8. März 2024

Screenshot 2024-03-05 200707Heute vor zehn Jahren starb, erst 70 Jahre alt, einer der bedeutendsten Beweger der internationalen Opernwelt, Gerard Mortier (das dpa-Foto zeigt ihn im Jahr 2010). Er war bis 2013 künstlerischer Leiter des Teatro Real in Madrid, blieb dem Haus aktiv verbunden, und sieben Wochen vor seinem Tod – seine schwere Erkrankung war im Jahr zuvor diagnostiziert worden – telefonierte ich mit ihm für eine ZEIT-Reportage, die die schwierige Lage Spaniens und seiner Kultur mit einer von Mortier angeschobenen Uraufführung in Madrid verband: Charles Wuorinens Oper Brokeback Mountain mit dem Libretto von Annie Proulx, zugleich Autorin der zugrundeliegenden (und bereits verfilmten) Short Story. Mortier war im Gespräch ebenso offen und engagiert wie sein 1961 geborener Bewunderer und Nachfolger Joan Matabosch, der seither director artístico des Teatro Real ist und das Haus in Lockdown-Zeiten zum einzigen in Europa machte, das im Mai 2020 wieder öffnete und in dem bald regelmäßig vor Publikum gespielt wurde – mit einem ausgefeilten Hygienekonzept. Auch sonst ist seit 2014 so viel geschehen, dass meine Geschichte aus jenem Jahr weitgehend nur noch als Zeitdokument gelesen werden kann. Aber eben auch als kleine Erinnerung an einen großen Europäer.

Zerbrochene Träume

Die Oper als Seismograph: Was an Madrids Teatro Real passiert, erzählt viel über ein Land in der Krise. Und darüber, wie man aus künstlerischen Erfolgen Stricke dreht. [aus DIE ZEIT vom 6.2.2014, hier neu ediert aus Anlass des 10. Todestags von Gerard Mortier am 8. März 2014]

Screenshot 2024-03-05 200256Tom Randle (li.) und Daniel Okulitch als schwules Liebespaar in der Opernfassung des Kinofilms “Brokeback Mountain” im Teatro Real in Madrid © Carlos Alvarez/​Getty Images

Die große Liebe, sie stört. Der Umsturz liegt in ihrer Natur. Die Liebenden selbst fürchten sich davor fast so sehr wie vor der Reaktion der anderen. “I ain’t no queer”, sagt Ennis Del Mar nach der ersten Nacht mit Jack Twist im Zelt, er sei nicht schwul. Da ist was dran. Wenn es zwischen zwei Cowboys in den Bergen von Wyoming so funkt wie einst zwischen Tristan und Isolde, geht es weniger um Sex als ums Fortgerissenwerden – und die Repression, mit der die Gesellschaft auf jegliche Grenzverletzung reagiert. Aber Grenzen können verschoben werden, in der Kunst sogar unmittelbar, vor aller Augen. Darum ist Gerard Mortier vor gut drei Jahren als Opernintendant nach Madrid gegangen.

Darum hat er jetzt Brokeback Mountain uraufgeführt und das Teatro Real im Herzen der spanischen Hauptstadt auch sonst zum Ort unbequemer Auseinandersetzungen gemacht. Mortier ist der Europäer schlechthin, vielsprachig, visionär. Seit über 30 Jahren ersinnt er Schocks und Konzepte, die das Musiktheater zwischen Brüssel und Paris gründlich erneuert haben. Nur in New York warf er 2008 das Handtuch, rechtzeitig: Die City Opera, mit der er der Met die Stirn bieten wollte, ging pleite. Als Souvenir blieb die bereits bestellte Oper Brokeback Mountain übrig. Die nahm er mit nach Madrid.

Der Mann, der stark genug war, Karajans Schatten aus Salzburg zu vertreiben, hält Theater für politisch. “Das haben die Spanier schon richtig verstanden”, sagt er sarkastisch am Telefon. Denn vor gut vier Monaten enthob die konservative Regierung den Belgier seines Postens – kurz nachdem seine Krebserkrankung bekannt geworden war, kurz nachdem er, frech wie immer, erklärt hatte, er sehe für seine Nachfolge keinen Spanier. Aber das ist nur die einfache Version einer Geschichte, die viel über ein kompliziertes Land erzählt.

Wäre Spanien tatsächlich erstarrt, dann hätte Charles Wuorinens Oper über zwei Männer, die ihre Liebe entdecken und verstecken, den Skandal auslösen müssen, den die Konservativen im Teatro Real befürchteten. Dann hätte nicht vor der Uraufführung ein zwar schmal gewordener, aber glänzend aufgelegter Mortier, faktisch noch Herr im Haus, vor Dutzenden internationalen und nationalen Medienvertretern der katholischen Kirche empfehlen können, besser ihre Probleme zu lösen als die Homosexualität zu geißeln – womit ihn El País prompt zitierte. Dann hätte nicht in der zweiten Vorstellung ein Publikum gejubelt, in dem von Pelzdamen bis Hipstern kaum eine Spezies fehlte.

Während sich hier das liberale Spanien versammelt und die Partitur des finnischen Amerikaners Charles Wuorinen ihren subtil machtvollen Sog entfaltet, zeigen die brutalen Sparmaßnahmen andernorts keineswegs nur die Wirkung, die jetzt Spaniens Banken aufatmen lässt. Mittelständler mit Hochschulabschluss sitzen auf der Straße, rund ums Opernhaus machen sich Akkordeon spielende Senioren die Plätze streitig. Jeder Vierte ist arbeitslos, und die Entscheidung, zehn Milliarden Euro in den Bereichen Bildung und Gesundheit zu sparen, hat im vorigen Jahr mehr als 46.000 Arbeitsplätze allein im Bildungssektor vernichtet. “Die spanische Katastrophe”, sagt der katalanische Opernregisseur Calixto Bieito, “ist eine der Bildung.”

Bieito, ein so radikaler wie erfolgreicher Psychorealist, ist in Basel zu erreichen – wie viele andere hat der 50-Jährige Spanien verlassen. Dort erlebte die Kultur, unter Francos Diktatur praktisch verwüstet, nach 1975 einen durchaus prekären Boom. “Die Demokratie hat uns europäisch und reich gemacht”, sagt die Konzertmanagerin Maria Goded, Jahrgang 1966, “aber wir sind mit dem Geld nicht gut umgegangen. Und die Kultur, vor allem die Musik, ist nicht ein so wichtiger Teil der Gesellschaft wie in Frankreich und Deutschland.” Seit das Geld knapp wurde, stehen viele Säle leer, außer im reichen Norden. Und die Opernhäuser erweisen sich nicht nur als Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern oft genug als deren erste Opfer.

Das traditionsreiche Liceu in Barcelona ist infolge der Kürzungen bankrott. Man spielt trotzdem weiter und hofft auf eine Lösung. Dagegen zeigt sich am 2005 eröffneten Opernhaus von Valencia ein anderer Grund der Krise – hemmungslose Steuerverschwendung. 400 Millionen Euro kostete der Renommieravantgarde-Bau des Architekten Santiago Calatrava. Wegen eines Dachschadens kann das Haus derzeit nicht bespielt werden, ohnehin fehlt der Region das Geld – sie ist hoch verschuldet und gilt als Paradies der Korruption. Eine weitere traurige Attraktion des Südens ist der Flughafen von Ciudad Real, für eine Milliarde Euro gebaut, mittlerweile leere Konkursfläche. “Der wird für 100 Millionen angeboten”, sagt Gerard Mortier, “also werden 900 Millionen verschenkt, während wir uns das Blut aus den Adern sparen.”

Screenshot 2024-03-05 200707Gerard Mortier, 25. November 1943 – 8. März 2014, im Jahr 2010 (Foto: dpa)

Am Teatro Real mit seinen 1800 Plätzen konnte nur die vermögende Stiftung des Hauses die jüngste Subventionskürzung von 28 auf 12 Millionen Euro auffangen – halbwegs, denn der Gesamtetat ist in drei Jahren um 14 auf 42 Millionen abgesackt. Münchens Nationaltheater hat mehr als das Doppelte und ist nicht halb so innovativ. Wer Brokeback Mountain in Madrid erlebt, muss hoffen, dass dieses Niveau gehalten wird – denn hier verbindet sich gesellschaftlicher Diskurs mit unabweisbarer Qualität. Die Oper, zu der Annie Proulx, Autorin der bitter klaren Short Story, selbst das Libretto geschrieben hat, ist besser als der Film.

Mit Kassenrekorden wurde dessen Regisseur Ang Lee dafür belohnt, dass er dass Verstörende und Elementare dieser Männerliebe in eine konventionelle Optik packte. Dem setzt der 75-jährige Komponist Charles Wuorinen nun keineswegs krasse Zuspitzungen entgegen, sondern eine aus Tendenzen der zwanziger Jahre weiterentwickelte organische Klangwelt. Im Schmerz glüht später Mahler auf, bei der Familienkrise assistiert neobarocker Strawinsky, es wozzeckt in der Kneipe, es gibt auch filmmusikalisch schwarze Tiefen mit Klavier und Kontrafagott.

Diese vermeintlich überholten Mittel bilden ein mitwanderndes Orchestergewebe, halb kristallin, halb vegetativ, in dem die kalte Kraft des Berges zu hören ist, die Weite, in der man Nähe sucht, das aber auch liebevoll die Stimmen trägt und viel über die beiden Männer und ihre Frauen erzählt. Regisseur Ivo van Hove und Bühnenbildner Jan Versweyveld arbeiten behutsam und genau. Mal Projektionen hinter karger Spielfläche, mal Möbel, starr sortiert wie im Einrichtungshaus, fürs triste Familienleben.

Das Zerbrechen des Gewohnten einerseits, das von Lebensträumen andererseits – die Ausweglosigkeit ist das Thema, mit dem dieses Werk der spanischen Gegenwart so schmerzhaft nahekommt. Für Gerard Mortier ist die Produktion ein Triumph, der erst recht die Frage aufwirft, warum man sich so brüsk von ihm trennte, um ihn dann, zum Berater degradiert, doch noch für ein Jahr zu behalten, und warum selbst der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, Vorsitzender des Opernrates in Madrid, nicht die Stimme erhob. “Er hat nicht mal gesagt, ich hoffe, es geht Ihnen gut”, meint der 70-Jährige und sieht einen Grund der spanischen Krise auch darin, “dass es Intellektuelle nicht wagen, sich zu äußern”. Spätestens mit einer Oper über die Ermordung Federico García Lorcas, Ainamadar von Osvaldo Golijov, dürfte er sich 2012 bei den Konservativen unbeliebt gemacht haben.

Wohl auch wegen seiner Homosexualität wurde der Dichter Lorca zu Beginn des Bürgerkrieges von Francos Leuten erschossen. Und als vierzig Jahre und viele Morde später die Diktatur endete, “versuchten wir, Frieden zu halten und die Vergangenheit zu vergessen”, sagt Calixto Bieito. Das funktionierte nicht, aber noch immer stößt jeder auf Widerstand, der eine Auseinandersetzung will. Mortier schwärmt von Deutschland: Hier habe man sich mit der Vergangenheit beschäftigt “wie nicht einmal die Franzosen”. Was könnten die Deutschen denn umgekehrt von den Spaniern lernen? “Zurzeit höchstens, wie man Bier aus Plastikeimern trinkt.” Nein, diplomatisch ist er wirklich nicht.

Sein Nachfolger und Bewunderer Joan Matabosch ist es dafür umso mehr. Noch Leiter des Liceu in Barcelona, steht der 52-Jährige bereits als “Director Artistico” im Programmheft des Teatro Real, sieht sich aber einstweilen nur als Assistent. Mortier sei der Chef, sooft es ihm die Behandlung seiner Krankheit erlaube. Und eben die habe im vorigen September Panik ausbrechen lassen, man habe das Schiff führerlos gesehen. “Es waren ein paar verrückte Tage, nach denen aber jeder wieder Vernunft annahm.” Als man ihn, Matabosch, anrief, habe er gleich gesagt: “Wenn Sie jemanden suchen, der genau das Gegenteil von Mortier macht, wie sein Nachfolger in Paris, dann komme ich nicht.” Der Geschmack des spanischen Publikums habe sich massiv gewandelt – man wolle das Regietheater.

Die Frage ist nur, ob eine Regierung überhaupt Kultur will, die für ebendiesen Bereich die Umsatzsteuer von 8 auf 21 Prozent erhöht hat, während Fußballfans wie Regierungschef Mariano Rajoy nur 10 Prozent zahlen. Da wird Matabosch in seinem Büro richtig laut. “Es ist lächerlich! Das hindert das Publikum daran, zu kommen, und 21 Prozent von einem leeren Platz sind – zero!” Leute freilich, die von der Krise in krasse Armut getrieben werden, wie Rafael Chirbes sie in seinem neuen Roman Am Ufer beschreibt, werden wohl niemals in die Oper gehen. Und auch jene nicht, denen Calixto Bieitos Mutter regelmäßig Essen aus dem Supermarkt holt. “Mit etwas so Teurem wie einem Opernhaus”, sagt die Managerin Maria Goded pragmatisch, “kann man keine Revolution machen.” Aber dort, gerade dort, wo Töne und Themen das Gemeinsame berühren, könnte eine Diskussion beginnen.

Als Ennis, Vater zweier Kinder, sich scheiden lässt, 20 Jahre nach der Nacht in den Bergen, macht sich Jack Hoffnungen. Können sie nicht eine Ranch aufmachen, zusammen leben? Ennis ist angststarr. In Wyoming sind Schwule umgebracht worden, als Junge hat er das gesehen. “Das ist doch lange her. Hat sich doch was geändert.” – “Nicht hier. Hier ändern sich die Dinge nie. Werden sie auch nie.” So bleibt die Liebe ungelebt, das Leben ohne Zukunft. Weil die, die am stärksten unter Druck sind, keine Bewegung wagen. Calixto Bieito sagt über sein Land: “Ich wundere mich, dass es keine Explosion gibt.” Vielleicht bewegt sich ja doch etwas. Die billigsten Kartenkategorien für alle weiteren Vorstellungen von Brokeback Mountain jedenfalls sind restlos ausverkauft.

Der Text erschien, geringfügig kürzer, am 6. 2. 14 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

1. März 2024

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“Was hat ein Opernhaus mit diesem Kafka zu tun, der sich selbst als unmusikalisch bezeichnete?”, fragt Claus Spahn in seinem Beitrag über “das aufwändigste und experimentellste Musiktheater, das auf einen Stoff von Kafka geschrieben wurde”: Amerika, die 1966 unter Mißfallenskundgebungen des Publikums in Berlin uraufgeführte Oper von Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994), nach Franz Kafkas nicht vollendetem gleichnamigem Roman. Im Magazin und auf der Website der Oper Zürich (Szenfoto oben: Herwig Prammer) findet man neben Spahns Essay einen nicht minder lesenswerten über die fiktiven – und doch nicht so fiktiven – USA des Franz Kafka und ihre Verbindung mit den Vereinigten Staaten unserer Tage. “Mit dem Bruch des Völkerrechts im Irakkrieg haben die USA ihre moralische Hegemonie verloren; ausgerechnet jenes Land, das Europa unter grössten Opfern von Hitler befreite, steht in den Augen der Welt als Heuchler da”, schreibt Thomas Assheuer, bis 2023 Redakteur im Feuilleton der ZEIT, zu deren klügsten Köpfen er nun als freier Autor zählt.

Kafkas Frauengestalten Klara und Therese werden in der Zürcher Produktion – die am Sonntag, 3. März Premiere hat – von Mojca Erdmann gesungen und gesprochen. Darüber (und über einiges andere) habe ich mich mit ihr unterhalten. Das Porträt ist – wie die schon genannten Texte und vieles mehr – auf der Amerika-Website der Oper Zürich zu finden, aber auch auf meiner; eine Interviewfassung ist seit Mittwoch bei VAN online zu lesen. Sie enthält als Video auch das Galgenlied aus dem höchstkarätig besetzten Pierrot Lunaire, den Mojca Erdmann 2021 mit Zubin Mehta, den Barenboims, Emmanuel Pahud und weiteren Musikern realisierte – ein fantastisches Schönberg-Konzentrat aus dem Lockdown, das in Gänze noch seiner Veröffentlichung harrt.

Am Ende noch ein Hörtipp in ganz anderer Richtung: Noch bis zum 14. Oktober ist auf Deutschlandfunk Kultur die Chopin-Sendung Warten, bis der Frühling kommt zu hören – fast zwei Stunden mit den Préludes op. 28, ihren Interpreten und ihren Entstehungsumständen. 2018 für die Reihe Interpretationen produziert, ist die Sendung nun wieder online und herunterladbar. Details und Playlist dazu findet man allerdings nur im Archiv des Senders, nämlich hier.