Mit ihren Rollenporträts fasziniert Maria Agresta auf den großen Bühnen der Welt. Jetzt probt sie Verdis “Vespri” mit Calixto Bieito in Zürich
Kahle weisse Wände, eine Decke mit Dämmmaterial, Neonröhren, Heizungsrohr. Eine Frau im einfachen schwarzen Kleid, fast ungeschminkt, die schwarzen Haare offen tragend. Nein, das ist keine Opernszene auf meinem Bildschirm und auch kein Bericht von einer Entführung. Maria Agresta ist bestens gelaunt und nur wenige Meter von der Probebühne der Oper Zürich entfernt, wo es nun mal nicht so komfortabel aussieht wie im Zuschauerbereich. Sie hat sich den stillen Raum für unser Zoomgespräch ausgesucht, und im kargen Ambiente entfaltet sich erst recht, über hunderte von Kilometern hinweg, die süditalienische Energie dieser Sängerin, die noch ganz erfüllt ist von der Partie der Elena in Verdis I vespri siciliani und es mir gar nicht übel nimmt, dass ich über diese Gestalt wenig weiß und das Libretto dieser Oper ziemlich kompliziert finde.
«Es ist wirklich sehr kompliziert», meint sie, «voll mit historischen Situationen, aus der Zeit, als die Sizilianer von den Franzosen unterdrückt wurden. Und es ist auch technisch und vokal schwierig. Elena singt sehr tiefe und sehr hohe Noten. Beweglichkeit, Koloraturen, Legato», sie zählt all die Herausforderungen an den Fingern auf, ihre Hände und Arme, auch ihr Gesicht sind immer in Bewegung, «alles ist in dieser Rolle, und die Emotionen! Die machen es noch schwieriger. Elena ist etwas zwischen Desdemona in Otello und der Elisabetta in Don Carlo, she’s a very strong woman, a real eroina, italian eroina.» Nachdem Maria sich lachend für ihr «terrible English» entschuldigt hat, das gar nicht schrecklich, sondern einfach sehr italienisch ist, fährt sie einfach in ihrer Muttersprache fort. «Elena ist eine Hauptfigur der Revolution. Sie empfindet die ganze Zeit Ungerechtigkeit, was natürlich auf den Mord an ihrem Bruder, aber allgemein auch auf die Gewalt an den Frauen zurückzuführen ist, auf den Überfall auf die Freiheit ihres Volkes.» Und sie sei die intelligenteste aller Frauen bei Verdi.
Die Geschichte um eine liebende Frau im Spannungsfeld zwischen Besatzern und Aufbegehrenden geht auf das 13. Jahrhundert zurück, war aber zur Uraufführung 1855 so aktuell wie heute. Die Sopranistin ist begeistert von Calixto Bieitos Regiekonzept. «Er möchte in erster Linie die Gewalt, die Unterdrückung des Volkes durch die Aggressoren, sei es physische oder psychische Gewalt, herausarbeiten. Es gibt bei ihm diese Verbindung zur Moderne, die aber immer in der Vergangenheit verwurzelt ist. Er weitet diese Sicht auf alle Nationen aus, die unter Unterdrückung litten, und untersucht, wie diese Völker darauf reagiert haben: Der Raub der Sabinerinnen, der spanische Aufstand der Kamisarden. Calixto arbeitet mit starken Bildern, auf der Bühne gibt es halb zerstörte Gebäude, die Ausdruck von Qual und Schmerz sind, sie repräsentieren unser zerrüttetes Inneres als Resultat von erlittener Gewalt, mit der wir umgehen müssen, manchmal ohne uns dagegen auflehnen zu können.»
Wie fühlt es sich an, so eine Inszenierung jetzt zu proben, in dieser Welt voller Gewalt? «Die ganze Zeit», sagt Maria Agresta, nun wieder auf Englisch, «fühle ich, dass die Oper gerade jetzt wichtig ist. Mit so schöner Musik können wir zeigen, was es bedeutet, wenn Menschen unterdrückt und angegriffen werden. Das Leiden durch Gewalt löst bei allen dasselbe aus: In dieser Situation kann ich nicht bleiben! Mit der Musik können wir die Seele direkt berühren und Fragen aufwerfen, auch über das, was in der Vergangenheit war. Manchmal vergessen wir das. Ich kann auch nicht auf Russland, Israel oder Italien schauen, wenn ich nicht weiss, was früher geschehen ist.» Kann all das denn mit einer Oper wachgerufen werden? «Nachrichten in den Medien sind oft gefiltert und politisch. Die Musik verbindet uns direkt mit einer verzweifelten Situation. Hier kann ich etwas mit meinem eigenen Denken verstehen.» Es ist also möglich, die Wahrheit in der Oper zu finden? «Sì, assolutamente, sì, sì!» Sie strahlt. «In der Oper ist mehr Wahrheit, als wir denken.» Und die Musik selbst, meint sie, habe eine besondere Macht. «Vor vielen Jahren sang ich im Libanon das Verdi-Requiem, auf einem Platz voller Militär und Polizei. Sie hatten große Gewehre.» Sie hebt eine unsichtbare Waffe hoch, gleichsam schussbereit. «Und als die Musik begann…» Sie lässt die Arme langsam sinken. «Es war unglaublich. Daran denke ich immer, wenn ich an die Macht der Musik denke. Sie verwandelt die Menschen.»
Mit dieser Macht kam Maria Agresta zuerst in Berührung, als sie vier Jahre alt war, in ihrem Heimatstädtchen Vallo della Lucania, zwei Reisestunden südlich von Napoli, zwölf Kilometer vom Mittelmeer entfernt. «Der Patron meiner Stadt ist San Pantaleone, der wird im Juli gefeiert. Zu dieser Feier kommen viele bande musicale in die Stadt» – Blasorchester aus Amateuren, wie es sie noch in den 1980ern in unzähligen italienischen Kleinstädten gab –, «und ich konnte da Teilen aus Nabucco, Traviata zuhören, das löste große Gefühle in mir aus. Ich war da mit meinem Vater, und außer uns hörten nur alte Männer und Frauen zu. Ich war das einzige Kind, und ich war so glücklich!» Später, als Maria zwölf Jahre alt war, machte ihre Schulklasse einen Ausflug nach Napoli, auch das berühmte Teatro San Carlo wurde besucht, «und als ich in diesem magischen Gebäude war, fing ich an zu weinen. Das Gefühl war zu groß für mich. Meine Freundinnen machten sich lustig über mich, aber meine Lehrerin lächelte, sie sah, dass ich hingerissen war, rapita, von der Welt dieses Theaters. Ich wollte in dieser Welt bleiben. Nicht als Opernsängerin, das konnte ich mir gar nicht vorstellen, vielleicht in der Kostümwerkstatt – einfach nur dort bleiben!»
Einige Monate später kam sie in den Kirchenchor ihres Städtchens. «Ich fühlte beim Singen Heiterkeit und Glück und innere Ruhe, das kann ich nicht erklären.» Dem Pianisten des Chores fiel ihre Stimme auf, «er schlug mir vor, Unterricht zu nehmen. Ich wollte das machen, aber nur für mich, weil ich sehr gläubig war und fand, dass man mit dem Singen stärker beten kann. Dann stellte mich der Pianist einem Lehrer vor, einem Tenor, der sagte: Du könntest Opernsängerin werden.» Maria nahm Unterricht bei ihm, mit 17 Jahren sang sie im Konservatorium in Salerno vor und wurde aufgenommen. Nun wurde es anstrengend. «Ich ging ja in meiner Stadt zur Schule und musste jetzt um 5 Uhr morgens aufstehen, um Zeit zum Lernen zu haben. An der Schule erwarteten sie meine volle Leistung, für die war das Konservatorium nur ein Hobby. Nach der Schule nahm ich den Zug nach Salerno, von da kam ich spät zurück. Jeder Tag war so. Ich konnte auf keine Party gehen.»
Das Konservatorium verliess Maria mit Bestnoten, aber ihre wahre Stimme, den Sopran, fand sie erst später. «Ich sang als Mezzosopran jahrelang Barock und Sakralmusik, bis ich zum ersten Mal Raina Kabaivanska traf, eine große, einzigartige Lehrerin. Sie half mir, meine Karriere, meine Stimme, meinen Körper zu ändern. Ich sagte für ein Jahr alles ab und übte die neue Technik, mit der Lehrerin, jeden Tag nur sie und ich. 2007 sang ich meine erste Mimì, mein Debüt als Sopranistin, und dann sang ich überall…» Eher beiläufig zählt sie ein paar der Häuser auf, die sie seitdem, von der Scala bis zur MET, in atemberaubendem Tempo erobert hat – was sie allerdings nie so ausdrücken würde. Wichtiger sind ihr ihre Rollen, all die grossen Frauengestalten der italienischen Oper. «In diese Rollen hineinzukommen», meint sie, «ist schwer. Das geht nicht im Zimmer, nur auf der Bühne kann man sie gestalten. Aber wieder herauszukommen ist viel schwerer. Nach Madama Butterfly bin ich innen zerstört, ich muss ihr dann mindestens zwei Tage fernbleiben, der Schmerz bleibt lange. Dasselbe ist es mit Desdemona. Die Liebe ist so zerbrechlich! Wenn der Mann, den du liebst, fähig ist, dich zu töten… Ich fühle das am Tag danach in mir wie zerbrochenes Glas.» Erstaunlich, sage ich, dass diese Gestalten bei aller historischen Entfernung so nahe sein können. Maria Agresta lächelt und sagt: «Oper ist Leben, sie ist Realität, und sie spricht dauernd von Realität. Sehen Sie sich doch nur um, was in der Welt passiert.»
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 113 der Oper Zürich, Juni 2024, und auf der Website des Hauses. I vespri siciliani hat am 9. Juni 2024 Premiere. Dirigent ist Ivan Repušic, Calixto Bieito ist der Regisseur. Das Foto entstand auf der Probebühne.