Kategorie-Archiv: Essay

Die Weite der nördlichen Zonen

Sinfonische Entgrenzungen von Esa-Pekka Salonen, Edvard Grieg und Jean Sibelius

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Für Helix braucht man inzwischen wohl eine Triggerwarnung. Eine über neun Minuten sich erstreckende Beschleunigung, mit der ein Crescendo des ganzen Orchesters (fünf Schlagzeuger eingeschlossen) verbunden ist, könnte Angstzustände auslösen. Doch bislang mündete das Stück, das Esa-Pekka Salonen 2005 schrieb, meist in den Jubel eines Publikums, das Freude am pannenfreien Heißlaufen eines großen Orchesters hat. Zu dessen Virtuosen gehört der 1958 geborene Finne als Dirigent und als Komponist. Einer, dem das Material garantiert nicht um die Ohren fliegt und der es auch nicht zerkratzt. Man findet bei Salonen keine Geräusche, sondern das Orchester etwa in jenem Zustand, in dem Strawinsky es mit seinem Le Sacre du printemps hinterließ. Das gilt auch für das rhythmische und harmonische Vokabular. In Helix wird es maximal verdichtet, dem Prinzip einer um einen Kegel gewickelten Spule folgend. Aber Salonen überlässt das Material nicht einfach nur sich selbst. Und er bringt es so behutsam in Gang, dass wir Zeit haben, uns innerlich anzuschnallen…

9. April 1870, Rom. Die Basilika Santa Francesca Romana unfern des Kolosseums wurde einst in den Ruinen eines Venustempels errichtet. Eine passendere Adresse konnte sich Franz Liszt nicht aussuchen, der hier eine komfortable Wohnung im Kloster hat. 58 Jahre alt ist er jetzt, seit vier Jahren Abbé mit niederen Weihen, stets in der Soutane und doch immer noch der funkelnde, gefeierte Virtuose des Lebens und der Kunst.  An diesem Samstag scharen sich junge Damen um ihn, „die Liszt gern mit Haut und Haaren gefressen hätten“. So beobachtet es ein junger Besucher aus Norwegen, dessen Partitur Liszt gerade auf den Chickering-Flügel in der großen Halle des Klosters gestellt hat: Edvard Grieg. Dann sind da noch Griegs Komponistenfreund August Winding, der hochbegabte Pianist und Dirigent Giovanni Sgambati und ein deutscher Bewunderer, der Liszt imitiert und selbst ein Abbékostüm angelegt hat.

Es ist eine schwankende Zeit, in der sich diese bunte kleine Gesellschaft im sakralen Ambiente versammelt. Noch, aber nicht mehr lange ist ganz Rom ein Kirchenstaat, Enklave im jungen Königreich Italien. Es herrscht jene Atmosphäre des Umbruchs, in der einer wie Liszt aufblüht. „Wollen Sie spielen?“, fragt er Grieg, der mit dem Manuskript seines a-Moll-Klavierkonzerts gekommen ist. „Ich kann nicht“, bekennt der 26-Jährige, das Stück müsse er erst noch üben. „Dann werde ich Ihnen zeigen, dass ich es auch nicht kann“, sagt Liszt und lächelt seltsam. Die Damen drängen sich näher um ihn und starren auf seine langen, schmalen Finger. Winding und Grieg, die beiden Norweger, sehen einander an, skeptisch. So etwas kann man nicht vom Blatt spielen, noch dazu aus dem Manuskript.

Liszt stürzt sich hinein in die Kaskaden des Anfangs, zunächst viel zu schnell. Aber dann beginnt er sich in der Musik umzusehen, die seine Hände mühelos aus der Partitur zaubern. Natürlich hat er gleich erkannt, dass die a-Moll-Kaskaden zu Begin denen von Robert Schumanns Klavierkonzert folgen – Grieg hat das schon als 15-jähriger Leipziger Student mit Clara Schumann am Klavier erlebt -, aber ganz andere Welten wachrufen. Kleine Sekunde und große Terz abwärts, das kommt aus der norwegischen Folklore, die Liszt nicht kennt, aber eine neue, starke Sprache erkennt er, so, wie er schon als 18-jähriger in Paris das Genie von Berlioz erkannte und in der Uraufführung Symphonie fantastique einfach aufschrie.

Das tut er jetzt nicht, aber immer wieder kommentiert er beglückt, während er spielt. Es mögen die gnomenhaften Punktierungen im Klavier sein, später das herrliche E im Horn über fis-Moll, dann ein paar harmonische Tricks, die simpel sind und doch taufrisch wirken, wie nie vorher gehört. Ohne die Anstrengung, das Zielgerichtete der Deutschen um Schumann und Brahms, freier, unter sehr weitem Himmel, auch fern von Rom. Mit Norwegen im Sinn hat Grieg sein Klavierkonzert in Søllerød nahe Kopenhagen begonnen und in Oslo vollendet.

Kurz vor Schluss springt Liszt auf und brüllt “Famos!”

Im Adagio ist Liszt sogar noch begeisterter. Er spielt das sanfte, sarabandenhafte Thema – so dürfen wir es uns vorstellen – wie die Erzählung einer großen Liebe, und seine Ornamente sind wie Zärtlichkeiten. Ohne Pause geht es danach ins Finale, in dem besonders die Norweger in der Klosterhalle nur staunen können. So, wie Liszt nach dem heftigen norwegischen Männertanz die völlig überraschende Idylle, das schwebende Thema der Flöte erscheinen lässt, sieht man hier, dem schmutzigen Tiber nahe, einen klaren endlosen Fjord vor sich. Wie Liszt später im Presto die Betonungsänderungen, die Hemiolen greift, als hätte er sie selbst dorthin gesetzt, aus zwei schnellen Dreiertakten einen langsamen machend – und wie er dann aufspringt. Ja, er springt auf, vier Takte vor Schluss, und seine Anbeterinnen treten erschrocken zurück vom Flügel.

Gerade hat er noch mit der linken Hand eine rasende Skala aufwärts genommen und mit der rechten Trompeten und Posaunen erschallen lassen. Die machen aus dem idyllischen Flötenthema ein Maestoso wie für den Circus Maximus, und aus dem Gis, dem Leitton für a-Moll, ist ein G geworden, gegen alle Schulregeln. Liszt brüllt das Thema geradezu, während er mit erhobenem Arm und hochgewachsen, wie er ist, durch die Halle schreitet. „G, g, nicht Gis! Famos!“ ruft er. Diese Szene wird später in keinem Text über das Werk fehlen, aber genau wie Griegs Konzert wird sie durch Wiederholung nicht schwächer… Liszt setzt sich wieder hin und spielt die letzten 18 Takte noch mal richtig. Nimmt die Noten, gibt sie dem Komponisten und sagt, leise und bewegt: „Fahren Sie so fort, Sie haben das Zeug dazu.“

Auch für Jean Sibelius wird Franz Liszt wichtig, aber auf andere Weise. Liszt ist schon seit fünf Jahren in Bayreuth begraben, als dort im Sommer 1894 der 28-jährige Finne, überwältigt von Tristan, Parsifal und Die Meistersinger, in eine Krise gerät und sich von eigenen Opernplänen verabschiedet. „In Wirklichkeit bin ich ein Tonmaler und Dichter“, schreibt Sibelius seiner Frau Aino. „Ich stehe der Meinung von Liszt über die Musik am nächsten…“ Das ist allerdings eher eine Bestätigung des Wegs, auf den sich Sibelius mit Kullervo längst begeben hat, einer Komposition der Heldensage aus dem finnischen Nationalepos Kalevala. Die Uraufführung 1892 in Helsinki ist sofort als „Geburtsstunde der finnischen Musik“ gefeiert worden, und das sagt schon einiges über das Spannungsfeld, in dem sich Jean Sibelius bewegt.

Da ist der kulturelle und politische Einfluss Schwedens einerseits und Russlands andererseits, eine komplexe Geschichte, keineswegs nur eine der Unterdrückung, die zum Erwachen eines finnischen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert führt. Es gibt eine unter schwedischer Herrschaft etablierte europäische Kultur, es gibt seit 1809 ein russisches Großfürstentum Finnland mit schwedischen Gesetzen, und mit dem wirtschaftlichen Erfolg Finnlands wächst der Wunsch nach Autonomie, die Suche nach eigener Identität. Für diese spielen die überlieferten Tonformeln eine große Rolle, mit denen die Verse aus der Kalevala zu rezitieren sind, gebildet aus einem melancholischen Fünfklang in Moll. Hunderte dieser Formeln sind im 19. Jahrhundert in Finnland aus der mündlichen Überlieferung transkribiert worden, und sie inspirieren Sibelius.

Doch nicht weniger beeindruckt ihn in Wien 1890 eine Aufführung von Bruckners Dritter Sinfonie. Bruckner, Wagner, Liszt, dazu noch Tschaikowsky – das sind die Zeitgenossen, die Sibelius anregen. Tschaikowsky in der Körperhaftigkeit des Orchesterklangs, Liszt als komponierender Erzähler, Wagner als Faszinator, zu dem jeder eine eigene Position finden muss, Bruckner als Outsider, der das Arbeiten an Sinfonien in ein neues Universum geführt hat. All diese Einflüsse treffen sich mit Sibelius´ „finnischem“ Ton in seiner Zweiten Sinfonie so offen wie vorher und nachher nicht, ein Werk übrigens, dessen Entstehungsgeschichte 1901 auf einer Italienreise beginnt, nicht in Finnland.

Wie nach und nach ein Thema erscheint

Eigentlich zeigt jeder Satz eine andere Position inmitten der Strömungen, der erste wohl die am meisten ausbalancierte. Wie sanft uns die Streicher entgegenkommen, mit welcher Selbstverständlichkeit sich alles entfaltet – das hat etwas vom Erleben einer Landschaft. Wenn man sich das Material näher ansieht, kommt hinter dem Naturhaften eine geniale Themendisposition zum Vorschein, besonders beim nachhaltigsten Thema. In voller Größe erscheint es erst nach zwei Dritteln des ersten Satzes. Es ist uns aber vorher schon nach und nach bekannt geworden, wie ein Berg, den man auf kurvigem Weg zunächst in Auschnitten oder umrisshaft durch das Laub der Bäume schimmern sah. Den ersten Teil dieses Themas spielen die Holzbläser schon früh: Ein über dreieinhalb Takte gehendes C, von dem eine kleine Wellenbewegung aus Achteln in eine Quinte nach unten mündet.

Es ist da noch umhüllt von Blechbläsertönen und dem Bogenvibrato der Streicher, mit dem der Satz begann. Zusammen mit den Streichern ist es wenig später deutlicher zu hören. Dann folgen 14 Takte gespannter Ungewissheit, die Oboe spielt das Thema allein auf weiter Flur, das Fagott spinnt es fort bis zu einem sehr auffälligen, fast dramatischen Sprung nach oben, im „Teufelsintervall“ einer verminderten Quinte. Immer wieder kommen Details ins Spiel, die wir schon kennen und bereits wieder vergessen haben, und tragen bei zu der eigentümlichen Vertrautheit im Neuen, das sich entwickelt. Nach vielen Andeutungen und Anläufen ist es dann pures Glück, das Thema komplett zu erleben, mit Paukenwirbel und acht Takte lang.

Bis dahin hat Sibelius ein anderes Thema, sein bis dahin etwa zehntes, aus Vorstufen entwickelt und so exzessiv gesteigert, dass man sich fragen konnte, wohin das noch führen soll. Voilà: zum vollen Bergblick! Ungefähr zehn Themen (je nach dem, wo man die Grenze zwischen Motiv und Thema ziehen möchte, was bei Sibelius nicht viel Sinn hat) – das liest sich komplex. Aber alles ist so unangestrengt aufeinander bezogen, derartig aus einer Vision heraus entwickelt, dass wir uns immer gut aufgehoben fühlen. Dazu noch gibt es unverhoffte Harmonien, die in die Zeit vor der Diatonik führen, Durakkorde wie aus der Renaissance, reines Blau, reines Grün…

Im zweiten Satz wächst ein Motiv, ein Thema aus dem anderen so hervor, dass wir uns nicht mehr auf einem klar sichtbaren Weg befinden, sondern in einer Wildnis. Sibelius kann ohne Vorwarnung Gefahren hervorbrechen lassen, etwa Violinen wie angreifende Hornissenschwärme – aber anders als etwa bei Mahler führt so etwas nie zu Katastrophe oder Durchbruch. Stattdessen, beispielsweise, in ein Bruckner-Idyll, Triolen der Streicher zum Viervierteltakt der Bläser, die auch hier und da mal den Tristanakkord spielen. Anspielungsreiche Anarchie, zusammengehalten von einem Thema in der Melancholie der Kalevala-Formeln.

Dann, im dritten Satz, wieder eine andere Perspektive, die man eine der kosmopolitischen Raffinesse nennen könnte: Sibelius liefert ein (von ihm nicht so genanntes) Sechsachtel-Scherzo, das Tschaikowsky in einer siebten Sinfonie hätte schreiben können: spritzig, elegant, drängend, mit einem Mittelteil, in dem sich Tschaikowsky und Sibelius gleichsam an der Grenze ihrer Heimatländer im einsamen finnischen Südosten treffen. Das Thema beginnt mit einem achtmal wiederholten b in der Oboe, halb Ruf, halb Naturlaut, bevor sehnsüchtiges Melos daraus wird. Dieser B-Teil ändert nicht nur die Reprise des schnellen A-Teils, in dem nun Schatten zu hören sind, er führt am Ende auch ins Finale.

Was dann passiert, ist nicht sehr subtil, aber eben auch ein Aspekt dieser Sinfonie. Das Finale beginnt schon, wie es enden wird. Man kann dem triumphalen Thema zugute halten, dass es aus den Kontrasten im dritten Satz hervorgeht, und man kann auch nicht behaupten, dass neben dieser Pracht kein Gras mehr wachse. Es gibt noch andere Themen und Motive, auch nachdenkliche. Aber sie taugen nur zum Atemholen, nicht für Unwägbarkeiten und Überraschungen. Dass nun „alles gut“ ist, steht außer Frage. Was etwas überrascht. Denn ein Kampf, dem ein derartiger Triumph folgen könnte, hat den Komponisten vorher nicht interessiert – dieses Finale ist wohl auch die vom finnischen Publikum erwartete Botschaft auf dem Weg zur Autonomie der Nation. Bei der Uraufführung am 8. März 1902 im ausverkauften Saal der Universität von Helsinki bricht Begeisterung aus, der 36jährige Sibelius erhält Lorbeerkränze. Nimmt man aber die mutmaßliche politische Botschaft weg, bleibt doch etwas Neues. In der additiven Struktur des Finales ist auch die pure Lust am Material zu erleben – gut hundert Jahre, bevor sie bei Jean Sibelius´ Landsmann Esa-Pekka Salonen und Helix ins Zentrum rückt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich Orchesters Köln, das die Werke unter der Leitung von Tarmo Peltokoski – mit dem Solisten Jan Lisiecki am Klavier – am 4. und 5. Februar 2024 in der Kölner Philharmonie spielt. Illustration: Edvard Munch, Landschaft mit Fjord (1906), Bühnenbildentwurf für Henrik Ibsens Gespenster (3. Akt, letzte Szene), Öl auf Leinwand, Munch Museum Oslo

Himmel mit und ohne Menschen

Gebrochene Blicke in die Ewigkeit: Strawinskys „Psalmensinfonie“ und Mahlers Vierte Sinfonie ergänzen einander über eine weite Distanz

Ich habe seit zwanzig Jahren nicht gefastet, und ich tue es nun aus größter geistiger und spiritueller Notwendigkeit heraus“, schreibt Igor Strawinsky am 6. April 1926 aus Nizza an den Freund und Impresario Serge Diaghilev. Er werde zur Beichte gehen. „Serjoscha“ ist tief gerührt und begrüßt den 44-jährigen als Bruder im Schoß der russisch-orthodoxen Kirche, die für Strawinsky kaum noch eine Rolle spielte, seit er in Paris zum shooting star wurde. Doch im späteren Paris der 1920er, Strawinskys geistigem Lebensmittelpunkt, liegt das (Re-)Konvertieren in der Luft, gerade bei Intellektuellen. Im Vorjahr ist Jean Cocteau katholisch geworden, mit dem der Komponist eng zusammenarbeitet. Man liest Jacques Maritain, den katholischen Philosophen auf den Spuren des Thomas von Aquin, dessen Schriften auch in Strawinskys Bibliothek stehen, man ist fasziniert von mittelalterlicher Demut und Anonymität, von neuer Spiritualität.

Für Strawinsky, mutmaßt sein amerikanischer Assistent Robert Craft, kommen noch Schuldgefühle dazu: Er hat mit dem Wissen seiner an Tuberkulose erkrankten Frau Katia eine anhaltende Beziehung mit Vera Sudeikina. Zudem soll es im Frühjahr 1926 ein Erweckungserlebnis gegeben haben. Auf dem ersten, kurzen Flug seines Lebens, von Triest nach Venedig, ist der Komponist einer Pilgergruppe begegnet und ihr zum 700. Geburtstag des Heiligen Antonius nach Padua gefolgt, so will es sein Biograph Eric Walter White von ihm gehört haben, und dort habe es „den wirklichsten Moment meines Lebens“ gegeben. Kein Zweifel besteht jedenfalls daran, dass der Mann tief gläubig ist, der sich Anfang 1930 an die Arbeit macht, eine Psalmensinfonie zu schreiben.

Das ist nicht gerade das Werk, mit dem Auftraggeber Sergej Kussevitzky rechnet, Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, dessen 50-jähriges Bestehen mit der Novität gefeiert werden soll. Ist es überhaupt eine Sinfonie, dieses Oratorium in drei Sätzen, in denen ein gemischter Chor Verse aus den Psalmen 38 und 39 (nach vorlutherischer Zählung), „Erhöre mein Gebet, Herr“ und „Ich harrte des den Herrn“ sowie den ganzen Psalm 150 („Halleluja“) singt? Auf jeden Fall, so der Komponist, ist es „keine Sinfonie, die auch das Singen von Psalmen umfasst. Im Gegenteil, ich mache das Singen von Psalmen zur Sinfonie.“ Gleichzeitig macht er die Sänger zu Instrumenten des Orchesters. Den lateinischen Text hat er auch gewählt, „um die Stimme vom Ausdruck zu distanzieren.“ Nichts Subjektives!

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Igor Strawinsky ist noch nie ein Subjektivist gewesen, mit Hector Berlioz etwa konnte er überhaupt nichts anfangen, und sein berühmtestes Werk, Le sacre du printemps, ist bei aller Heftigkeit frei von individueller Emotion. Schon zur Uraufführung 1913 erklärte er, warum das Stück ohne Streicher beginnt: Sie seien mit ihrem Crescendo und Diminuendo „zu anregend, zu sehr die menschliche Stimme repräsentierend“. In der „Psalmensinfonie“ von 1930 dürfen keine Geigen und Bratschen mitspielen, dafür aber zwei Klaviere. So entsteht ein herber, kantiger Klang, dem gerade am Anfang eine ebensolche Struktur entspricht: absolut vertikal. Unmelodiös repetierende Bögen von Flöte und Fagott, Schläge dazwischen. Aber so maschinell, wie der Zweivierteltakt eingeführt wird, bleibt er nicht. Das Solocello bereitet mit einem Legato den Einsatz der Altstimmen vor, die freilich, wenn sie „lacrimas meas“ singen, „Schweige nicht zu meinen Tränen“, ungerührt bei ihrem Wechsel zwischen f und e bleiben, während das Orchester unbekümmert Achtel pocht und vom Text nichts zu wissen scheint. Das soll auch so sein. Strawinsky wollte in der Psalmensinfonie den „lyrisch-sentimentalen ,Gefühlen‘ vieler Komponisten“ etwas entgegensetzen, wie er im Gespräch mit Robert Craft erklärte.

Aber warum wird dann die Bitte an Gott „Ne sileas“, „Schweige nicht“, gleich zweimal im Forte gesungen, mit Nachdruck also, während aus den umgebenden Achteln Sechzehntel werden und Dringlichkeit ins Geschehen kommt? Die währt bis zum Schluss des blendend getimten kurzen Satzes, immer gesteigert bis zu einem gleißenden G-Dur. Schon 1923 erklärte Strawinsky zu seinem Oktett, die Form eines „musikalischen Objekts“ sei bestimmt vom Material, 1935 verschärfte er das: „Musik genügt sich selbst. Suche nicht nach irgendetwas hinter dem, was sie schon enthält.“ 1967: „Die Noten selbst sind das Ende der Straße.“ Wenn das so wäre, bräuchten sie keine Hörer mehr.

Das Spannende an der „Psalmensinfonie“ ist gerade ihr Widerspruch zu Strawinskys Vorstellung einer absoluten, objektiven Musik. Der zweite Satz beginnt mit der „objektivsten“ Form nach dem Kanon, einer Fuge, einem wunderschönen Bläsergespinst, aber er gipfelt in einer Katastrophe. Ihr geht ein stilistischer Rückblick voraus, vielleicht die einzige Passage in Strawinskys Œuvre, die an Mahler denken lässt. Zu den Worten „Er stellte meine Füße auf einen Fels…“ hören wir umarmende Harmonik im Sonnenuntergang der Diatonik. Nun könnte es noch schöner werden: „Er gab mir ein neues Lied in meinen Mund…“ Doch es ist blankes Entsetzen, das wir da hören – auf dem Wort „novum“ wird ein Maximum an siebentöniger Dissonanz erreicht. Das kann hier nur programmatisch verstanden werden. Wenn das das neue Lied für Gott ist, dann wird ihm darin mitgeteilt, wie es um seine Welt beschaffen ist.

Dann ist auch klar, warum im „Halleluja“ nicht gejubelt wird. Das „Lobet ihn“ gleicht einem Kondukt, dumpf und schleppend. Danach kippt das Orchester in rasende Motorik, ein hypervirtuos komponierter Rummelplatz, mitreißend, wahlweise kann man verselbstständigtes Material oder hysterisch gute Laune hören, und darin wird das „laudate Dominum“ zu eiligen Silben verkleinert. Es folgen 50 Takte in schwerem langsamem Dreiermetrum, ganz frei vom Jubel, den der Psalm umfasst, statisch, endlos scheinend, fast wie eine Welt vor oder nach den Menschen. Auf jeden Fall: Viel Raum und Zeit, um nachzudenken.

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Dauernd bleibt Mahler zurück, um sich etwas zu notieren. Er kommt beim Spazierengehen kaum seinen Einfällen hinterher, geschweige denn den drei Menschen, mit denen er im Sommer 1899 in der Steiermark Urlaub macht – seine Schwester Justine, der Geiger Arnold Rosé, der ihr nahe ist, und Natalie Bauer-Lechner, die geduldig hofft, dass Gustav Mahler sich doch noch in sie verliebt. Aber der 39-jährige, seit zwei Jahren Direktor der Wiener Hofoper, hat endlich Ideen für seine Vierte Sinfonie, drei Jahre nach der Dritten, und nur jetzt Zeit, das Nötigste festzuhalten. In der vorigen Spielzeit hat er an der Oper 97 Aufführungen dirigiert, dazu acht Konzerte außerhalb, und genauso wird es weitergehen. Außerhalb der Ferien hat Mahler im Schnitt alle drei Tage einen Auftritt, wozu man sich noch ein paar Proben denken darf. Aber Erholung im Urlaub kommt nicht in Frage, wenn sich ein Werk im Kopf abzeichnet.

Die Grundidee ist immerhin entstressend: Für das Finale wird er den Satz nehmen, der 1892 für die Dritte entstand und ihm dann nicht gewaltig genug war, die Vertonung eines fromm-verrückten Gedichts aus Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Nun muss der Rest dazu passen, dort hinführen, was Folgen für Proportionen und Instrumentierung hat: Die Sinfonie wird so kurz wie keine andere von Mahler, also immer noch doppelt so lang wie eine von Haydn, aber nicht länger als beide Ecksätze der Dritten zusammen. Und es gibt weder Posaunen noch Tuba, es wird alles so licht und blau wie ein Sommertag… scheinbar jedenfalls und dem zufolge, was Natalie von Gustav dazu erfährt: „Stell dir das ununterschiedene Himmelsblau vor, das schwieriger zu treffen ist als alle wechselnden und kontrastierenden Tinten.“ Das ewige Blau könne aber „plötzlich grauenhaft“ werden, „wie einen am schönsten Tage in einem lichtübergossenen Wald oft ein panischer Schreck überfällt.“

Das lässt an Strauss´sche Tondichtungen denken, ist aber in jeder Hinsicht das Gegenteil: Eine Sinfonie mit klassischen vier Sätzen, ganz ordentlich aufgebaut, mit einem zugänglichen, überschaubaren ersten Thema. Aber das ist ein bisschen schräg, mit einem wienerischen Glissando darin, Kitschgefahr, und ihm gehen drei Takte Flötenachtel mit Schelle voraus. Eine „Narrenschelle“, befand Theodor W. Adorno 1960, „die, ohne es zu sagen, sagt, was ihr nun vernehmt, ist alles nicht wahr.“ Aus seiner Interpretation der Vierten als „Als-ob von der ersten bis zur letzten Note“ hat sich geradezu ein Dogma der Rezeption entwickelt – die Musik gilt vielen als „ironisch“, passend zum Bild von Mahler als dem Komponisten kommender Katastrophen, für den so etwas wie Ungebrochenheit oder, schlimmer noch, gute Laune, nicht in Frage kommt.

Die Vierte zeigt aber besonders im ersten Satz, dass sich auch in echt guter Laune etwas „Gebrochenes“ schaffen lässt, im Vollgefühl der Beherrschung des Metiers, von der Mahler selbst fand, sie habe hier ein neues Niveau erreicht. Das erste Thema mutet nicht nur trivial an, es klingt dazu noch eher wie die zweite Hälfte eines Themas. Mit insgesamt sieben Themen entsteht dann eine so raffinierte wie lichte Konstruktion, in der das wunderbar sehnsüchtige Cellothema (das fünfte) um so emphatischer wirkt, kein bisschen ironisch. Es geht um Spiel wie um Ernst, und aus dem einen kann das andere werden.

In der Durchführung werden unterschiedlichste Motive so gegeneinander geschnitten, dass sich geradezu szenische Perspektivwechsel ergeben, dann verselbstständigt sich das Material zu einer kleinen Walpurgisnacht mit grausigem Höhepunkt im dreifachen forte, dem nach 14 Takten „einer der genialsten Momente überhaupt bei Mahler“ folgt, wie der Dirigent Michael Gielen den Übergang zur Reprise nennt. Ordnungsgemäß kommt das erste Thema wieder zum Einsatz – aber dem fehlen die ersten beiden Takte! So als wären sie ohnehin gerade erst gespielt worden, dann kam etwas dazwischen, und nun geht´s weiter. So kann man „Reprise“ auch definieren. Das ist Dekonstruktion innerhalb der Konstruktion. „Es scheint, als ob hier die bedeutende Kombinationsgabe des Tonsetzers lediglich um ihrer selbst willen ihre Kräfte versprühe“, zürnte der Uraufführungskritiker Theodor Kroyer 1901.

Was ja auch schön sein kann, wenn auch eher im Sinne des Neoklassizisten Strawinsky. Mahlers Sinfonie hat aber ein ungeschriebenes Programm, und man hört es sogar gleich anfangs. Die Schellentakte sind kein Narrensignet, sondern vorwegnehmendes Zitat aus dem Finale, wo dieser Klang mehrfach eingesetzt wird zur Ausmalung der „himmlischen Freuden“. „Diese Metallinstrumente“, sagte dazu der Dirigent (und Archäologe) Guiseppe Sinopoli, „waren immer ein Ausdruck der Freude, auch in den alten Kulturen, wenn wir zum Beispiel an Mesopotamien denken, oder an Ägypten oder Griechenland.“ Mahler hat den Himmel, der sich im „Wunderhorn“-Gedicht so prall entfaltet mit lauter Heiligen, die Lämmer und Ochsen schlachten und Fische fangen, mit brotbackenden Engeln und einer lachenden St. Ursula, gleichsam wie ein Kind vertont, mit höchster Kunst Einfachheit geschaffen und zum Gesang angemerkt: „mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!“

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Kindheit war für Mahler eine große Welt. Die Spielleute und Klezmorim, die er in Iglau gehört hatte, tauchen überall in seiner Musik auf, auch die Militärkapellen; zur Sphäre des „Trivialen“ musste er sich nicht herablassen. Der klezmernahen Solovioline in seiner Achten geht die voraus, die „wie eine Fidel“ im diabolischen Scherzo der Vierten zu hören ist und wie eine Trösterin nach einer dramatischen Entwicklung im langsamen Satz erscheint. Am Ende des Finales deuten Englischhorn und Harfe Bordunklänge an, wie sie in Mahlers Kindheit von Dudelsäcken und Drehleiern zu hören waren. Dass ein Knabe aus jüdischer Familie, der als Berufswunsch „Märtyrer“ geäußert haben soll, sich im katholischen Mähren für katholische Heilige interessierte – möglich.

Unzweifelhaft war aber schon für Gustav Mahler als Komponisten der Auferstehungssinfonie, seiner Zweiten, „die Herrlichkeit Gottes“. „Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz“, hatte er dazu notiert. Im Finale der Vierten nähert er sich diesem Licht aus artifizieller Kindersicht, und ihre gutgelaunten Heiligen haben sicher auch ihren Platz in Mahlers „Privatreligion“, wie Jens Malte Fischer die undogmatische Perspektive zwischen Goethes Pantheismus und Naturreligiosität nennt. Dass der Komponist sich in Hamburg nur deswegen katholisch taufen ließ, weil er im antisemitischen Wien sonst nicht den Hauch einer Chance auf seinen Traumjob gehabt hätte, ist bekannt. Dass er aber einen Sinn für die Heldinnen und Helden dieser Konfession hatte, nicht erst für die Goethe´sche „Himmelskönigin“ der Achten, das darf man seinen „Himmlischen Freuden“ auch mal ironiefrei zugestehen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm “Hinauf”, das vom Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von François-Xavier Roth  am 27. August 2023 um 11 Uhr in der Kölner Philharmonie aufgeführt wird, mit der Sopranistin Sioban Stagg und dem Bürgerchor Köln. Illustrationen: Strawinsky, nachkolorierte Fotografie, um 1930 (Gürzenich-Programmheft), Grafik und Textausschnitt der Erstausgabe von “Des Knaben Wunderhorn”, 1806 (Deutsches Textarchiv)

Was ist eigentlich »modern«?

Ein Streifzug durch Umbruchsmomente, Epochen, Ideologien, Wörterbücher und Partituren, bei dem ein vielschichtiger Begriff und eine vielschichtige Kunst einander beleuchten

Eine Bar etwas außerhalb von Los Angeles, Mitte der Sechziger, sehr cool, alle tragen Sonnenbrillen am frühen Abend, die meisten sind schon angezecht. Da bricht aus einer Art Jukebox ein wildes Pfeifen und Keuchen los. Sofort sind alle still. »Was ist los?«, flüstert eine, die zum ersten Mal hier ist. »Das ist von Stockhausen«, erklärt der Barkeeper. »Die Leute, die früh hier sind, stehen mehr auf den Radio-Köln-Sound …« Es könnte »Mikrophonie I« sein, im Juni 1965 vom WDR ausgestrahlt, was Thomas Pynchon in seinem 1966er Romanerstling »Die Versteigerung von Nr. 49« in der (fiktiven) Elektronikbar Scope erklingen lässt: Ein Tamtam wird mit diversen Gegenständen in Schwingung versetzt, zugleich mit Mikros wie mit Stethoskopen abgehorcht, deren Signale mit Filtern und Reglern transformiert werden. Screetch…

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Noch immer sind das Klänge, mit denen man Hörer aus der Fassung bringen kann – moderne Klänge, dürfte man sagen, wäre der Begriff in der Musik nicht schon ab etwa 1965 »obsolet geworden«, wie das Lexikon »Musik in Geschichte und Gegenwart« erklärt. Tatsächlich wäre jeder heute lebende Komponist ziemlich befremdet, würde man ein neues Stück »moderne Musik« nennen. Aber rundherum ist das Wort längst nicht aus der Mode, und hilfreich bleibt es auch, wenn man nach Umbruchsmomenten in der Musik sucht, in denen etwas ganz Neues Folgen hatte, ohne dass immer gleich von »Fortschritt« gesprochen wurde. »Obsolet«, veraltet ist an »modern« allerdings die Ideologisierung des »Progressiven« in der Musik, die in den 1960ern ihren Gipfel erreichte.

Da hatten sich Lager gebildet, Arroganz war im Spiel und Kampf um Wirkungsmacht. Das Schöne an Pynchons Romanszene ist auch, dass sie davon gar nichts weiß. Diese kalifornischen Hipsters, die auf Stockhausen abfahren, haben garantiert nicht Adorno gelesen. Sie mögen diese Musik, weil sie krass und technisch auf der Spitze der Zeit ist, auf der sie sich selbst gefallen. Sie hören den »Köln-Sound« unbekümmert um den Diskurs dahinter, sie eignen ihn sich zur Distinktion ihrer Partykultur an. Sie sind uns nahe, weil wir in einer Diversität von Musik leben, in der die Lagergräben nur noch Schatten sind.

Von Riesen und Zwergen

Aber was ist »modern«? Das Wort ist mindestens 1500 Jahre alt, wie sich dank moderner Recherchemittel in Sekunden herausfinden lässt. In seiner 32. Epistel stellt im 5. Jahrhundert Papst Gelasius in Rom den »Regeln der Väter« die »Ermahnungen aus jüngster Zeit« zur Seite, »admonitiones modernas«, abgeleitet vom Adverb »modo« für »gerade erst«. 700 Jahre später prägt Bernhard von Chartres, ein Gelehrter an der Domschule von Chartres, wo der Bau der schönen Kathedrale erst noch bevorsteht, den Satz: »Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen sitzend, um mehr und weiter als sie sehen zu können« – wobei er mit den Zwergen die »moderni« meint, die zeitgenössischen Gelehrten gegenüber denen der Antike, in deren spätester Sprache Latein er das mitteilt. Ein Schüler schreibt es 1159 nieder.

Die Bewunderung der Kultur der Antike führt um 1600 zur Erfindung der Oper in Italien (ursprünglich ein Versuch, das antike Theater zu rekonstruieren) und am Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich zu einem Kunststreit, in dem ausdrücklich »die Modernen« eine Partei bilden. Anlässlich der Genesung des Sonnenkönigs hat es 1687 Charles Perrault in einem Gedicht gewagt, die »Riesen« kleiner zu machen: Die »Anciens«, die Menschen der Antike, seien »Menschen wie wir«. Man müsse nicht vor ihnen in die Knie gehen, das Zeitalter Louis’ XIV. lasse sich ohne weiteres dem des Augustus an die Seite stellen. Darüber regen sich Kollegen auf, die, wie der Fabeldichter Jean de la Fontaine, mit antiken Vorlagen arbeiten und auch fürchten, es könne auf eine katholische Literatur hinauslaufen – immerhin ist die Antike »heidnisch«.

Da sich hier Fragen der Autonomie der Kunst mit politischen verbinden, findet die »Querelle des Anciens et des Modernes« auch in England und Deutschland Beachtung. Im Alltag gebildeter Deutscher landet aber nicht nur darum ein französisches Adjektiv: »moderne« steht 1736 als Neuzugang in Nehrings »Historisch-Politisch-Juristischem Lexicon«, das auch den lateinischen Paten vermerkt: »neu, neulich, nach der jetzigen Mode, Façon, Dracht, Manier, Art, Weise, Gewohnheit …«

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Vom lediglich »Modischen« ist das nicht weit entfernt, und hundert Jahre später nimmt ein Musikwissenschaftler eine Abgrenzung vor. Der bereits geläufige Ausdruck »moderne Musik«, findet Gustav Schilling 1837 im »Universal-Lexicon der Tonkunst«, müsse sich »an gewisse Principien knüpfen«, auch chronologisch: Modern könne nicht »die Musik seit Christus« meinen. Die »Epoche des Contrapuncts« zählt Schilling nun zum »Antiken«; »modern« sei erst die Kunst danach und auch nur bei »höherer Bedeutung«. Da ist er sich einig mit Robert Schumann, der 1840 vom »Ideal einer modernen Sinfonie« spricht, die nach Beethoven eine »neue Norm« brauche.

Fragwürdig, flüchtig, fantastisch

Für Richard Wagner ist »moderne Kunst« dann schon 1849 etwas Fragwürdiges. Ihr »moralischer Zweck« sei der Gelderwerb. Hinter den Zeilen aus »Die Kunst und die Revolution« steckt Wagners zutiefst antisemitische Positionierung gegenüber seinem großen Förderer Giacomo Meyerbeer, die 1850 in »Das Judenthum in der Musik« offenkundig wird: »Wir müssen die Periode des Judenthums in der modernen Musik geschichtlich als die der vollendeten Unproductivität, der verkommenden Stabilität bezeichnen«, schreibt Wagner da, ehe er Mendelssohn eine »ausdrucksunfähige moderne Sprache« attestiert und dem überaus erfolgreichen Meyerbeer die »modern pikante Aussprache« von »Trivialitäten« zur Last legt. Stilkritik ist hier verklebt mit den antisemitischen Superioritätsfantasien eines emporstrebenden Künstlers.

Wagners Bewunderer Baudelaire hatte von »Modernität« einen anderen Begriff. Für ihn war sie »das Flüchtige, das Transitorische, das Ungewisse, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unveränderliche ist«, wie er 1863 schrieb – nicht über Musik, sondern über zeitgenössische Kunst. In seinem großen Essay zum »Tannhäuser« verwendet Baudelaire den Begriff nicht. Ganz sachlich setzt Hector Berlioz ihn in seiner »Großen Abhandlung moderner Instrumentation und Orchestrierung« ein, 1843 erschienen und bis heute ein Grundlagenwerk, so klar geschrieben, dass einem die Klangmöglichkeiten, die er auf rund 400 Seiten in allen Facetten beschreibt, tatsächlich »modern« vorkommen. Das fand schon Richard Strauss, der 1905 eine erweiterte Fassung erscheinen ließ.

Für Berlioz fängt die Orchestermoderne mit Mozart an – also etwa mit der Zeit der Französischen Revolution, in der Jürgen Habermas den »philosophischen Diskurs der Moderne« beginnen sieht – und reicht bis zu Berlioz selbst: bis zu dem, was wir avantgardistische Spieltechniken nennen würden (auf seine Zeit bezogen), etwa das col legno der Violinen in der »Symphonie fantastique«, die zum Hexensabbat mit dem Holz ihrer Bögen auf die Saiten schlagen. Diese Sinfonie ist eine jener Kompositionen, die, egal aus welcher Epoche, nie ihre Treibkraft von Durchbruch, Aufbruch, neuer Freiheit verlieren. Im Finale der »Fantastique« könnte man auch an eine rappelvolle Straßenkreuzung von heute denken, neben der ein Avantgardist am Tablet sein Klangmaterial durchcheckt.

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Das Werk trägt immer noch die Aktualität seines Entstehens in sich, von einem hellwachen Zeitgenossen komponiert im Vorfeld der Julirevolution 1830 und gleich danach uraufgeführt. Andere radikale Aufbrüche sind durchaus systemkonform: Monteverdis »Orfeo« war zunächst ein Privatvergnügen in Mantuas Herzogspalast, wo am Tag vor der konzertanten Uraufführung im Februar 1607 ein Hofbeamter notierte: »Alle Darsteller werden musikalisch sprechen« – nie da gewesen im Theater! Wie sie das aber tun, mit welchen Linien, zu welchen Harmonien der glückliche Orfeo abstürzt, als er vom Tod der Geliebten erfährt, wie nach einem Jahrhundert mehrstimmiger Madrigale ein einzelner Verzweifelter seine Stimme erhebt – das hat bis heute mehr Unmittelbarkeit als viele Arien, die dieser Erfindung der Oper folgten.

Fast schon ein Gemeinplatz ist die Alterungsresistenz des »Sacre du Printemps«. Auch wenn, wie in aller Kunst, zu erkennen ist, welche Anreger eine Rolle spielten, bleiben Strawinskys Neukonstruieren von Rhythmus und Klang und sein souveränes Beiseitelassen der so lange fast naturgesetzhaft verbindlichen Diatonik bis heute herausfordernd und aufregend.

Zwei Haken und ein Ausweg

»Absolut modern« könnte man Werke wie diese drei mit einer häufig zitierten Zeile von Arthur Rimbaud nennen, 1873 geschrieben: »Il faut être absolument moderne«, »Man muss absolut modern sein«, heißt es in »Eine Zeit in der Hölle«. Aber das hat zwei Haken. Zum einen ist Modernität, egal wie man sie definiert, kein Synonym für Qualität: Wo würde für Bach das Adjektiv »modern« naheliegen? Zum andern hat Rimbaud den Satz gerade nicht in dem Sinn gemeint, in dem er so oft zitiert wird. Mit »modern«, das hat der Übersetzer Tim Trzaskalik gezeigt, meint Rimbaud das Gegenteil von Aufbruchsgeist. An anderer Stelle nämlich findet der Dichter »die Feierlichkeiten (…) der modernen Dichtung belanglos«. Oder: »Nichts ist eitel; heran an die Wissenschaft, und voran!, so schreit’s der moderne Prediger, also Allewelt.« Die Moderne ist für den 19-jährigen Arthur Rimbaud nervtötender Mainstream, von dem er sich zynisch distanziert.

Damit ist er nah bei einem Deutschen, der fast zeitgleich, 1874, der »Moderne« seiner Zeit nichts abgewinnen kann. »Der moderne Mensch«, schreibt dieser Philosoph, leide »an einer geschwächten Persönlichkeit«, weil er zu viel Geschichtsbewusstsein habe: »Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Consequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er (…) den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können.« Unschwer ist als Autor Friedrich Nietzsche zu erraten, der in »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« letztlich den enorm gewachsenen Einfluss der Wissenschaften verantwortlich macht für eine innere Leere. Einen Ausweg sieht er in einer Kunst, die »das moderne Bewusstsein dezentrieren und für archaische Erfahrungen öffnen« wird, so Habermas im »Philosophischen Diskurs der Moderne«. Für den jungen Nietzsche ist noch Wagner die große Hoffnung, für den reifen Nietzsche nicht mehr. Aber hätte er den »Sacre« geliebt?

Claude Debussy nannte dieses Werk in respektvoller Ironie »barbarische Musik mit allem Komfort der Moderne«, also auf der Höhe der musikalischen Mittel der Zeit. Der Begriff »modern« meint auch da noch nicht »Avantgarde«. Er schwankt in den Jahren bis 1918 zwischen »zeitgenössisch«, »aktuell« und »traditionsfern«. Der Kritiker Oscar Bie lobt das Libretto der »Salome« von Richard Strauss 1905 als »Muster eines modernen Operntextes«, weil keine Verse mehr gesungen werden wie auch schon 1902 in Debussys »Pelléas et Mélisande« – beides Opern, die heute für den Aufbruch ins 20. Jahrhundert stehen. Man liest aber auch vom »Schrecken und Grausen, das in den modernen Partituren webt«, und zwar bezogen auf die durchaus noch spätromantische Musiksprache, mit der die Komponistin Ethel Smyth 1906 in ihrer Oper »The Wreckers« arbeitet. Wer noch weiter ging, war „ultramodern“.

Unfassbare Vielfalt, reduziert

Wie »modern« noch 1917 verstanden werden kann, zeigt ein Satz in Hermann Hesses Roman »Demian«: »Der Musiker spielte [auf einer Orgel, Anm.] etwas Modernes, es konnte von Reger sein.« Unwillkürlich stutzen wir. Zwar war Max Reger, 1916 gestorben, noch ein Zeitgenosse Hesses, aber einer, der dezidiert Traditionen fortschrieb, mit J. S. Bach als zentraler Gestalt. In den uns geläufigen Begriff einer musikalischen Moderne ab 1900 scheint er nicht zu passen. Ganz gleich, wo man deren Ende vermutet – es besteht Einigkeit darüber, dass in den Jahren 1900 bis mindestens 1914 ein Aufbruch, eine Innovationslust zu erleben sind wie nie zuvor und vielleicht auch nicht danach, was die Kongruenz von Diversität und Substanz betrifft. Debussy, Ravel, Strawinsky, Skrjabin, Szymanowski, Schönberg, Berg, Webern, Mahler, Strauss, Schreker, Bartók, Janáček, Ives – es ist unfassbar, welche Vielfalt neuer Musiksprachen sich in jenen Jahren ballte.

Warum aber werden Komponisten wie Reger, Fauré, Elgar, Smyth, Sibelius, Nielsen in diesem Kontext kaum je genannt? Nicht »modern« genug? Die Vielfalt wird in der Rückschau gern reduziert, was im deutschen Sprachraum besonders drastisch geschah. Als maßgeblich wurde dort im öffentlichen Diskurs seit Theodor W. Adornos einflussreicher »Philosophie der neuen Musik« (1949) nur die »Zweite Wiener Schule« anerkannt, also Schönberg und seine Schüler und der Abschied von der Tonalität. Strauss’ »Rosenkavalier« galt nach »Salome« und »Elektra« bereits als Rückfall, die Franzosen liefen als »Impressionisten« gleichsam außer Konkurrenz, Elgar und Sibelius schrumpften zu Lokalgrößen, selbst der »Sacre« galt Adorno nur als »Virtuosenstück der Regression«: »Die ästhetischen Nerven zittern danach, in die Steinzeit zu regredieren.«

Allein Schönbergs »Schule«, schrieb Adorno, werde »den gegenwärtigen objektiven Möglichkeiten des musikalischen Materials gerecht«. Die maßlose Arroganz dieser Position ist auch eine Reaktion auf das Verbot »entarteter« Musik im »Dritten Reich«, das dem organisierten Massenmord an Juden vorausging (vor dem sich etwa Schönberg und Adorno in die USA retten konnten). Dieser Hintergrund verlieh der Ideologisierung einer durch Progressivität definierten Moderne nach 1945 eine enorme Wirkung, unabhängig vom Desinteresse eines größeren Publikums. Sie traf auch Werke jener überlebenden oder ermordeten jüdischen Komponisten, die nicht den Weg zum Serialismus gegangen waren: Goldschmidt, Laks, Schreker, Krása, Ullmann …

Und sie wurde übernommen von einem Kreis enorm begabter Komponisten, dessen brillantes Haupt, Pierre Boulez, sich als Kreuzritter mit einer Mission verstand – der Musikbetrieb begrüßte die Avantgarde ja nicht gleich mit offenen Armen. »Jeder Musiker, der die Notwendigkeit der zwölftönigen Sprache nicht erkennt, ist unnötig«, erklärte Boulez 1952. »Sein ganzes Werk platziert sich damit jenseits der Notwendigkeiten seiner Epoche.« Dabei ging ihm Schönberg gar nicht weit genug; die Aufhebung der Hierarchie der Töne müsse auf sämtliche Parameter angewandt und subjektiven Emotionen entzogen werden, fand Boulez. Den Popmusikern, deren Publikum exponentiell wuchs, konnte das egal sein, aber nicht den Komponisten, nicht einmal den amerikanischen.boulez im auto

»Als ich studierte«, sagte der 1936 geborene Steve Reich im Gespräch mit dem Autor, »gab es zwei Möglichkeiten, Musik zu schreiben. So wie Boulez und Stockhausen oder so wie Cage. Für alles andere wurde man ausgelacht, ins Gesicht oder hinter dem Rücken. Es war wie eine Wand.« Reich durchbrach diese Wand mit seiner Minimal Music, unter Verwendung von Metren und tonalen Zentren, in denen die ganze Energie seiner Heimatstadt New York vibriert – absolut modern, könnte man sagen. Das war übrigens etwa zu der Zeit, in der Pynchons Barbesucher Stockhausen ganz anders hörten, als das geschichtsphilosophisch vorgesehen war. Aus Spaß.

Unendlich viel ist seitdem passiert. Die Vielfalt der jetzigen Musiksprachen, alle eingeschlossen, von ethnischen über Jazz und Rock bis zu jeglicher Formation, die sich aufs Podium und ins Netz stellt, ist vielleicht so groß wie die vom Gregorianischen Gesang bis zu Stockhausens »Mikrophonie I« und ein Wort wie »modern« vielleicht doch etwas zu klein dafür. Seine Definition im aktuellen Online-Duden geht über die von 1736 kaum hinaus; der musikgeschichtliche Horizont reicht dort aber immerhin bis zum 19. Jahrhundert. Als Beispiel für den Einsatz des Wortes liest man: »modern (im modernen Stil) komponieren«.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im Magazin der Elbphilharmonie im Januar 2023, Ausgabe “Modern”, S. 4-9, und wurde für diese Website neu illustriert. Das Foto einer Aufführung von Stockhausens “Mikrophonie I” ist ein Screenshot aus dem gleichnamigen Film von 1966. Die Seite aus Johann Christoph Nehrings Historisch-Politisch-Juristischem Lexicon von 1736 findet sich online an der Uni Freiburg. Wie die orchestralen Innovationen von Hector Berlioz auf viele Zeitgenossen wirkten, zeigt der Kupferstich aus der Wiener Theaterzeitung, 1846. Pierre Boulez am Steuer der Moderne, in Darmstadt: ein Foto aus den 1960ern (Bildarchiv Internationales Musikinstitut Darmstadt (IMD), Fotograf: Seppo Heikinheimo).