“It was always dancing. Didn’t matter how.”

Nancy Osbaldeston erzählt, wie sie aus Südengland über Manchester, London und Antwerpen ans Ballett der Oper Zürich kam. Und warum Spitzenschuhe auch gut für die Avantgarde sind.

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Für ein Städtchen von nur 3500 Einwohnern hat Cuckfield, den Kuckuck im Wappen tragend und sechs englische Meilen von der Kanalküste entfernt, erstaunlich viele «notable people» zu verzeichnen. Romanciers, Theologen, Schauspieler, Wissenschaftler, Sportler. Der Jüngste auf der Liste ist ein Cricketspieler, die Zweitjüngste eine Tänzerin. Die kam hier zur Welt und in einen Kindergarten, in dem sich jeden Freitag eine Ballettlehrerin einfand. Nancy, erklärte sie den Eltern der Dreijährigen, sei das einzige Kind, das wirklich exakt im Takt der Musik hüpfe. Was sie davon hielten, wenn sie Unterricht bekäme? «I think I loved it from the beginning», sagt Nancy Osbaldeston, seit dem vergangenen August Erste Solistin im Ballett Zürich.

Wir sitzen in einem kleinen Garderobenraum des Opernhauses, der weder an Südengland denken lässt noch ans Ballett, wenn man mal vom Klavier absieht und den Spiegeln, die in Nancys Metier keine geringe Rolle spielen, und ich prüfe besorgt die Distanz zwischen Aufnahmegerät und Tänzerin. Was nämlich in ihrem Metier gar nicht gebraucht wird, ist eine laute Stimme, wobei immerhin, wie ich noch lernen werde, längst auch Tänzerinnen auf der Bühne Töne, Worte, Geräusche von sich geben dürfen. Ein einziges Mal wird Nancy Osbaldeston laut in dieser Stunde, aber Worte verwendet sie dabei nicht.

Jetzt brauche ich erstmal Nachhilfeunterricht in Sachen Tanz, und den erteilt sie mit leiser Stimme und in hohem Tempo. Sie hat viel zu sagen, zuallererst über William Forsythe, den legendären amerikanischen Choreografen, in dessen In the middle, somewhat elevated Nancy ein grosses Solo hat. «Es ist ein ikonischer Klassiker, ein Traum für Tänzer, ich liebe es. So lange her, 1987, und immer noch so gut. Er hat eigentlich kein Thema. Es ist einfach nur Tanz, purer Tanz, dancing at hardest: Wie weit kann man gehen?» «Ist das das Gegenteil eines Handlungsballetts?» «Ja und nein. Selbst wenn ein Stück keine Story hat, findest du manchmal eine, Beziehungen, Verbindungen. Schon wenn sich zwei Personen die Hände reichen, ist da eine Art Dynamik.»

Es komme auch darauf an, mit wem sie tanzt. Mit dem einen Partner könne etwas anderes entstehen als am nächsten Abend mit dem anderen. «Very minimally, but I ’ll feel the difference, ich weiß nicht, ob es dem Publikum auch so geht, wahrscheinlich ja. Und selbst mit nur einer Person kann eine Geschichte entstehen, je nachdem, wie ich einen Rhythmus interpretiere oder bestimmte Dinge akzentuiere. Vielleicht kommt da die Geschichte meiner Persönlichkeit zum Vorschein?» Sie lacht. Es wäre die Geschichte einer ziemlich entschlossenen Persönlichkeit, für die es nie einen Plan B gab. «It was always dancing. Didn’t matter how.» In Manchester, wohin die Familie zog, als Nancy fünf Jahre alt war, tanzte sie in der Schule und lernte auf Wochenendkursen, mit sechzehn bewarb sie sich an verschiedenen Tanzschulen, wobei klassisches Ballett nur eine von vielen Optionen war. «Ich wollte nur tanzen, egal was und wo, es hätte auch auf einem Kreuzfahrtschiff sein können!»

Es wurde aber die English National Ballet School in London, und nach drei Jahren dort wurde Nancy am English National Ballet engagiert. Aus ihrer Zeit dort habe ich ein Interview gefunden. «Was habe ich gesagt? Wer war ich da?» Sie war 24 Jahre alt, als man sie fragte, wie sie sich die Zeit nach dem Tanzen vorstelle. «Ich höre nicht auf», sagte sie damals. «Ich eröffne eine Compagnie für alte Tanzpensionäre, damit ich noch auftreten kann, wenn ich Großmutter bin.» Sie lacht, die Idee gefällt ihr immer noch. «Ich weiß, dass ich immer tanzen werde, ob das nun gut aussieht oder nicht.» Schon 2013 sah es so gut aus, dass Nancy den Emerging Dancer Award bekam; ein Jahr später wechselte sie zum Opera Ballet Vlaanderen nach Antwerpen, um dort acht Jahre zu bleiben.

Dem Lockdown verdankt man ihre erste größere choreografische Arbeit. Libertango zur Musik von Astor Piazzolla ging online und beeindruckte auch die Süddeutsche Zeitung: «Der Mix wird auch Tango-Aficionados überzeugen, die zunächst geneigt sind, den gemeinsamen Auftritt von Spitzenschuh und Bandoneon für Ketzerei zu halten», schrieb Dorion Weickmann. Nancy meint, es sei einfach, Piazzolla zu choreografieren: «Diese Musik bittet uns geradezu, sie zu tanzen!» Das geht ihr nicht mit jeder Musik so. «Ich bin kein massiver Fan dieser Avantgardesorte von…» Es folgt ein verblüffend lautes Miauen, dann fährt sie dezent fort: «Aber man kann sich auch da hineinbewegen.» Auch auf Spitzenschuhen, die für Nancy keineswegs Attribute von gestern sind.

Das klassische Ballett, ohne «pointe shoes» nicht denkbar, ist ihre Basis. «Ich hatte auch mal Gesangsstunden und vergleiche es damit. Wenn du Singen in Richtung Oper und Klassik trainiert hast, kannst du in alle Richtungen gehen, bis zum Jazz. Wenn du die Regeln kennst, kannst du sie brechen. Je mehr man kennt, desto mehr kann man verbinden. Ich kann mit verschiedenen Körperlichkeiten, physicalities, spielen, mit verschiedenen Stilen, sie wie aus einer Werkzeugkiste nehmen… Es gibt zum Beispiel so viele Arten, die Arme zu bewegen!» Sie wirft sich in eine Angeberpose, die Arme angewinkelt, die Fäuste geballt. «Aber es geht nicht nur um Posen, Formen, Haltungen, es geht darum, wie man durch sie hindurchfließt, das muss man auch lernen. Wie ein Tänzer zu einer bestimmten Haltung hinkommt und was ihr folgt, ist wichtig!» Das gilt für alle Arten von Tanz, und natürlich tanzt Nancy auch ohne Spitzenschuhe, wenn es gefragt ist – und an manchen Abenden auch mit und ohne, wie in der neuen Produktion Countertime. «Es ist genau umgekehrt wie in Autographs, wo wir die Spitzenschuhe am Schluss einsetzen, bei Forsythe. Jetzt beginnen wir ziemlich klassisch mit MacMillan und brechen das dann auf.»

Was hinter so einer Aufführung steht, ist einer der härtesten Jobs, die es in der Theaterwelt gibt. Jeden Vormittag wird trainiert, «wir müssen immer in Topform sein». Dieser «class» folgen sechs Stunden Proben mit einer Stunde Pause dazwischen, sofern keine Aufführung ansteht – und selbst der Tag nach einer Aufführung hat so ein volles Programm. «Das ist schon ziemlich hart», meint Nancy, «es geht nur, wenn man diesen Job liebt. Man muss ihn sehr lieben. In einem schon nicht mehr vernünftigen Maß…» Der Auftritt selbst ist dann erst recht beglückend. «Keine Unterbrechung mehr, keine Wiederholung! The show is just…», sie klatscht in die Hände, «one time! Now or never!»

Der harte Job, die strenge Hierarchie in der Gruppe ist auch mit viel Solidarität verbunden. «Ich bin ja ein bisschen älter», sagt die 35-Jährige ohne Koketterie, «und helfe den anderen gern. Aber jeder braucht Hilfe. Ich habe die hässliche Angewohnheit, dass ich dauernd in den Spiegel gucke, wenn ich tanze. Das hilft oft gar nicht, auf der Bühne gibt es ja keinen Spiegel. Es sieht auch komisch aus, den Kopf beim Tanzen so zu verdrehen. Wir brauchen immer jemanden, der uns beobachtet, ein zweites Auge.» Dabei helfen ihr auch Kolleginnen und Kollegen, die sie schon aus Antwerpen und London kennt: Ruka Nakagawa, Shelby Williams, Esteban Berlanga, Charles-Louis Yoshiyama. «It’s a small world…»

Ja, und dann ist da ihre Tochter. Sie kam vor drei Jahren in Belgien zur Welt, zog mit ihren Eltern für zwei Jahre nach Toulouse und schliesslich mit ihnen nach Zürich. «Wenn ich nach Hause komme, holt sie meinen Geist komplett aus dem Arbeitsalltag heraus. Das ist sehr gesund. Manchmal fühle ich mich schuldig, weil ich so viel arbeite, aber das geht ja nicht ewig so. Ich hoffe, sie erinnert sich später nur an die guten Seiten.» Zum Beispiel an gestern, als die Dreijährige ein Kostüm anzog und zur Musik tanzte, die ihre Eltern anstellten. «Wie sie die Musik interpretiert… it’s natural,» sagt Nancy, «it’s so natural!»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 122 der Oper Zürich, April 2025 und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Der Ballettabend Countertime mit Choreographien von Kenneth MacMillan, Cathy Marston und Bryan Arias hat am 10. Mai 2025 Premiere. Foto: Oper Zürich

18. April 2025

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Die Markuspassion von Johann Sebastian Bach gibt es bekanntlich nicht, nicht mehr, und doch wird sie oft gespielt, auch heute in der Kölner Philharmonie. Ton Koopman dirigiert seine Rekonstruktion dieser 1731er Passionsmusik, von der nur die Texte erhalten blieben und von der als ausgemacht gilt, dass der Thomaskantor sich für dieses Werk bei eigenen, schon vorliegendenen Kompositionen bediente wie später auch für das Weihnachtsoratorium und die h-Moll-Messe. Seit mehr als 150 Jahren wird erkundet, welche Vorlagen für die Markuspassion passen könnten. Ich bin den Rekonstrukteuren in einem Text für das Kölner Programmheft nachgegangen, zu dessen Titel Die Lücke als Portal auf ganz andere Weise auch Claude Monets 1883er Sonnenuntergang bei Etretat passt.

Nicht nur für den Ostermontag empfehle ich Younghi Pagh-Paans wunderbares Orchesterwerk Frau, warum weinst du? Wen suchst du? 2023 unter der Leitung von Ingo Metzmacher in Donaueschingen uraufgeführt, folgt es den Worten, mit denen sich Jesus an Maria von Magdala wendet, die an seiner leeren Grabeshöhle weint. Dazu sagt die 1945 geborene Komponistin: „Mir geht es nicht um die biblische Auferstehungsgeschichte, sondern um den großen Trost, den ein suchender und weinender Mensch erfährt, und um die große Stärkung dadurch.“ Eine dicht und lebendig gefügte, schattenreiche, schmerzvolle, aber auch lichterfüllte und extrem gegenwartsoffene Musik..

Mit zwei anderen zeitgenössischen Komponisten sprach ich über ihren Bezug zu älterer Musik – mit Dieter Ammann und Manfred Trojahn, deren Werke demnächst beim Internationalen Musikfest der Elbphilharmonie zu hören sind. Für das aktuelle Magazin des Hauses schaute ich unter dem Titel Zurück in die Zukunft auch in die Werkstätten von Mozart, Bruckner, Berg, Boulez und weiteren, die in ihren Kompositionen auf frühere Musik, auf Kollegen, auf deren Passagen, Stile, Formen Bezug nahmen oder, wie Mozart im Requiem, einfach mal vier Takte “klauten”.

Die Lücke als Portal

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Die verschollene „Markus-Passion“ lädt ein zum Besuch in Bachs Werkstatt

Fangen wir doch mal ganz unpassend an, mit Erotik. „Schlafe, mein Liebster, und pflege der Ruh, / Folge der Lockung entbrannter Gedanken. / Schmecke die Lust / Der lüsternen Brust / Und erkenne keine Schranken.“ Keine hohe Poesie, aber entfesselt genug für das Jahr 1733 und zugleich moralisch gut abgepuffert – es ist die Allegorie der Wollust, die da singt und den Wettstreit gegen die Allegorie der Tugend natürlich verliert. Hercules auf dem Scheidewege, so der Titel der Kantate von Johann Sebastian Bach, entscheidet sich umgehend: „Geliebte Tugend, du allein / Sollst meine Leiterin / Beständig sein.“

Mit der Markus-Passion, zwei Jahre zuvor entstanden, hat diese Arie nichts zu tun. Um so mehr aber das Verfahren, mit dem Bach sie in ein anderes seiner Werke einbaut. 1734, als der Thomaskantor neue Kantaten für die Weihnachtszeit braucht, plündert er seinen Hercules. Gleich sechs Stücke daraus wandern ins Weihnachtsoratorium. Die „Wollust“ wird dabei um eine kleine Terz tiefergelegt und zur Anbeterin des Kindleins in der Krippe: „Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh,  / Wache nach diesem vor aller Gedeihen! / Labe die Brust, / Empfinde die Lust, / Wo wir unser Herz erfreuen!“

Wie im neuen Kontext aus einer erotischen Fantasie ein Stück für die Kirche wird, ist das markanteste Beispiel für eine Praxis, die zu Bachs Zeiten Komponisten-Alltag war und später „Parodie“ genannt wurde (das altgriechische „parodia“ bedeutet „Gegenlied“). Man recycelte ganz selbstverständlich eigene Werke ebenso wie die von Kollegen – ohne Plagiatsprozesse und Amtsenthebungen befürchten zu müssen. Zum einen unter Lieferdruck, zum anderen, weil viele Stücke das Potenzial hatten, im neuen Rahmen stärkere Wirkung und ein größeres Publikum zu erreichen. Versmaß und Silbenzahl mussten passen – und natürlich der Affekt.

Die Markus-Passion ist in mehrfacher Hinsicht ein Extremfall des Parodierens. Ihre Musik existiert nur als Schatten jener Stücke, aus denen Bach sie zusammengefügt haben könnte. Nur die von ihm dafür vertonten Texte sind erhalten. Von der „Paßions=Music nach dem Evangelisten Marco am Char=Freytage 1731“ wissen wir überhaupt erst, weil der 1700 geborene Oberpostsekretär und Dichter Christian Friedrich Henrici alias Picander seine eigenen Verse samt Evangelienbericht und Choraltexten in einer Sammlung seiner Werke drucken ließ. Vom Aufführungsmaterial, von der Partitur fehlt indessen jede Spur. Mag sein, dass sie nach Johann Sebastian Bachs Tod an seinen ältesten Sohn Wilhelm Friedemann ging, der des öfteren Grund hatte, kostbare Autographe „in Geld zu versetzen“.

Aber schon 1873 fiel es Ludwig Rust – dem Herausgeber der ersten Bach-Gesamtausgabe – auf, dass der erste und letzte Chor und drei Arien der verschollenen Passion ihren Worten nach zu Stücken aus Bachs Trauerode passten, einer Kantate zum Tod der sächsischen Kurfürstin im Jahr 1727. Der Komponist hat dieses Werk möglicherweise so gründlich ausgeschlachtet wie später seinen Hercules für das Weihnachtsoratorium. Rusts Kollegen im 20. Jahrhundert suchten weiter. Spannend, wie etwa Friedrich Smend für den krass dissonanten Start einer Kantate von 1714 in der Passionsarie „Falsche Welt“ einen Text fand, der noch besser passt als der ursprüngliche. Christoph Wolff vermutete in seiner Bach-Monographie (2000) sogar, Textdichter Picander habe sein Markus-Libretto von vornherein auf solche Modelle zugeschnitten.

Inzwischen gilt es „als ausgemacht“, so der Musikhistoriker Sven Hiemke, dass Bach „größtenteils früher entstandene Sätze für den Passionstext eingerichtet hat“. Für die sechzehn Choräle wurde man in einer Sammlung fündig, die Carl Philipp Emanuel Bach ab 1784 publiziert hatte – bekannte, aber auch unbekannte Choralsätze seines Vaters, jeweils ohne Text. Doch so belastbar viele der Funde auch sind – die Erforschung der Markus-Passion bleibt ein Indizienprozess auf Basis von Beweisanzeichen. Der „Täter“ Bach hat immerhin einen Fingerabdruck hinterlassen. In einen weiteren, revidierten Textdruck des Werks, der 2009 in Sankt Petersburg auftauchte, trug er selbst den Ort „Thomae“ und das Jahr der Wiederaufführung „1744“ mit brauner Tinte ein.

Wenn alle Texte der Arien, Chöre und Choräle mit schon vorliegenden, passenden Kompositionen versehen werden, bleiben immer noch die Worte für 32 Rezitative und zwölf Turba-Chöre (sozusagen Treibsätze der „action“) stumm. Das hinderte Musiker und Wissenschaftler allerdings nicht daran, zwischen 1964 und heute mindestens 25 Fassungen zu konzipieren. Mal wurden Textpassagen nur gelesen, mal Rezitative aus der Matthäus-Passion übernommen, mal (wie von Ton Koopman) in Bachs Stil nachkomponiert, mal in gegenwärtige Klangsprache gesetzt wie von Volker Bräutigam. Mitunter gab es sogar „Rekonstruktionen“ mit ganz neuen Texten, etwa von Walter Jens oder Christian Lehnert, der sich mit dem Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher für Nach Markus. Passion (2016) zusammentat.

All die Ermittlungen, Rekonstruktionsversuche und Aufführungen entwickelten schon früh eine Eigendynamik, neben der kaum je die Frage gestellt wird, warum in aller Welt man sich solche Mühe mit einem Werk gibt, von dem keine einzige authentische Note zu haben ist. Brauchen wir noch eine Passion von Bach neben den zwei Fassungen der Matthäus-Passion und den dreien der Johannes-Passion? Wer hätte es je als unerträglichen Verlust empfunden, dass auch zwei Drittel von Bachs Kirchenkantaten fehlen, wenn schon die erhaltenen rund 180 Kantaten nur von wenigen Experten überblickt werden? Könnte man sich nicht auch, nur so als Vorschlag, um die 1418 Kantaten kümmern, die Bachs überaus spannender Zeitgenosse Christoph Graupner schrieb?

Man tut Graupner und anderen starken Köpfen seiner Zeit nicht Unrecht, wenn man feststellt, dass kein Komponist des 18. Jahrhunderts solche Veränderungen im Konzertleben, Komponieren, Forschen, Edieren bis heute bewirkte, wie Bach, durch den bereits Mozart auf neue Bahnen geriet. Was die Wiederentdeckung seines Œuvres in Bewegung brachte, ist nicht zu ermessen. Dem stehen umgekehrt proportional die vielen Fragen zum Leben Bachs und seiner Persönlichkeit, also seine „Unerreichbarkeit“ gegenüber – von Bachs großem Kollegen Claudio Monteverdi etwa, hundert Jahre früher, sind weitaus mehr Briefe erhalten. Bach scheint für uns spätestens als Thomaskantor in seinem Werk zu verschwinden, während er doch unablässig probte, spielte, unterrichtete und es in seiner Wohnung, so der Sohn Carl Philipp Emanuel Bach, „wie in einem Taubenschlag“ zuging.

Neben der Allgegenwart seiner Musik scheint sich Bach als reale Gestalt zu entziehen. Es gibt in seinem Œuvre eine Werkgestalt, die diese „Abwesenheit“ gleichsam spiegelt – und das ist die Markus-Passion. Diese gewaltige Leerstelle, durch die erhaltenen Texte in ihren Umrissen beschrieben, ist zugleich ein Portal, durch das man in Bachs Werkstatt eintreten und mit ihm zusammen arbeiten kann. Zur ersten Einspielung seiner Rekonstruktion der Markus-Passion schrieb Ton Koopman 1999, er habe sich „vorgestellt, ein Schüler Bachs zu sein, dem der Meister (…) folgenden Auftrag gibt: ,Hier ist ein Textbuch, vertone es und verwende dazu so viel wie möglich von den Werken, die ich bis heute (1731) geschrieben habe. Was du nicht finden kannst, das komponiere selbst.‘“

Sven Hiemke ergänzt mit feiner Ironie: „Und vermeide dabei alle Parodievorlagen, die bis zu deiner Fassung verwendet worden sind.“ Das nämlich tut Ton Koopmann. Er folgt keiner der Zuschreibungen, die seit der Fassung von Dietrich Hellmann (1962) als „gesichert“ galten und zur Basis der meisten weiteren Versuche wurden. Durchweg einig sind sich dabei auch Koopmans Kollegen keineswegs. Eine Komposition kann verschiedenen Texten dienen und umgekehrt verschiedene Tonsätze einem Text.

Mit der Auswahl der geeigneten Stücke ist es längst nicht getan. Schauen wir uns noch mal die Arie der Wollust auf ihrem Weg zur Krippe in Betlehem an: Sie wird nicht nur von B-Dur nach G-Dur verlegt, vom Sopran zum Alt. Zu den Streichern im Orchester kommen auch gleich noch fünf Holzbläser. Dazu die Architektur des Ganzen, der dramaturgische Zusammenhang, die Proportionen, die umgebenden Tonarten. Es ist ein komplexer kreativer Prozess, kein „Copy and Paste“, dessentwegen die Arie im Weihnachtsoratorium unser Herz berührt – zusammen mit der unmittelbaren Sinnlichkeit, die sie von ihrem Ursprung mitgebracht hat. In der h-Moll-Messe, dem großen Recycling-Wunder, wird mitunter sogar die Harmonik der übernommenen Stücke verändert.

Da sieht man schon, dass Bachs posthumen „Schülern“ in seiner Werkstatt der Schweiß auf die Stirn treten kann. Selbst wenn man sicher wüsste, welche Vorlagen er für seine Markus-Passion verwendete, wäre jede Rekonstruktion immer noch nicht mehr als eine Annäherung, letztlich die Fiktion einer Rekonstruktion. Aber man sollte es nicht übertreiben mit der „Authentizität“ – sonst dürften die Passionen nicht mal außerhalb des Gottesdienstes gespielt werden! Jede Zeit hat ihren Weg zu Bach. Und er ist es ja weitgehend, dem man in unserem Programm begegnet. Man erlebt seine Musik dabei mit anderen Ohren als sonst, neugierig in jedem Sinne. Wir entdecken Stücke, die sonst nicht oft zu hören sind, und erleben Vertrautes anders – etwa das „Agnus dei“ aus der h-Moll-Messe. Bach entnahm es dem Himmelfahrtsoratorium von 1738, und Ton Koopman benutzt in „seiner“ Markus-Passion dieselbe Quelle für einen der beiden neuen Arientexte von 1744: „Will ich doch gar gerne schweigen…“

Am weitesten greift er zurück für den „Creutzige“-Chor der Markus-Passion. Etwa 1707 entstand wohl in Mühlhausen Bachs geniales Frühwerk Christ lag in Todes Banden, eine Choralkantate für den Ostersonntag, mit einem synkopischen, fugierten „Halleluja“, dessen Schlussrepetitionen etwas leer rotieren. Im neuen, dramatischen Zusammenhang der Passion kann man diese Repetitionen wie einen Vorklang des brutalen Nagelns hören – das ist schon kongenial! Wem das noch nicht genug ist, der genieße den Blick auf den Planeten der unerreichbaren Werke, der sich hier öffnet, auf all die verschwundenen, verschollenen, die vernichteten wie auch die fiktiven Stücke, Bilder, Bücher … oder halte es mit Ton Koopman, der seine Rekonstruktion schon im Jahr 2000 so resümierte: „Es ist einfach ein Abend mit guter Musik.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erscheint geringfügig kürzer im Programmheft  für das Konzert in der Philharmonie Köln am 18.4.2025. Illustration: Claude Monet, Sonnenuntergang bei Etretat, 1883 (Wikimedia Commons, wo es fälschlich “Sonnenaufgang” heißt).