Klangspuren eines Großbrands

Auseinandersetzungen mit Tod, Angst und Leben: Anton Bruckners Siebte Sinfonie von 1883 und Graciane Finzis Soleil Vert von 1984

Für den Abend des 8. Dezember 1881, ein Donnerstag, hat sich der 56-jährige Komponist, Organist der Wiener Hofkapelle und Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt Anton Bruckner eine Theaterkarte gesichert. Gern möchte er Hoffmanns Erzählungen erleben, die erste deutschsprachige Produktion des letzten Werkes von Jacques Offenbach, der 1880 in Paris gestorben ist, auch in Wien hochgeschätzt. Die Premiere im Ringtheater am Abend zuvor ist ein triumphaler Erfolg gewesen, und für Anton Bruckner sind es nur wenige Schritte dorthin – er wohnt im Haus gleich links neben dem Theater, Heßgasse 7, vierter Stock, mietfrei dank des Bewunderers, dem das Gebäude gehört. Warum sich Bruckner anders entscheidet und am 8. Dezember zuhause bleibt, ist unklar.

Es dürfte ihm das Leben gerettet haben. Als die 1700 Besucher ihre Plätze eingenommen haben und hinter der Bühne die Gasbeleuchtung entzündet wird, kommt es durch technisches Versagen zu einer Explosion, die die Kulissen in Brand setzt und, da es noch keinen Eisernen Vorhang gibt, rasch auch den Zuschauerraum. Die Öl-Notbeleuchtung funktioniert nicht, die panisch Flüchtenden sind einander im Wege. Mit offiziell 386 Toten, wahrscheinlich aber mehr als tausend wird es der schlimmste Theaterbrand der Geschichte. Bruckner erlebt ihn aus nächster Nähe mit, in Angst um seine Noten und seine Wohnung. „Unser Haus wie alle übrigen sind verschont geblieben!“ schreibt er drei Tage später seinem Schwager. „Aber der namenlose Schrecken! Und das unaussprechliche Elend der Vielen geht bis ins innerste Mark!“

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Hat das etwas mit der Siebten Sinfonie von Anton Bruckner zu tun? Begonnen hat er die Komposition des ersten Satzes schon im September im Stift St. Florian, die Blätter gehören zu denen, um die er beim Brand fürchtet. Die Arbeit am neuen Werk folgt umgehend nach Abschluss der Sechsten Sinfonie. Gegenüber deren getriebenem Beginn ist das erste Thema der Siebten ein sanfter, weiter Bogen, der zwei Oktaven umfasst und nach 20 Takten nicht wirklich endet. Doch diese “Ausfahrt ins Freie” (Peter Gülke) wird in der Entstehung  unterbrochen, denn 1882 arbeitet Bruckner am Scherzo, der erste Satz wird erst danach fertig. Der Dirigent Philippe Herreweghe sieht darum im Scherzo eine Reaktion auf die Brandkatatrophe – das Trompetenmotiv zu Beginn als „roter Hahn“ – andere hören dort die Signalhörner der Feuerwehren -, und ein repetiertes Streichermotiv a-h-c-h als Todessymbol, wie die Figur aus denselben Tönen im Confutatis von Mozarts Requiem, das Bruckner zutiefst bewunderte.

Allerdings kann man seinen dritten Satz – erst recht nach dem tragischen Adagio – auch als sehr beschwingte, vorwärtsdrängende Konstruktion wahrnehmen. Ein katastrophisches Scherzo ist eher das seiner Neunten. So legitim die Suche nach einem Programm ist und so nötig, um aus dem zähen Dogma einer „absoluten“ Musik herauszukommen – ein „Programm“ der Siebten findet man jedenfalls nicht in einer buchstäblichen Umsetzung gravierender Erlebnisse, zu denen auch der Besuch des  Parsifal und der Tod Richard Wagners gehören. Als der am 13. Februar 1883 in Venedig starb, war Bruckner in Wien bereits bis zu Takt 177 des Adagio gelangt; erst nachträglich setzte er die „Wagner-Tuben“ ein und stilisierte den Satz zu einer Musik, „die ich zum Andenken meines unerreichbaren Ideales in jener so bitteren Trauerzeit schrieb.“

Vielleicht hat aber Bruckner das Adagio doch von vornherein als Trauermusik konzipiert – für die Brandopfer nämlich. Es ist theologische Symbolik darin. Die Spannkraft der ganzen Siebten hat viel zu tun mit der Haupttonart E-Dur, selten in der Sinfonik bis dahin und weit entfernt von der theologisch konnotierten Lichttonart C-Dur. E-Dur ist zwar selbst eine strahlende Tonart, aber in der Geschichte ihrer Charakteristik auch mit dem Schmerz verbunden („eine verzweiflungs=volle oder gantz toedliche Traurigkeit“ vernimmt Mattheson 1713, und in Chopins Préludes 1839 führen die vier Kreuze auf den Friedhof). Das Verhältnis von E-Dur zu C-Dur wird wortwörtlich zum Thema, wenn man nach der Entfaltung des E-Dur-Dreiklang zu Beginn derartig geschmeidig nach C-Dur gerät, für gerade zwei Takte, dass einem ganz froh dabei zumute werden kann.

Horror und Trauer sind aufgehoben im doppelten Sinn

C-Dur ist die Erlösung, die der Katholik Bruckner auch in Takt 177 des Adagios erreicht, nach langem Anlauf und mit größter Besetzung. Im Finalsatz scheint er auf das ewigkeitliche C-Dur-Glück indessen milde zurückzublicken wie auf eine Gewissheit, die kein Forte mehr braucht: Die Exposition endet nicht, wie es sich zu der Zeit noch gehört, in der Dominante von E-Dur, sondern – zum einzigen Mal im ganzen Œuvre des Komponisten  – in der „falschen“ Tonart: Sechzehn Takte mildes, in sich kreiselndes C-Dur. Man kann also eine Auseinandersetzung mit Tod, Verlust und Erlösung in dieser Sinfonie hören. Aber sie zeichnet keine Traumata nach – sie ist vielleicht das lebenslichteste Werk dieses Komponisten überhaupt. Der Horror des Brandes, die Trauer um Wagner, das alles scheint im doppelten Sinn aufgehoben in dieser Musik.

Es gibt hier keine erkennbaren Zitate aus Wagners Werk, mit einer Ausnahme. Die ist umso spannender. Im vierten Takt des Adagio-Hauptthemas hört man ein Motiv, das Bruckner für sein Te Deum ersann (ebenfalls in diesen Jahren entstanden), für die Worte „Non confundar in eternum“, „in Ewigkeit werde ich nicht zuschanden“. Dieses Motiv wird später Träger der gewaltigen Steigerung bis zum C-Dur-Triumph in Takt 177. Nach ihm beruhigt sich das Geschehen, und die Wagner-Tuben haben ihren sinnigsten Einsatz. Sie setzen zu viert, nur von der Kontrabaßtuba sekundiert, zum „non confundar“-Motiv an (nach Cis-Dur in so unvermitteltem cis-Moll, dass man schon Mahler hört) – und bilden auf ihrem Weg zu einem kleinen Choral den letzten jener langsamen Akkorde, zu denen Wotan seine Tochter Brünnhilde in ihren langen Schlaf küsst, den ein Feuer schützen wird. Bei Wagner dis-c-fis-b, bei Bruckner fisis-e-ais-d.

Man kann seine Sensibilität in dieser Passage nur bestaunen. Im Nadelöhr eines Akkordes, der nicht ausgestellt wird, der sich sanft ergibt, vereint er sozusagen den Beginn eines heidnisch heilserwartenden Schlafs mit katholischer Heilsgewißheit. Da darf immerhin erwogen werden, dass Brucknerer das schützende Feuer um Brünnhilde zusammendachte mit jenem verheerenden, das er so nah erlebte, und dass er dem toten Wagner die Ewigkeit zudachte gemeinsam mit den Offenbach-Besuchern, zu denen Bruckner selbst hätte zählen können (und über die Wagner privat eine seiner menschenverachtendsten Aussagen machte).

Dennoch scheint es, als hätten die Schocks zu Beginn und Ende der zweijährigen Entstehungszeit vor allem die Autonomie und Souveränität befördert, wenn nicht gar die Identität, die Bruckner in diesem Werk, in seinen späten 50er Jahren, entfaltet, und die wohl auch ein Grund für die besondere Beliebtheit dieser Sinfonie ist. Konstantin Floros findet hier – nach den Sinfonien zuvor – die formale Organisation klarer, die Motive einprägsamer, die kontrastierendem Themen „derartig organisch zusammengefügt, dass die Bewegung in ständigem Fluss gehalten bleibt“. Dazu kommen, so Floros, die Kühnheit und Modernität einer musikalischen Sprache, die sich vor allem in der Harmonik zeige, in einem freieren Umgang mit Chromatik und Dissonanzen.

Bruckner wusste das wohl selbst, als er „vornehmlich das Adagio zu schwer zum Auffassen“ fand und für seinen Einstand in Leipzig die Vierte Sinfonie vorschlug. Zum Glück bestand Arthur Nikisch, 29 Jahre alt und Erster Kapellmeister am Stadttheater, auf der Siebten. Bruckners Bewunderer Josef Schalk hatte sie ihm am Klavier vorgespielt, Nikisch war schon nach dem ersten Satz entflammt – und riskierte am 30. Dezember 1884 die Uraufführung, nicht im Gewandhaus, sondern vor dem wagner-affinen Publikum im Stadtttheater. Der bis dahin in Leipzig unbekannte Bruckner wurde mit langem Beifall gefeiert. Auch das dürfte Hermann Levi, den Uraufführungsdirigenten des Parsifal, zur Münchener Erstaufführung 1885 bewogen haben – sie wurde ein Triumph, der Bruckner nachhaltig in die europäische Szene katapultierte.

Wege aus dem Kalten Krieg

Die Orchesterbesetzung, für die hundert Jahre nach der Uraufführung der Siebten Sinfonie, 1984, Graciane Finzi ihr Werk Soleil Vert vollendet, hätte Anton Bruckner sofort wiedererkannt. Es ist seine, bis auf die Wagnertuben, dafür mit je einer Flöte, Oboe und Klarinette mehr, dazu ein Klavier und zwei Schlagzeuger. Es ist das große Orchester der Spätromantik, nach wie vor begehrtes Instrument vieler Komponisten. In den 1980er Jahren entsteht György Ligetis Klavierkonzert, Helmut Lachenmann konzipiert seinTableau, zunehmend werden Komponistinnen mit sinfonisch besetzten Werken international anerkannt – Sofia Gubaidulina mit ihrem Offertorium, Younghi Pagh-Paan mit Sori. Es ist aber auch eine Zeit der Angst, die letzte Phase des Kalten Krieges mit der Möglichkeit finaler Zerstörung, das wachsende Bewusstsein von der Begrenztheit globaler Ressourcen. Endzeitszenarien von Soylent Green (1973) bis The day after (1983) spiegeln das im Kino.

Auch Soleil vert von Graciane Finzi ist eine solche Spiegelung – aber keine Nacherzählung des Films Soylent Green, dessen französischen Titel das Orchesterwerk trägt. Graciane Finzi, 1945 in Casablanca geborene Französin, ist von dieser Dystopie tief beeindruckt. Der Film zeigt eine sozial zerissene Gesellschaft des Jahres 2022, in der mangelnde Ressourcen zu verbrecherischen Geschäften mit der Verwertung von Leichen führen, endet aber mit einem Fünkchen Hoffnung. Das Ende des Films, sagt sie heute, sei ihr wie ein „Ariadnefaden“ immer wieder erschienen, „bewusst oder unbewusst, jedes Mal, wenn ich vor meiner Partitur saß.“ Vor allem sei es ihr um eine „Welt in Bewegung“ gegangen, eine, in der die Unabhängigkeit jedes Einzelnen abhängig ist „von der Bewegung der Welt, die die unsere ist“. Und in der Finzi zugleich die „Schöpfung“ sieht, „die um jeden Preis bewahrt werden muss.“

Dazu passt, dass sie das Orchester „das schönste Instrument der Welt“ nennt. Doch nicht nur Anton Bruckner würde in ihrem Anfangsklang eine Welt am oder schon im Abgrund wähnen. Ein Cluster aller Streicher im Fortissimo, vom tiefsten C bis zum höchsten der Piccoloflöte, die mit Flöten, Klarinette und großer Trommel die Streicher ergänzt, darin ein schnelles Ostinato des Klaviers, immer zwischen elf und fünfzehn Achteln wechselnd. An diesem Rhythmus kann man sich nicht festhalten, um so mehr zieht er uns hinein in ein zutiefst beunruhigendes Geschehen – wenn er später kurz wieder erscheint, haben wir den Eindruck, er sei immer dagewesen, wie eine Rotation, die wir nur vergaßen.

Die Unruhe hat indessen auch filigrane Strukturen, bedingt durch die vielfache Teilung der Streicher, und sie bringt Entwicklungen hervor. Die zu einer ersten Klimax, in eine knappe Trompetenattacke mündend. Und die zu großer Stille, mehrfach. Einer Stille unendlich feiner Farben, in der man aber keine Ruhe findet, sondern schon die nächste Steigerung ahnt. Vielen Wellenbewegungen im Detail entspricht die große, wie eine Art Atmen. Unablässig ist die Musik im Wandel. Dass man beim Hören nicht untergeht, liegt auch an älteren Signalen. Da sind die mittelalterlichen Quintparallen dreier Trompeten, da ist eine exponierte Passage der vier Hörner, die uns auf brucknerische Weise weitertragen. Für drei Takte wird die Welt des Feuervogel gestreift, wenn Trompete, Oboe, Klarinette sich in kurzen Linien verweben, und Strawinskys Sacre grüßt kurz vor Schluss in der abwärtsstoßenden Sextole der Trompeten, die damit kurz vor Schluss auch an ihr erstes Signal erinnern.

Aber ist das ein Schluss? „Ein Ende, das nicht wirklich endet“, schrieb die Komponistin 1984 zur Uraufführung, „vielleicht liegt darin Hoffnung…“ Tatsächlich überrascht das Ende, weil man sich an das große Atmen gewöhnt hat und an sich an einer Stelle etwa zwischen den Extremen der Entfesselung und der Beruhigung glaubt. In diesen Takten gibt es allerdings, wie zu Beginn von Soleil Vert, ein Klavier-Ostinato der besonderen Art. Kein drängender Rhythmus diesmal, sondern, alle zwei Takte, ein Schlag in der Tiefe, eine Cis-Oktave im dreifachen Forte, wie eine Glocke, sieben Mal, der letzte Schlag verhallt lange zwischen Streicherklängen und leise an- und abschwellendem Tremolo der Pauke. Finzis musikalische Sprache, ihre organische Logik ist so beschaffen, dass man da keine Botschaft hören muss. Aber Chiffren setzt sie durchaus, wie Anton Bruckner. Und auch ihre Musik kann ins Freie führen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand im September 2019 für ein Programm des Gürzenich-Orchesters und wurde für diese Website 2023 leicht bearbeitet. Das Foto (gemeinfrei) zeigt die Ruine des Ringtheaters Wien nach dem Brand 1881.

 

1. Juni 2023

> Eine Sopranistin aus der Karibik in einer Zürcher Tram (oder einem Tram, wie es schweizerisch korrekt heisst), eine Mezzosopranistin von der Pazifikküste bei Starbucks – das sind die settings für neue Porträts von Jeanine de Bique und Siena Licht Miller, die fürs Magazin der Oper Zürich entstanden. Das MAG erreicht demnächst die Nummer 103, in der dann auch die Begegnung mit der Sängerin Sondra Radvanovsky nachzulesen ist – vorweg schon mal der Hinweis auf ihren Youtube-Kanal „Screaming Divas“, im ersten Lockdown gegründet als antidepressives Kollegentreff und mittlerweile ein halbes Who is Who der Opernwelt, erweitert um Freunde wie den Songwriter Rufus Wainwright. Noch später im Jahr erscheint ein großes Porträt der Komponistin Rebecca Saunders, die ich für das Magazin der Elbphilharmonie traf, nach der Uraufführung ihres packenden Ensemblewerks „Skull“ in der Kölner Philharmonie.

Einen Komponisten wie Anton Bruckner kann man dagegen nur noch in seiner Musik und ihren Begleitumständen treffen, was über ihn aber wohl mehr erzählt, als er selbst in einem Interview in Worte hätte bringen können. „Alles ist zu spät“, schrieb er einem Freund verzweifelt am 13. Februar 1875, einen Tag, ehe er mit einem Adagiothema in jene Fünfte Sinfonie hineinfand, die ihn aus der Depression führte. Diese und seine Sechste sind inzwischen hinzugekommen zur Ersten, Dritten, Siebten, Achten und Neunten, die ich für das Gürzenich-Orchester Köln neu erkundet habe. Die Zweite wird folgen, die Vierte musste, wegen der Arbeit an „Flammen“, für mich entfallen.

In eine viel jüngere Vergangenheit führen die langen Schatten, die die Ideologisierung der musikalischen Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg wirft. Der Anspruch Adornos, Boulez´, Stockhausens, der Musik von Schönberg aus den Weg zu weisen, hatte weitreichende Folgen. Zeit für den Versuch eines Überblicks mit vielen O-Tönen, nachzulesen und -hören in VAN vom 24. Mai 2023.

“I’m a solo female black traveller”

Jeanine de Bique, Sopranistin aus Trinidad und Tobago, ist seit ihrem Erfolg in Salzburg unterwegs zur großen Opernkarriere. An diesem Tag in der Zürcher Straßenbahn, wo ich sie per Zoom treffe.

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„Können Sie mich verstehen?“ Jeanine de Bique sitzt in der Tram, auf dem Weg zur Probebühne. Es wird diesmal ein road movie, per Zoom und per Whatsapp, improvisiert und in geweiteter Perspektive, vom spätmittelalterlichen England des Edward II. bis in die Karibik, zur Insel Trinidad, auf der Jeanine groß wurde und sich wohl allerlei träumen ließ, aber nicht, dass sie mal in einer Zürcher Tram in ein Smartphone blicken und über Isabel reden würde, die Gattin des schwulen Königs Edward, in deren Rolle sie sich für Lessons in Love and Violence gerade hineinarbeitet. „Ich weiß nicht, wie es ist, eine Königin zu sein,“ meint sie, während Hausfassaden hinter der Scheibe vorbeiziehen, „ich weiß auch nicht, wie es ist, reich zu sein. Aber ich weiß, wie es ist, an etwas festzuhalten, woran ich sehr hart gearbeitet habe. Isabel hat viel zu verlieren, das ist für mich ein guter Ausgangspunkt, um in die Rolle einzutauchen.“

Und damit ist Jeanine eigentlich schon bei sich selbst, denn sie hat sehr viel erkämpft und gewonnen, seit sie und andere ihre Stimme entdeckten, auf jener Insel im karibischen Meer vor Venezuela, die nicht gerade zu den gängigen Startorten für Opernkarrieren zählt. Längst wird die Sopranistin hoch gehandelt, sie sang bei den Londoner Proms und in der New Yorker Carnegie Hall, wurde bei den Salzburger Festspielen als Annio in Mozarts Titus gefeiert und als Händels Alcina in der Pariser Oper, an die sie kürzlich als Susanna in Mozarts Le nozze di Figaro zurückkehrte. Das werden die Fahrgäste in der Tram kaum vermuten – sie sehen eine lässig gekleidete junge Frau, die so unbekümmert plaudert, als säße sie mit mir in der Opernkantine, und mit gewissen Vorurteilen gegenüber der Karibik aufräumt, ehe sie überhaupt zum Vorschein kommen können. Zum Beispiel sei es nicht so, dass man dort nur dem Calypso fröne, dem synkopischen, tanzbaren Gesang, den sie natürlich auch beherrscht.

Sie ist, wie nicht wenige im Zweiinselstaat Trinidad und Tobago, als Christin mit dem anglikanischen Gesangbuch aufgewachsen, das die Briten, Kolonialherrscher bis 1958, mitbrachten, und in dem wiederum finden sich etliche Choräle von J.S.Bach. „Anfang dieses Monats sang ich meine erste Matthäuspassion, in Rotterdam, und fand da so viele Melodien, die ich schon als Baby kannte“, sagt sie lachend, „nur mit anderem Text. In meinem Land gibt es so viel Musik, alles dreht sich darum, auch Chorvereine sind eine große Sache.“ Dazu kam, dass ihre alleinerziehende Mutter, eine Botanikerin, Gitarre und Klavier spielte. „Wenn man so von Musik umgeben ist, müssten eigentlich alle Musiker werden, aber die eine meiner Schwestern wurde Ärztin, die andere Physiotherapeutin“. Inzwischen ist sie der Tram entstiegen, macht sich singend mit ein paar improvisierten Calypsotakten Luft, lacht und gesteht, dass sie als Jugendliche keineswegs Opernarien hörte (ohnehin hielt sich der karibische Sender, der auch Klassik spielte, nicht lange), sondern am liebsten die Kassette mit Barbara Streisands Broadway Album von 1985, „ich wusste gar nicht, was Broadway ist, kannte aber alle Lieder und Texte.“ Und sie lernte Klavierspielen, das war auch eine ihrer Berufsoptionen neben Psychologin und Rechtsanwältin.

„Ich wusste nicht, was ich wollte – nur, dass ich die Pflicht hatte, sehr gut zu sein, wenigstens so gut wie möglich.“ Derweil fiel beim Chorsingen ihre Stimme auf, sie sang auch solistisch, „vieles fiel mir leicht. Als ich sechzehn war, fragte mich die Gesangslehrerin an der Secondary School, ob ich nicht Privatstunden nehmen wollte, um an einem regionalen Wettbewerb teilzunehmen.“ Sie hatte Erfolg. Was Oper ist, wusste sie da immer noch nicht richtig, aber Gesang sollte es sein, und für ein professionelles Studium musste sie die Insel verlassen – gen Norden, zur Manhattan School of Music. Für den Flug, für die Unterkunft musste erstmal Geld gesammelt werden, und sie brauchte ein Visum, es war eine völlig neue Welt, in die sie da geriet.

„Und es war anfangs keineswegs glanzvoll. Ich war mit 20 Jahren zwei Jahre älter als meine Kommilitonen, und ich hatte einen Akzent – natürlich bin ich mit Englisch aufgewachsen, aber wir benutzen andere Worte, und in New York klingt es wie ein Dialekt.“ Hilda Harris wurde ihre Gesangslehrerin, eine afrikanisch-amerikanische Mezzosopranistin, und es war der Klavierbegleiter und Korrepetitor Warren Jones, der ihr zu ihrem ersten schulinternen Bühnenauftritt verhalf – eine Nebenrolle in Bernsteins Einakter Trouble in Tahiti – und ihre Liebe zu den Liedern Hugo Wolfs entflammte. Und René Fleming war es, der sie ihr allererstes Live-Opernerlebnis verdankte, mit 21 Jahren: Fleming gab 2007 ihr Rollendebüt als Violetta in La Traviata an der MET.

Nun hat Jeanine die Probebühne in Zürich erreicht, meine Zoomverbindung bricht zusammen, macht nichts, wir wechseln zu WhatsApp, jetzt wird ihr Akku knapp, macht auch nichts. „This is hooorrible“, singt sie fröhlich, dann höre ich sie zu einem Kollegen sagen: „Hast du ein Ladegerät?“ Das passt alles ganz gut zu ihrem Leben im Transit, voller Übergänge und Ungewissheiten, aber auch voller Fäden, die nicht verloren werden, sondern neu verknüpft. René Fleming zum Beispiel hat später ihre junge Kollegin beraten, als die sich auf ihre Pariser Alcina vorbereitete. Aber an solche Engagements dachte Jeanine de Bicque noch gar nicht, als sie 2008 einen ersten Preis bei den  Young Concert Artists International Auditions errang und sich auf eine Karriere als Konzertsängerin einstellte. Bis das Theater Basel, auf Talentsuche in New York, sie nach einem Vorsingen einlud, für ein Jahr an der Nachwuchsförderung in Basel teilzunehmen. Mit Auftritten natürlich – zum Beispiel in Christoph Marthalers morbider Inszenierung der Großherzogin von Gerolstein im Jahr 2010.

Es folgte ein Jahr Wien, und es folgte immer mehr. Kopenhagen, Montpellier… So schön das ist, kann es einen nicht auch aus der Kurve tragen? Überwältigen? Sie denkt nach. „Seit Basel hatte ich einen Agenten, mit dem ich planen konnte, der mein Guide wurde… War es überwältigend? Es war auch aufregend, und es konnte auch extrem einsam sein. Aber wirklich einsam ist man nie, es gibt so viel zu entdecken. In New York habe ich gelernt, mit allem Unvertrauten klarzukommen. Ich weiß aber noch, wie ich mich in Basel gefreut habe, ein Starbucks zu finden, das war vertraut. Und dann konnte ich mir die hot chocolate dort nicht leisten! Das war zum Weinen. Aber seitdem ist mein Leben epically different geworden“, sie lacht wieder. „Als ich in Wien war, im young artist program, hatte ich ein vision board, so eine Liste mit Zielen. Darauf stand: ,Ich werde in der Oper Zürich auftreten‘. Da bin ich nun. Das ist ein Wunder. Aber ob ich angekommen bin? I´m a solo female black traveller…“

Die Probe geht los, in der Pause meldet sie sich wieder. Ich möchte wissen, ob es sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich anfühlt, ein solo female black traveller zu sein. „Ich würde sagen, man muss überall die ganze Zeit aware and alert sein, bewusst und wachsam. Es gibt noch viel Arbeit zu tun in der Gesellschaft, auch wenn Fortschritte da sind. Leontine Price ist eine, die ich bewundere. Sie und andere African American stars wurden groß in einer Epoche, die sehr schwierig war. Sie haben für uns den Weg gebahnt als schwarze Sänger. Und ich wiederum erreiche über die social networks Leute, die nicht die Möglichkeit haben, in die Oper zu gehen, die gar keine Ahnung von Oper haben, aber die berührt sind von dem, was ich mache.“ Ihr folgen auf Instagram fast 30.000 Fans. „Sie können sich identifizieren mit einer, die aussieht wie ich. Das ist mir wichtiger als das größte Opernhaus.“

Von welcher Rolle träumt sie? Aus dem Pausentrubel hat sich Jeanine in ein schattiges Zimmer zurückgezogen, auf dem Bildschirm kann ich ihr Gesicht fast nur noch in Umrissen sehen, als sie mit gedämpfter Stimme sagt: „Desdemona.“ Die traditionellerweise weiße Frau, die der traditionellerweise schwarze Otello aus Eifersucht erwürgt. Bei Jeanine de Bique könnte es sein, dass das mal ganz anders endet. „Ich will positive Änderungen bewirken mit allem, was ich tue.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 102 der Oper Zürich, Mai 2023. Für diese Website wurde eine Überschrift ergänzt und aus dem schweizerischen Neutrum für “Tram” das in Deutschland gebräuchliche Femininum. George Benjamins Oper Lessons in Love and Violence ist noch bis zum 11. Juni in der Oper Zürich zu sehen. Dem Trailer zu dieser Produktion ist der Screenshot mit JdB als Königin Isabel entnommen.