7. Juni 2024

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“Aber diesmal geht es anders weiter, mit einer Art Klopfen der Töne, dann ruft Strawinsky „Rideau!“, Vorhang, legt kurz die Hände in den Schoß und sieht zu, wie sein Kompagnon taktelang nur Achtelakkorde drischt, mit beiden Händen und mit komischen Akzenten, das erinnert Chouchou an einen Tanzbären im Bois de Boulogne, und dann versteht sie alles: Wie die verrückten streitenden Vögel um den Bären herumfliegen und er sich von der Kette des Bärenführers losreißt und hinter zwei Radfahrern herläuft, die panisch in die Pedale treten, und Leute schreien, Automobile hupen, dann haut der Bär, oder ihr Papa, auch noch eine Trommel kaputt, und plötzlich schwebt von oben eine gute Fee herbei oder so etwas, die beiden Männer schlagen ein paarmal furchtbar wütend in die Tasten, gleichzeitig, dann ist Ruhe, Papa spielt etwas Ruhiges und Tiefes, allein, „sostenuto, Streicher“, sagt Strawinsky leise, Debussy bremst ab, spielt langsamer, dunkler, das Licht wechselt, man ist woanders… nicht hier…”

So zu lesen auf Seite 217 in “Flammen”, demnächst auch live zu hören einschließlich der Passagen aus Le sacre du printemps, nicht mit Debussy und Strawinsky am Klavier, sondern mit Katerina Moskaleva und Alexey Pudinov, dem Duo TWO4PIANO, mit dem zusammen ich am 15. Juni einen Nachmittag bei den Musikfestspielen Potsdam gestalte: “Tanzwut: Paris 1913″ heißt das Programm, es umfasst aber auch einige weitere Jahre und Werke, bis hin zu Ravels La valse. Das Foto oben hat übrigens Erik Satie in Debussys Wohnung in Paris gemacht, im Juni 1910.

“Oper ist Leben, sie ist Realität, und sie spricht dauernd von Realität. Sehen Sie sich doch nur um, was in der Welt passiert”, sagte Maria Agresta am Ende unseres Gesprächs während der Proben zu Verdis I vespri siciliani in Zürich. Die süditalienische Sopranistin singt die Hauptrolle der Elena in der Inszenierung von Calixto Bieito, die an diesem Sonntag Premiere hat. Ein ganz anderer Blick hinter die Kulissen öffnet sich, wenn der Inspizient des Hauses von seiner Arbeit erzählt. Felix Bierichs besondere Gabe dafür: “Ich werde ruhiger, wenn die anderen nervöser werden.”

“Wir können die Seele direkt berühren”

Mit ihren Rollenporträts fasziniert Maria Agresta auf den großen Bühnen der Welt. Jetzt probt sie Verdis “Vespri” mit Calixto Bieito in Zürich

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Kahle weisse Wände, eine Decke mit Dämmmaterial, Neonröhren, Heizungsrohr. Eine Frau im einfachen schwarzen Kleid, fast ungeschminkt, die schwarzen Haare offen tragend. Nein, das ist keine Opernszene auf meinem Bildschirm und auch kein Bericht von einer Entführung. Maria Agresta ist bestens gelaunt und nur wenige Meter von der Probebühne der Oper Zürich entfernt, wo es nun mal nicht so komfortabel aussieht wie im Zuschauerbereich. Sie hat sich den stillen Raum für unser Zoomgespräch ausgesucht, und im kargen Ambiente entfaltet sich erst recht, über hunderte von Kilometern hinweg, die süditalienische Energie dieser Sängerin, die noch ganz erfüllt ist von der Partie der Elena in Verdis I vespri siciliani und es mir gar nicht übel nimmt, dass ich über diese Gestalt wenig weiß und das Libretto dieser Oper ziemlich kompliziert finde.

«Es ist wirklich sehr kompliziert», meint sie, «voll mit historischen Situationen, aus der Zeit, als die Sizilianer von den Franzosen unterdrückt wurden. Und es ist auch technisch und vokal schwierig. Elena singt sehr tiefe und sehr hohe Noten. Beweglichkeit, Koloraturen, Legato», sie zählt all die Herausforderungen an den Fingern auf, ihre Hände und Arme, auch ihr Gesicht sind immer in Bewegung, «alles ist in dieser Rolle, und die Emotionen! Die machen es noch schwieriger. Elena ist etwas zwischen Desdemona in Otello und der Elisabetta in Don Carlo, she’s a very strong woman, a real eroina, italian eroina.» Nachdem Maria sich lachend für ihr «terrible English» entschuldigt hat, das gar nicht schrecklich, sondern einfach sehr italienisch ist, fährt sie einfach in ihrer Muttersprache fort. «Elena ist eine Hauptfigur der Revolution. Sie empfindet die ganze Zeit Ungerechtigkeit, was natürlich auf den Mord an ihrem Bruder, aber allgemein auch auf die Gewalt an den Frauen zurückzuführen ist, auf den Überfall auf die Freiheit ihres Volkes.» Und sie sei die intelligenteste aller Frauen bei Verdi.

Die Geschichte um eine liebende Frau im Spannungsfeld zwischen Besatzern und Aufbegehrenden geht auf das 13. Jahrhundert zurück, war aber zur Uraufführung 1855 so aktuell wie heute. Die Sopranistin ist begeistert von Calixto Bieitos Regiekonzept. «Er möchte in erster Linie die Gewalt, die Unterdrückung des Volkes durch die Aggressoren, sei es physische oder psychische Gewalt, herausarbeiten. Es gibt bei ihm diese Verbindung zur Moderne, die aber immer in der Vergangenheit verwurzelt ist. Er weitet diese Sicht auf alle Nationen aus, die unter Unterdrückung litten, und untersucht, wie diese Völker darauf reagiert haben: Der Raub der Sabinerinnen, der spanische Aufstand der Kamisarden. Calixto arbeitet mit starken Bildern, auf der Bühne gibt es halb zerstörte Gebäude, die Ausdruck von Qual und Schmerz sind, sie repräsentieren unser zerrüttetes Inneres als Resultat von erlittener Gewalt, mit der wir umgehen müssen, manchmal ohne uns dagegen auflehnen zu können.»

Wie fühlt es sich an, so eine Inszenierung jetzt zu proben, in dieser Welt voller Gewalt? «Die ganze Zeit», sagt Maria Agresta, nun wieder auf Englisch, «fühle ich, dass die Oper gerade jetzt wichtig ist. Mit so schöner Musik können wir zeigen, was es bedeutet, wenn Menschen unterdrückt und angegriffen werden. Das Leiden durch Gewalt löst bei allen dasselbe aus: In dieser Situation kann ich nicht bleiben! Mit der Musik können wir die Seele direkt berühren und Fragen aufwerfen, auch über das, was in der Vergangenheit war. Manchmal vergessen wir das. Ich kann auch nicht auf Russland, Israel oder Italien schauen, wenn ich nicht weiss, was früher geschehen ist.» Kann all das denn mit einer Oper wachgerufen werden? «Nachrichten in den Medien sind oft gefiltert und politisch. Die Musik verbindet uns direkt mit einer verzweifelten Situation. Hier kann ich etwas mit meinem eigenen Denken verstehen.» Es ist also möglich, die Wahrheit in der Oper zu finden? «Sì, assolutamente, sì, sì!» Sie strahlt. «In der Oper ist mehr Wahrheit, als wir denken.» Und die Musik selbst, meint sie, habe eine besondere Macht. «Vor vielen Jahren sang ich im Libanon das Verdi-Requiem, auf einem Platz voller Militär und Polizei. Sie hatten große Gewehre.» Sie hebt eine unsichtbare Waffe hoch, gleichsam schussbereit. «Und als die Musik begann…» Sie lässt die Arme langsam sinken. «Es war unglaublich. Daran denke ich immer, wenn ich an die Macht der Musik denke. Sie verwandelt die Menschen.»

Mit dieser Macht kam Maria Agresta zuerst in Berührung, als sie vier Jahre alt war, in ihrem Heimatstädtchen Vallo della Lucania, zwei Reisestunden südlich von Napoli, zwölf Kilometer vom Mittelmeer entfernt. «Der Patron meiner Stadt ist San Pantaleone, der wird im Juli gefeiert. Zu dieser Feier kommen viele bande musicale in die Stadt» – Blasorchester aus Amateuren, wie es sie noch in den 1980ern in unzähligen italienischen Kleinstädten gab –, «und ich konnte da Teilen aus Nabucco, Traviata zuhören, das löste große Gefühle in mir aus. Ich war da mit meinem Vater, und außer uns hörten nur alte Männer und Frauen zu. Ich war das einzige Kind, und ich war so glücklich!» Später, als Maria zwölf Jahre alt war, machte ihre Schulklasse einen Ausflug nach Napoli, auch das berühmte Teatro San Carlo wurde besucht, «und als ich in diesem magischen Gebäude war, fing ich an zu weinen. Das Gefühl war zu groß für mich. Meine Freundinnen machten sich lustig über mich, aber meine Lehrerin lächelte, sie sah, dass ich hingerissen war, rapita, von der Welt dieses Theaters. Ich wollte in dieser Welt bleiben. Nicht als Opernsängerin, das konnte ich mir gar nicht vorstellen, vielleicht in der Kostümwerkstatt – einfach nur dort bleiben!»

Einige Monate später kam sie in den Kirchenchor ihres Städtchens. «Ich fühlte beim Singen Heiterkeit und Glück und innere Ruhe, das kann ich nicht erklären.» Dem Pianisten des Chores fiel ihre Stimme auf, «er schlug mir vor, Unterricht zu nehmen. Ich wollte das machen, aber nur für mich, weil ich sehr gläubig war und fand, dass man mit dem Singen stärker beten kann. Dann stellte mich der Pianist einem Lehrer vor, einem Tenor, der sagte: Du könntest Opernsängerin werden.» Maria nahm Unterricht bei ihm, mit 17 Jahren sang sie im Konservatorium in Salerno vor und wurde aufgenommen. Nun wurde es anstrengend. «Ich ging ja in meiner Stadt zur Schule und musste jetzt um 5 Uhr morgens aufstehen, um Zeit zum Lernen zu haben. An der Schule erwarteten sie meine volle Leistung, für die war das Konservatorium nur ein Hobby. Nach der Schule nahm ich den Zug nach Salerno, von da kam ich spät zurück. Jeder Tag war so. Ich konnte auf keine Party gehen.»

Das Konservatorium verliess Maria mit Bestnoten, aber ihre wahre Stimme, den Sopran, fand sie erst später. «Ich sang als Mezzosopran jahrelang Barock und Sakralmusik, bis ich zum ersten Mal Raina Kabaivanska traf, eine große, einzigartige Lehrerin. Sie half mir, meine Karriere, meine Stimme, meinen Körper zu ändern. Ich sagte für ein Jahr alles ab und übte die neue Technik, mit der Lehrerin, jeden Tag nur sie und ich. 2007 sang ich meine erste Mimì, mein Debüt als Sopranistin, und dann sang ich überall…» Eher beiläufig zählt sie ein paar der Häuser auf, die sie seitdem, von der Scala bis zur MET, in atemberaubendem Tempo erobert hat – was sie allerdings nie so ausdrücken würde. Wichtiger sind ihr ihre Rollen, all die grossen Frauengestalten der italienischen Oper. «In diese Rollen hineinzukommen», meint sie, «ist schwer. Das geht nicht im Zimmer, nur auf der Bühne kann man sie gestalten. Aber wieder herauszukommen ist viel schwerer. Nach Madama Butterfly bin ich innen zerstört, ich muss ihr dann mindestens zwei Tage fernbleiben, der Schmerz bleibt lange. Dasselbe ist es mit Desdemona. Die Liebe ist so zerbrechlich! Wenn der Mann, den du liebst, fähig ist, dich zu töten… Ich fühle das am Tag danach in mir wie zerbrochenes Glas.» Erstaunlich, sage ich, dass diese Gestalten bei aller historischen Entfernung so nahe sein können. Maria Agresta lächelt und sagt: «Oper ist Leben, sie ist Realität, und sie spricht dauernd von Realität. Sehen Sie sich doch nur um, was in der Welt passiert.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 113 der Oper Zürich, Juni 2024, und auf der Website des Hauses. I vespri siciliani hat am 9. Juni 2024 Premiere. Dirigent ist Ivan Repušic, Calixto Bieito ist der Regisseur. Das Foto entstand auf der Probebühne.

“Ich werde ruhiger, wenn die anderen nervöser werden”

120 Fahrten mit vier Podesten und was ein Inspizient noch alles hinkriegen muss: Felix Bierich erzählt, was er hinter der Bühne macht

Seine Stimme habe ich sicher schon oft gehört, in der Cafeteria des Zürcher Opernhauses, über die Gespräche und das Tassenklirren hinweg aus dem Lautsprecher kommend, den Chor zum Einsatz bittend, oder die Musiker, freundlich und unerbittlich und minutengenau zur Arbeit aufrufend. Aber anders als sie verband ich niemanden mit dieser Stimme. Irgendwer muss diese Ansagen ja machen… Naja, es ist nicht irgendwer. Es ist der, bei dem sämtliche Fäden einer Produktion zusammenlaufen, während er in einer Ecke hinter der Bühne an einem Pult mit Monitoren und Knöpfen steht, mit Headset und Klavierauszug versehen, und nicht nur minutengenau, sondern auf Sekunden und auf Millimeter genau die Koordination sichert, auch und gerade dann, wenn das Schiff auf hoher See ist, in der Vorstellung. Der Inspizient.

Aber jetzt sitzt Felix Bierich gerade gemütlich in der Wohnküche seiner Familie und gibt mir Nachhilfe per Fernstudium. Mit Zoom umgehen wir den aktuellen Bahnstreik, und Herrn Bierich merkt man an, wieviel er in seinem Job ohnehin über Mikro und mit Technik kommuniziert. Er ist ganz da und sehr entspannt. Pullover, Bart, Lachfältchen, klare baritonale Stimme. Er hat, wie sich erweisen wird, als Schauspieler begonnen, aber den Job in Zürich macht er seit 20 Jahren, einer von fünf Inspizient:innen des Hauses. Das Wort ist dem «Inspektor» nicht fern und klingt nach einem, der die Einhaltung von Regeln beaufsichtigt – was er im Theater des 18. Jahrhunderts auch tat. «Das englische ‹stage manager› trifft es ein bisschen besser», meint er, «man ist Pilot des Abends».

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Nur ist dieser Pilot für Außenstehende «möglichst nicht wahrnehmbar», auffallen würde er nämlich erst, wenn etwas schiefgeht. Und wenn Felix Bierich erzählt, was beim anstehenden Rheingold die «challenge» ist – er teilt sich den kompletten Ring mit einer Kollegin, die die mittleren beiden Abende übernimmt –, sieht man ein reiches Potential für Pannen vor sich. «Rheingold hat etwa 30 Fahrten mit der Scheibe. Da sind vier Viertel als Räume auf der Scheibe aufgeteilt, es gibt zwei komplette Ausstattungen für das Wohnzimmer in Walhall, dazwischen ist möglicherweise mal das Bild mit dem Stuhl, das dreht nach links raus, von rechts kommt aber schon wieder das Mobiliar angefahren, und das zweite Wohnzimmer wird hinten in kurzer Frist von der Bühne gewuchtet, weil da schon wieder Nibelheim aufgebaut wird…»

Die Bewegung der Drehscheibe ist vom Tempo des Dirigenten abhängig, den der Inspizient auf einem Monitor sieht, «manchmal kann es plötzlich viel schneller oder langsamer sein», und so sagt Bierich dem steuernden Maschinisten neben sich «plus» oder «minus», während er zugleich per Knopfdruck Zeichen für die Auftritte gibt: Pünktlich müssen die Sängerinnen und Sänger in die Räume gestellt werden. Per Funk sorgt er dafür, dass auf der Bühne im richtigen Moment eine Tür auf- und zugemacht wird. Immer wieder schaut er in seinen mit Anmerkungen übersäten Klavierauszug. «Es wird nervenaufreibend, wenn man bei Wagner nicht am Notentext bleibt.» Und zwischen all den Einzelaktionen muss er noch ein Gespür für den «Flow» des Ganzen entwickeln, «dass man merkt, wo geht das hin? Das Feingefühl für das Timing innerhalb des Stückes hängt unmittelbar mit Stimmung und Puls des Dirigenten zusammen und mit den Sängerinnen und Sängern, wie die drauf sind.»

Mir schwirrt schon der Kopf, und dabei erzählt Felix Bierich wirklich entspannt von all den «Vorgängen», die er da koordinieren muss. Er hat jetzt etwas Ruhe nach dem «Rausch», wie er das nennt, der letzten Wochen und Monate, als er nacheinander die Wiederaufnahmen des Tanzstücks Nachtträume, des Musicals Sweeney Todd, der Italienerin in Algier und schliesslich die Pioniertat Amerika auf Kurs hielt. Ehe ich ihn fragen kann, wie er mit dem Stress umgeht, sagt er selbst, «irgendwann dachte ich, es ist immer irgendwie aufregend, ob mir das nicht irgendwann aufs Herz schlägt? Aber zugleich wurde die Routine größer.» Und eine besondere Gabe hat er schon am Anfang seiner Inspizientenlaufbahn entdeckt: «Dass ich ruhiger werde, wenn die anderen nervöser werden.»

Zur Bühne hat es Felix Bierich aber noch früher gezogen. 1964 in Hamburg geboren als Sohn eines Kinderarztes und einer Sportgymnastik-Trainerin, die nach Tübingen zogen, als er vier Jahre alt war, wollte Felix mit sechzehn Jahren Tanz studieren und wusste, «wenn das nicht klappt, werde ich Schauspieler». Den Tanzaspiranten lehnte die Kölner Hochschule ab, der Theaterhungrige fand – nach Abitur, Bundeswehr und nachträglicher Kriegsdienstverweigerung – einen Platz an der Schauspielschule in Saarbrücken, lernte dort umgehend seine Frau kennen, und mit einem Umweg über die Frankfurter Off-Szene landeten die beiden 1990 im thüringischen Altenburg, noch vor dem offiziellen Ende der DDR, und machten dort Theater mit Kindern und Jugendlichen.

«Mir kam dann die Idee mit der Regie, und ich habe in Bayreuth angeklopft», sagt Felix Bierich, der mit acht Jahren Klavierunterricht bekommen hatte und keine Sorge haben musste, «in der Prügelfuge der Meistersinger rauszufliegen». Tatsächlich durfte er dem 77-jährigen Wolfgang Wagner beim Inszenieren dieses Stücks assistieren, «mit seiner Tochter Katharina, die noch in der Schule war». 1997 wurde er Hospitant von Harry Kupfer, dem Intendanten der Komischen Oper Berlin. «Da fragte der Inspizient, ob Kupfer nicht einen von seinen sieben Hospitanten abstellen könnte als Helfer für Pique Dame.» Für Tschaikowskis Dreiakter gab es einen gigantischen Spieltisch, «mit fünf Elementen, bis zu acht Meter lang, die man rausfahren konnte, und diese Fahrten konnte der Inspizient nicht immer selbst steuern… Das habe ich gemacht und dabei gelernt, was ein Inspizient an Timing draufhaben muss, und war schon angefressen, als er fragte, ob ich mir vorstellen könnte, das als Beruf zu machen…»

Ein Traumberuf ist es natürlich nicht dauernd. «Mit manchen Künstlerinnen und Künstlern arbeitet man gern und freut sich, wenn sie wiederkommen, bei manchen freut man sich, dass das Projekt beendet ist… Es muss reichen, wenn ich das schaffe, was als Aufgabe an mich gestellt ist, dass alle zufrieden sind. Es gibt Künstler, die mit wenigen Mitteln erstaunliche Dinge hinkriegen, und andere erreichen mit grossem Trara nicht den kleinsten Effekt.» Bei der jüngsten Produktion Amerika freut es ihn besonders, «dass sie diesen Flow gekriegt hat», denn durch die teils grafische Notation und die Bandzuspielungen war die Koordination dieser Oper von Roman Haubenstock-Ramati eine enorme Herausforderung. Ein «Höllenritt» sei aber Sweeney Todd, «da habe ich 120 Fahrten mit vier Podesten, und dreimal kippt dieser Stuhl», also der Frisierstuhl, aus dem die Opfer des blutrünstigen Barbiers in die Tiefe rutschen, «und es muss so angeordnet sein, dass keiner tief auf die Unterbühne stürzt… das treibt den Puls hoch!» Er lacht, und Snowy bellt, der kleine weiße Hund, der bis dahin brav dem Interview gelauscht hat.

So viel Aufwand für Illusionen, während fürs Kino ganze Katastrophen am Bildschirm entstehen, ohne dass auch nur ein echtes Steinchen aus der Wand fällt! «Unser Sohn macht diese Katastrophen. Er wird 22 und studiert in Luzern Filmanimation. Er ist wohl doch angefressen vom Theatralischen.» Und nicht nur er. Die älteste Tochter von Felix und Sabine Bierich arbeitet selbst schon als Inspizientin in Zürich, und die jüngere studiert Musiktheaterregie in Hamburg.

«Ich denke, dass es immer noch etwas hat, die Bühnenluft, das unmittelbare Erleben, bei dem auch was schiefgehen kann.» Besonders die Sängerinnen und Sänger sind ihm dabei nahe. «Bevor sie auf die Bühne gehen, sind sie in einer besonderen Lage. Sie bringen die Potenz der nächsten Szene mit sich, sie sind wie auf einer Abschussrampe, und ich bin mit der letzte, der ihnen davor begegnet. Manchmal kann man da noch Mut machen. Oder nur bestätigen, dass sie auf dem richtigen Weg sind.» Und damit sie schon in der Garderobe gute Laune haben, erfolgt der Bühnenruf des Inspizienten, soweit er das hinkriegt, in der Muttersprache der Solisten: «Signora Bartoli sul palcoscenico, per favore!»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien zuerst im MAG 110 der Oper Zürich, April 2024, sowie auf der Website des Hauses. Das Foto ist ein bearbeiteter Screenshot aus dem Zoomgespräch mit Felix Bierich.