersten Schreie in L’intruse stößt das Baby aus, nachdem seine Mutter gestorben ist. Zwölf Holzbläser brechen mit einem eng gesetzten Cluster die Erstarrung der Familie, die bis hierhin nur von Streichern begleitet wurde. Dieser schrille, schmerzvolle Bläserakkord war das Erste, was Reimann innerlich hörte, als er den Text las und sein Libretto daraus schuf, im flämischen Französisch des Autors, einer so einfachen wie magischen Sprache, erdig und poetisch. “Je vois l’avenue jusqu’aux bois de cyprès” (“Ich sehe die Straße bis zum Zypressenwald”), solche kurzen Sätze kommen Reimanns vokalen Linien entgegen, pausendurchsetzten, stets gespannten Fieberkurven des Ungesagten. Die Zypressen bedeuten Tod, und Ursule, die sie sieht, teilt als Einzige die Angst des blinden Alten.

Die fantastisch klare, bewegte Sopranistin Rachel Harnisch, der nobel drangvolle Bassbariton von Stephen Bronk und weitere Solisten des überragend gut besetzten Ensembles sind auch als Gestalten der weiteren Kapitel zu erleben. Dass ihre Rollen miteinander verwandt sind oder gar verschiedene Aspekte ein und derselben Person zeigen, ist in Reimanns Libretto angelegt und wird von dem jungen russischen Regisseur Vasily Barkhatov zumindest in der ersten Hälfte wörtlich genommen. Mit halb realistischer, halb symbolhafter Genauigkeit inszeniert er das vor der nüchternen Villenfassade des Bühnenbildners Zinovy Margolin. Der beklemmenden Familienaufstellung folgt mit Interieur ein Blick von außen ins Wohnzimmer – halbwegs dieselbe Familie, Jahre später, man schmückt den Weihnachtsbaum und weiß nicht, dass eine Tochter ertrunken ist.

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Das aber weiß der “Fremde”, der sie aus dem Fluss gezogen hat, nun vorm Fenster steht und zögert, die schreckliche Nachricht zu überbringen. Es übersteigt seine Kraft so, wie es einmal die Holzbläser tun, aus der Tiefe nach oben geschichtet. Zur Bassklarinette kommen Kontrabassklarinette und Kontrafagott, in nächster Stufe Englischhorn und Heckelphon – eine jener Passagen, die weit ausstrahlen. Hier wird das Material autark und gewinnt seine eigene Schönheit oder auch Schicksalhaftigkeit. Denn von der erzählt die Musik unablässig. Nach den harschen, vertikal ausgerichteten Streichern von L’intruse sind es in Interieur ausschließlich Holzbläser, die um die Ertrunkene ins Fließen geraten.Stets wechselt der Duktus. Die Instrumente können Mitwisser sein, Antreiber, Kommentatoren oder der dunkle Fluss, in den ein Mädchen stieg.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin ist unter der Leitung von Donald Runnicles der Arbeit des Komponisten ebenbürtig, sowohl in seiner Intensität wie in der Rücksicht auf die Stimmen: Immer sind sie frei genug, um im Bedrückenden zur Schönheit des Ausdrucks zu finden wie der Tenor Thomas Blondelle. Aus dem zynischen “Onkel” des Beginns ist nun ein “Fremder” mit anrührend zarter Stimme geworden, aus dem Großvater der Alte an seiner Seite. Der hat zwei Töchter, die am Ende zusehen, wie die Botschaft überbracht wird, und einen so überirdisch schönen Kanon singen, als hätte hier Claudio Monteverdi die Hand des Komponisten geführt – einer der wenigen Momente von Trost neben den Gesängen unsichtbarer Countertenöre, deren Interludien die Stücke miteinander verbinden.

Am Ende werden sie sichtbar – aber als Todesengel, als Dienerinnen einer schicksalsgleichen Königin in La mort de Tintagiles. Tintagiles, aus der Sicht von Regisseur Barkhatov im ersten Stück zur Welt gekommen, hat als Knabe das zweite Stück am Weihnachtstisch verschlafen und wird nun selbst zum Opfer. Die Königin ist eine alte, übermächtige Gestalt, die man nicht sieht und die den Jungen, wie alle potenziellen Erben, töten will. Hier verlässt die Inszenierung das bürgerliche Ambiente und macht die Villa zum Spital, in dem der Junge – eine mit Salvador Macedo berührend besetzte Sprechrolle –  totgepflegt wird, obwohl seine großen Schwestern ihn zu beschützen suchen. Das Krankenhaus als Tatort bezieht sich auf den Widmungsträger der Partitur, rückt aber die Familie und das Drama der Verdrängung aus dem Blick.

Dabei singt Ygraine (wiederum die grandiose Rachel Harnisch) als Schwester des Knaben selbst, die Königin sei “die Mutter unserer Mutter”. Da könnte sich, ganz ohne Spital, im Wohnzimmer die Perspektive auf Verhängnisse von geradezu antikischer Wucht richten. Sie wird indessen zugebaut, bis am Ende Replikate des toten Knaben auf der ganzen Bühne verteilt sind –  erhängt, als Unfallopfer oder in einer Wanne à la Marat, während die Todesengel in ostasiatisch inspirierten Müllsackkostümen von Olga Shaishmelashvili herumhuschen. Tieferes weiß die Musik, in der nun alle Instrumente, auch Blechbläser, zum Einsatz kommen – nie zugleich, sondern gestaffelt und gesteigert. Unter den Gesangslinien werden rohe Akzente gesetzt, wird Bläsergestein geschmirgelt, und ein großer Nonensprung der Geigen ist die grausame Antwort auf den Ruf “Gib ihn zurück!”.

Hier knüpft Aribert Reimann an seine großen Opern an, die Blöcke, die Jagden, die sich aufbäumenden Linien. Damit aber auch, wie in Lear, Troades oder Medea, an Fragen nach dem Zustandekommen des “Schicksals”. Aus der magischen Intimität der Maeterlinckschen Texte wird nicht zuletzt eine Anklage des Verschweigens, des Zögerns, ängstlichen Abwartens. “Es ist vielleicht Zeit, sich zu wehren”, sagt hilflos ein Verbündeter des Jungen. Auch dieses verheerende “vielleicht” stellt Reimann in seiner Partitur zur Rede, nicht verurteilend, aber so genau wie möglich. Und dieses Gelähmtsein hat etwas ziemlich Aktuelles. Das alles geht einem nach. Am Ende mag man kaum glauben, dass es nur 90 Minuten waren, so vieles hat sich verbunden. Das Publikum im ausverkauften Haus feiert den 81-jährigen Komponisten wie einen Popstar.

Dieser Text entstand für die ZEIT und erschien dort am 12. Oktober 2017 in einer redaktionell um 780 Zeichen ausgedehnten Fassung, auch auf ZEIT online zu lesen. Er ist urheberrechtlich geschützt. Das Foto von Bernd Uhlig zeigt Stephen Bronk als den Alten in “Interieur”.