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Eine Stadt erwacht aus der Schockstarre

montmartre märz 1871, kanonen

Georges Bizets “Carmen” ist ohne die Stadt nicht denkbar, in der die Oper entstanden ist. Paris befand sich zur Zeit der Uraufführung von “Carmen” an der Opéra Comique in einer traumatischen Umbruchsphase. Ein Panorama der französischen Metropole um 1875.

Blicken wir über die Stadt nach Süden, auf der Anhöhe von Montmartre stehend. Es ist März 1875, der Monat der Uraufführung von Carmen. Hier oben begann vor vier Jahren die Katastrophe, und Georges Bizet hätte sie vielleicht nicht überlebt, wäre er in Paris geblieben, als Nationalgardist und gar noch in seiner Uniform. Vor uns auf dem Hügel standen die 227 Kanonen… Aber dazu kommen wir gleich. Links von uns am Hang ist die Windmühle, die später auch van Gogh gemalt hat. Das flache Satteldach unten ist die Madeleine, die Kirche, deren Titularorganist schon seit 17 Jahren Camille Saint-Saëns ist. Ein Stück weiter hinten ragt wie ein mastenloses Schiff die ungeheure Masse des neuen Opernhauses, der Opéra Garnier, aus dem Dächermeer. Anfang des Jahres wurde sie eröffnet. Die Salle Favart, das Haus der Opéra Comique, in der Carmen uraufgeführt wurde, können wir von hier aus nicht sehen, und ein paar andere Gebäude könnten wir schon deswegen nicht finden, weil sie vor vier Jahren niederbrannten. Und auf den Eiffelturm müssen wir noch vierzehn Jahre warten.

Wer wissen will, was das für eine Stadt ist, in der Carmen ihren Anfang nimmt, von der ersten Konzeption bis zur Uraufführung, kommt um das Trauma nicht herum, das Paris wenige Jahre zuvor erlitten hat, ein beispielloses Gemetzel mit zehntausenden von Toten. Wie alle Grausamkeiten bis heute hat es seine Vorgeschichte. Im Sommer 1870, als Georges Bizet und seine Frau Geneviève Ferien in Barbizon machen, wo Corot und Courbet die Landschaft malen, stolpert Napoleon III. in einen Krieg mit Preußen und seinen Verbündeten, der zur Niederlage Frankreichs, dem Ende des Zweiten Kaiserreichs und zur Belagerung der Stadt Paris führt.

Am 18. September ist der Ring geschlossen, die 1,8-Millionen-Stadt mit ihren elf Bahnhöfen (1) von aller Versorgung abgeschnitten wie auch von der Telegrafie. Im Oktober wird selbst Pferdefleisch zur Delikatesse, im Dezember werden die beiden Elefanten des Zoos geschlachtet, man mariniert inzwischen auch Ratten. Die Deutschen feuern täglich bis zu 400 Geschosse auf die Stadt. (2) Im Januar verschwinden nach den Bäumen des Bois de Boulogne und der Boulevards auch die Ulmen der Champs-Elysées als Brennholz in den Pariser Öfen. (3) Derweil lässt sich, mit teutonischem Feingefühl, ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles Wilhelm I. zum Kaiser des neugründeten deutschen Reichs ausrufen – eine Demütigung, der am 28. Januar der Waffenstillstand folgt, die Kapitulation von Paris, und am 1. März 1871 das Defilee der deutschen Truppen auf den Champs-Elysées. Mit dabei sein muss Georges Bizet, der als begeisterter Republikaner schon im September der Nationalgarde der neuen, Dritten Republik beitrat. „Wir haben bei dieser traurigen Gelegenheit unsere Pflicht getan. Mit dem ersten Trommelschlag um 8 Uhr morgens nahmen wir unsere Gewehre und formierten uns zum cordon sanitaire um unsere Feinde.“ (4) Aber es sind – schon am nächsten Tag verschwinden die Deutschen wieder aus der Stadt – nicht nur diese Feinde, denen sich das folgende Inferno verdankt.

Die Wahlen zur Nationalversammlung haben im Februar 1871 Frankreichs monarchistische Rechte an die Macht gebracht, während die Pariser mehrheitlich republikanisch gesinnt sind und den Waffenstillstand als Verrat sehen. Die Nationalversammlung nimmt ihren Sitz vorerst in Versailles, wo der 73jährige Regierungschef Adolphe Thiers mit harten Erlässen viele Pariser in die Armut treibt und dazu noch beschließt, die 227 Kanonen abtransportieren zu lassen, die auf dem Hügel von Montmartre stehen. Kanonen, die aus dem Westen der Stadt von den Parisern – ohne Pferde! – hierher geschleppt wurden, um sie vor der Beschlagnahme durch die Deutschen zu sichern. So, wie sie jetzt stehen, haben sie nur symbolischen Wert. Aber auf den kommt es Thiers an. „Damit“, notiert Victor Hugo, „hat er den Funken aufs Pulver geworfen.“ (5)

Die Abholung der Kanonen am 18. März scheitert, die Regierungssoldaten fraternisieren mit der aufgebrachten Menge, zwei Generäle werden erschossen, man baut Barrikaden. Bizet ist indessen entsetzt von der Zurückhaltung der Nationalgarden (6) . Seinem Brief vom 20. März zufolge gehört er zu jenen 5000 von 300.000 Nationalgardisten (7), die bereit wären, für Ordnung zu sorgen, zugleich begrüßt er den Rückzug der Armee. Die Mehrzahl der Pariser – Arbeiter und Handwerker – wählt am 26. März eine linke Stadtregierung, die von nun an praktisch gegen Versailles regiert. In der „Commune“, so heißt das Gemeinwesen nun, werden zur Linderung der Not vorübergehend die Mieten aufgehoben, es soll kostenlosen Grundschulunterricht geben, eine Berufsschule für Mädchen eröffnet werden, die Gleichberechtigung der Frauen wird diskutiert (8). Großbürger und Unternehmer verlassen die Stadt, auch die Bizets.

So bleibt ihnen die „blutige Woche“ erspart. Mit 100.000 zusätzlichen Soldaten, die Bismarck rechtzeitig aus der Kriegsgefangenschaft entlassen hat, gelingt den Versailler Truppen am 21. Mai der Durchbruch in die Stadt. Paris ist umgeben von jenem Mauerring, den Thiers selbst als Ministerpräsident der Julimonarchie bis 1844 errichten ließ und innerhalb dessen die Ringeisenbahn verläuft. Dann beginnt, Barrikade um Barrikade, ein Kampf um Paris, der auf Seiten der Eroberer in ein Gemetzel umschlägt. Gefangene Nationalgardisten werden von den Regierungssoldaten erschossen, mit Säbeln zerhackt, totgeschlagen, bald wird jeder umgebracht, der irgendwie auffällt. In ihrer Verzweiflung ermorden die Kommunarden 85 Geiseln, darunter den Erzbischof von Paris.(9)

Die Vergeltung ist um so schlimmer. Es kommt zu Massenhinrichtungen – nach Schätzungen sind es bis zu 30.000 Tote. Manche Straßen sind wegen der Leichenberge unpassierbar. Der Gestank der Verwesung mischt sich mit dem Rauch der Brände. Um die Angreifer zu stoppen, haben die Kommunarden ganze Häuserzeilen eingeäschert, viele prominente Gebäude fallen der Zerstörungswut beider Seiten zum Opfer oder dem Artilleriebeschuss. „Der letzte Kanonenschuss ist am gestrigen Sonntag abgefeuert worden, um halb drei“, schreibt Bizet am 29. Mai (10) an seine Schwiegermutter in Bordeaux, Hannah Léonie Halévy, im selben Brief kritisiert er Presseberichte über Gräueltaten der Kommunarden als Erfindung einer „abscheulichen Brut von Journalisten.“ Er und Geneviève befinden sich noch in Le Vésinet 12 Kilometer westlich von Paris, wo der Vater des Komponisten zwei kleine Sommerhäuser besitzt. Am selben Tag notiert Émile Zola in Paris: „Man befürchtet Pest und Cholera, selbst wenn all diese Leichen auf den bereits bestehenden Friedhöfen beerdigt würden. (…) Man sagte mir sogar, dass an mehreren Stellen auf den Boulevards und in allen Avenuen, die man aufreißen konnte, Tote begraben wurden. Ich weiß nicht, ob diese Leichen dort bleiben werden, unter den Füßen der Spaziergänger, deren fröhliche Stimmen sie an den öffentlichen Feiertagen über ihren Köpfen hören würden.“ (11)

„Unser Haus hat eine Menge Kugeln abbekommen…“

Indessen geht die Vergeltung weiter: 43.000 Männer, Frauen und Kinder werden inhaftiert, tausende verurteilt (der Vater von Claude Debussy bleibt bis 1875 im Gefängnis) und in entfernteste Kolonien deportiert. (12) Bizet stellt erleichtert fest: „Unser Haus hat eine Menge Kugeln abbekommen, aber unsere Wohnung ist völlig unversehrt.“ (13) Sehr fröhlich sind die Pariser nicht im Sommer nach dem Blutbad, wie Flaubert beobachtet: „Die eine Hälfte der Bevölkerung hat Lust, die andere zu erwürgen, welche denselben Wunsch hegt. Das ist klar in den Augen der Passanten zu lesen.“ (14) Bizet, der nichts so fürchtet wie eine katholische Monarchie (15), klammert sich „mit der Energie der Verzweiflung“ an Adolphe Thiers, diesen „energischen kleinen alten Mann. Er allein kann zugleich die Kommunarden und die Reaktionäre scheitern lassen.“ (16)

Tatsächlich wird Thiers erster Präsident der Dritten Republik, während in Paris die „Normalität“ in einem Tempo wiederhergestellt wird, als habe man nur einen bedauerlichen Zwischenfall hinter sich. Für Kontinuität bürgt schon der unter Napoléon III. begonnene Umbau der Stadt nach den Plänen Haussmanns, der nun fortgesetzt wird, ergänzt durch Reparatur, Abriss oder Neuerrichtung der niedergebrannten Gebäude. Während Kohorten von englischen Touristen anreisen, um die Ruinen zu bestaunen, fasst der New Paris Guide das Geschehen ganz im Sinne der regierungstreuen „Geschichtsschreibung“ zusammen: „Paris hat schwer gelitten durch die überwältigenden Ereignisse von 1870 und mehr noch durch die Grausamkeiten der Commune. Dennoch hat die Stadt in unglaublich kurzer Zeit ihre Verluste wieder wettgemacht.“

Ganz so einfach ist es für Georges Bizet nicht. Die Opéra Comique beauftragt ihn nicht, wie vor dem Krieg geplant, mit einer abendfüllenden Oper – es wäre seine dritte nach den Perlenfischern und der Schönen von Perth, beides keine Erfolge für einen, der als Wunderkind begann und als Komponist alle verfügbaren Preise abräumte, und man einigt sich auf den Einakter Djamileh. Das Stück knüpft an den seit Jahrzehnten beliebten Orientalismus an, lässt eine Sklavin in Liebe zu ihrem Gebieter entbrennen und bringt es bis 1875 doch nur nur auf elf Vorstellungen. Bizet verdient sein Geld mit Arrangements, Gelegenheitskompositionen und Kurzzeitjobs und erhält seine nächste Bühnenchance als Zulieferer für ein Theaterstück von Alphonse Daudet.

Obwohl man auch hier auf Exotismus setzt –für Pariser ist die Provence als Schauplatz „fast so fremdartig wie Spanien und Ägypten“ (17) – wird L´Arlesienne im Oktober 1872 ein Fiasko, und Daudet schreibt fortan nur noch Romane. Die Bühnenmusik aber, die Bizet für das 26köpfige Orchesterchen des Théâtre du Vaudeville komponiert hat, lässt so aufhorchen, dass Jules Pasdeloup die Stücke, zur Suite verbunden, im Cirque d´Hiver mit großem Orchester realisiert – dieser Kuppelbau im 11. Arrondissement hat 3900 Plätze. Es folgen weitere Aufführungen, die einschlagen. Es ist, als habe der 33-jährige Komponist einen neuen, unmittelbaren Ton gerade deswegen gefunden, weil er frei von dem Druck war, ein Meisterwerk zu schaffen.

Für diesen neuen Sound haben die beiden Manager der Opéra Comique einen Sinn, so verschieden sie sind. Adolphe de Leuven, 72 Jahre alt, leitet das Haus schon seit 1862, seit 1870 ist der halb so alte Camille du Locle an seiner Seite, und nun wollen sie es doch mit einer großen Oper von Bizet riskieren. Dabei spielen wie immer und überall und besonders in Paris Beziehungen eine Rolle. Als Librettisten schlägt du Locle seinen Freund Ludovic Halévy vor, der zugleich der Neffe von Bizets Schwiegervater und Kompositionslehrer Fromental Halévy ist und der vor allem, zusammen mit Henri Meilhac, das erfolgreichste Autorenduo des Operettenkönigs Jacques Offenbach bildet – von La Belle Hélène über La Grande-Duchesse de Gérolstein bis zu La Périchole. Gerade haben sie La Vie parisienne von 1866 wieder aufgewärmt, aber es zeichnet sich 1872 schon ab, was Halévy drei Jahre später diagnostiziert: „Offenbach, Meilhac und ich – wir sind am Ende, das ist die Wahrheit… Es fällt uns nichts mehr ein.“ Offenbachs große Zeit ist mit dem Kaiserreich dahingegangen. Es fehlt mit Napoléon III. das schillernde Zentrum der Macht, das die Spottlust inspiriert, und der Pariser Sinn für Ironie lässt sich nach dem Blutbad nicht neu aufbauen wie das niedergebrannte Rathaus. Es reizt die beiden Autoren, mit Bizet, einem fähigen Komponisten aus ihrer eigenen Generation, den 1830ern, etwas Neues auf die Beine zu stellen. Aber was?

Der Weg nach Spanien führt über die rue de Douai Nummer 50

In der Liebe der Pariser zu exotischen Schauplätzen hat Spanien schon seit langem einen Platz, aber Mitte der 1870er, so Orlando Figes, „erreichte das französische kulturelle Interesse an Spanien seinen Höhepunkt“, nicht zuletzt als Abwendung von den Deutschen (18). Und in der Mitte des musikalischen Interesses am südwestlichen Nachbarland befindet sich der Salon von Pauline Viardot in der rue de Douai 50, wenige Schritte von der Nummer 22 entfernt, in der George und Geneviève Bizet wohnen und wo im Sommer 1872 ihr Sohn Jacques zur Welt gekommen ist; im selben Haus wohnt auch Ludovic Halévy, der künftige Carmen-Librettist.

Auch bei den Viardots erwies sich alles als unbeschädigt, als sie aus London zurückkehrten, wo sie die Ereignisse abgewartet hatten. Im Dachgeschoss ihres zweistöckigen Baus erhielt nun Iwan Turgenew zwei Zimmer, der russische Romancier, der mit Pauline und ihrem um 20 Jahre älterem Ehemann Louis schon lange in einer ménage à trois lebt. Auch Bizet besucht die Donnerstagabende, an denen Pauline, geborene Garcia, Tochter spanischer Sänger, Mezzosopranistin, Komponistin, Kosmopolitin, nahezu allen in Paris tätigen Komponisten seit Rossini verbunden, neue oder rare Musik aufführen lässt und selbst singt. Was bei ihr an spanischer Folklore wie auch Kunstmusik zu hören ist, inspiriert Édouard Lalo und Camille Saint-Saëns; Bizet ist besonders von einer Habanera beeindruckt, „El arreglito“, aus der er Carmens Arie „L´amour est un oiseau rebelle“ machen wird.

Aber wie kommt er auf Carmen, die Novelle von Prosper Mérimée (19) , die seit 1847 in mehreren Auflagen erfolgreich war? Ludovic Halévy erinnert sich, Bizet sei selbst darauf gekommen (20). Doch von Émile Zola wissen wir, dass Turgenjew seinen Kollegen Merimée bewunderte und ihn sogar gegen Flauberts Geringschätzung verteidigte (21). Gut möglich, dass er Bizet den Tipp gab.

„Carmen! Die Carmen von Mérimée! Die von ihrem Geliebten ermordet wird? Und dieses Milieu der Diebe, der Zigeunerinnen, der Zigarettenarbeiterinnen! An der Opéra Comique, dem Theater der Familien!“(22) Adolphe de Leuven, der ältere der beiden Theaterchefs, ist entsetzt, als Librettist Halévy mit seinem Vorschlag kommt. An jedem Abend, erklärt er ihm, seien fünf bis sechs Logen reserviert für Treffen junger Damen und Herren, die eine Ehe erwägen. Die Hälfte aller Logen verfügt über einen eigenen kleinen Salon fürs Private zwischen den Akten, die kosten acht Francs (was etwa 50 Euro entspricht (23) ), sämtliche Logen sind wie zu Kaisers Zeiten mit einer Klingelschnur versehen, damit man sich Erfrischungen bringen lassen kann. Wie eh und je dürfen im Parkett nur Herren sitzen. Und in so einem Haus soll nun die Titelheldin von ihrem Ex-Lover abgestochen werden, anstatt wenigstens den üblichen gewaltfreien Opfertod zu erleiden, so wie Juliette oder Violetta!

Der jüngere Opernchef Camille du Locle ist risikofreudiger, setzt sich durch und leitet ab 1873 das Haus allein. Er will die Lücke ausnutzen, die das Théâtre Lyrique hinterlassen hat (24), das Opernhaus nahe dem Hôtel de Ville, das bei den Kämpfen im März 1871 ebenfalls in Flammen aufging und zuvor mit gewagten Novitäten auffiel, von Berlioz´ Troyens über Gounods Roméo et Juliette bis zu Bizets Perlenfischern. Für die Musikgeschichte ist es fast ein Glück, dass in einer Oktobernacht 1873 gleich das nächste Opernhaus abbrennt, die prestigeträchtige Salle Le Peletier, zuständig für Grand´Opéra, historische Stoffe, Staatsbesuche. Ursache des Brandes ist möglicherweise die einst so innovative Gasbeleuchtung. Eine Folge ist, dass Georges Bizet die Arbeit an einer Oper abbricht, mit der ihn dieses Haus beauftragt hatte und die seiner Arbeit an Carmen im Weg war – wobei er Don Rodrigue wichtiger fand. (24)

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Noch ein Ausfall, der zum Glücksfall wird: Die ursprünglich vorgesehene Marie Roze lehnt die Partie einer Titelheldin ab, die am Ende ermordet wird, und so wird schon Ende 1873 Célestine Galli-Marié verpflichtet, 35 Jahre alt, ein Liebling des Pariser Publikums und in ihrer Abenteuerlust der Carmen so ähnlich, dass der Komponist ihr während der Arbeit wohl ähnlich nahe kommt wie zu gleicher Zeit seine Frau dem schillernden Klaviervirtuosen Élie-Miriam Delaborde, dem Sohn des eigensinnigen Chopin-Vertrauten Charles Valentin Alkan. Aber auch die Entschlossenheit Carmens bringt ihre Darstellerin mit. Als Opernchef du Locle auf den letzten Metern doch noch kalte Füße bekommt und auf einem unblutigen Schluss besteht, droht Galli-Marié – gemeinsam mit dem Sänger des Don José -, die ganze Produktion platzen zu lassen. Das wirkt.

Das offizielle Opernhauptereignis des Jahres 1875 findet am 5. Januar statt. Im prachtvollen Palais Garnier, nach vierzehn Jahren Bauzeit fertiggestellt, drängen sich „die Begünstigten und Begüterten, für die dieser Palast geschaffen war“ (26) . Eine einfache Loge kostet an diesem Abend 120 Francs. In der Hofloge, ursprünglich für Napoléon III. bestimmt, nimmt Marschall Mac-Mahon Platz, als Präsident der Dritten Republik Nachfolger von Adolphe Thiers. Er ist jener Monarchist, der 1871 die Truppen von Versailles bei der Vernichtung der Commune befehligt hatte. Man wohnt einem Galaabend mit bewährten Szenen aus Werken von Meyerbeer und Délibes bei (27). Das wahre Opernereignis zwei Monate später, am 3. März in der Opéra-Comique, ist zuerst ein Flop, wenngleich ein prominent besuchter. Natürlich sind die Viardots und Turgenjew gekommen (28), aber auch Jacques Offenbach und seine Stardarstellerin Hortense Schneider, die Komponisten Gounod und Massenet, Alexandre Dumas der Jüngere und noch zwei Dutzend Kulturzelebritäten (29). Im ersten Akt von Carmen sind die Leute noch begeistert, im vierten Akt herrscht eisige Ablehnung, so erinnert sich Ludovic Halévy, der den traurigen Komponisten nach Hause begleitet, 20 Minuten bis zur rue de Douai, zu Fuß und schweigend.

„Der krankhafte Zustand dieser Unglücklichen, die ohne Unterlass und ohne Gnade der Glut des Fleisches ausgesetzt ist, ist ein glücklicherweise sehr seltener Fall, der eher die Sorge der Ärzte weckt als das Interesse ehrbarer Zuschauer, die mit ihren Frauen und Töchtern in die Opéra Comique gekommen sind.“ Was am 8. März 1875 in Le siècle zu lesen ist, wo der 54-jährige Oscar Commetant den Komponisten auf bedauerlichem Irrweg sieht, das entspricht dem mainstream der bürgerlichen Presse – aber es hält die Leute keineswegs vom Besuch der neuen Oper ab. Carmen füllt das Haus, und schon bis Ende Mai gibt es 33 Vorstellungen. Dann erleidet der 36jährige Georges Bizet, der sich von Probenstress und Enttäuschung nicht erholt hat, in seinem Sommerhaus in Bougival, dort, wo er Carmen vollendete, einen tödlichen Herzanfall.

Keine zwei Wochen später wird der Grundstein für Sacré-Coeur gelegt, für dieses Monument eines katholischen, reaktionären Frankreich, und zwar genau dort, wo der Aufstand der Pariser am 18. März 1871 begann, als die 227 Kanonen abgeholt werden sollten. Und genau dort, wo im Mai jenes Jahres „neunundvierzig Menschen, darunter drei Frauen und vier Kinder, zusammengetrieben und am Todesort der beiden Generäle knieend erschossen“ wurden (30). In langen Jahrzehnten wächst dann dieser gewaltige Zuckerstöpsel auf einem Meer von Blut in die Höhe. Weitaus schneller aber wächst der Ruhm von Carmen, dieser Oper, die fern der besseren Gesellschaft spielt und keinen in der Illusion entlässt, es sei doch noch alles gut gegangen. Eine Oper, die in all ihrer Intensität nur in diesen Jahren nach 1871 entstehen konnte.

Dieser Text ist urheberrechtlch geschützt. Er wurde für das MAG 110 der Oper Zürich geschrieben, wo Bizets Oper Carmen am 7. April 2024 Premiere hat, dirigiert von Gianandrea Noseda und inszeniert von Andreas Homoki. Das MAG ist online hier zu lesen.

 

Fotos:

Die Kanonen auf dem Montmartre-Hügel, März 1871, https://www.humanite.fr/en-debat/il-y-a-150-ans/14-mars-1871-les-canons-de-montmartre-a-la-veille-du-18-mars-701369

Célestine Galli-Marié als Carmen im Kostüm des 4. Aktes, Félix Nadar, 1880-1885, BnF, Bibliothèque-musée de l’Opéra

Literatur:

1 Gagliani, New Paris Guide 1876, 2f
2 Hulk 333, Walburga Hulk, Der Rausch der Jahre – Als in Paris die Moderne entstand, HH 2019
3 Willms 384 f, Johannes Willms, Paris – Haupstadt Europas 1800-1914, München 2000 (1988)
4 Curtiss 385, Mina Curtiss, Unpublished Letters by Georges Bizet, The Musical Quarterly , Jul., 1950, Vol. 36, No. 3 (Jul., 1950), pp. 375-409, Oxford 1950
5 Wiki Commune https://fr.wikipedia.org/wiki/Commune_de_Paris
6 Curtiss 389, 20.3.71
7 Laut Wiki Commune 350.000
8 Willms 412, Arte: Pariser Kommune: Die Revolte der Arbeiterbewegung, Karambolage, ARTE, 16.4.2019
9 Encyc Brit Macro 19 515, Encyclopaedia Britannica, 15th Edition, Chicago 1992
10 Lettres 308, Lettres de Georges Bizet, Paris 1908, 308
11 Paris illustrée 145, Alfred Fierro, Histoire de Paris illustrée, Toulouse 2010
12 Arte
13 Lettres 314
14 Flaubert an Sand, 11.6. 1871, in Paris illustrée 146 und Correspondance
15 Curtiss 390
16 Curtiss 398, 20.6.1871
17 Winton Dean, Bizet, London 1978 (1948), Stuttgart 1988: 269
18 Figes, 431, 426, Orlando Figes, Die Europäer – Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur, Berlin 2020 (London 2019)
19 Figes 430
20 Programm 43, Programmbuch Carmen, Opéra comique, Paris 2023
21 https://flaubert.univ-rouen.fr/labo-flaubert/questions-reponses/merimee/
22 Programm 43
23 1875 ist 1 Franc = 0,81 Mark ~ € 6,40 https://de.wikipedia.org/wiki/Goldparit%C3%A4t, https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/94b87ff6d25eceb84c9cfb801162b334/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf
24 Gavroche 46, Maryvonne de Saint Pulgent, L´opéra-comique – Le gavroche de la musique, Paris 2010
25 Macdonald 202, Hugh Macdonald, Bizet, NYC 2014
26 Münchhausen 245, Thankmar von Münchhausen, Paris – Geschichte einer Stadt. Von 1800 bis heute, München 2007
27 Macdonald 212
28 Figes 432
29 Le Figaro 4.3.1875 S.2
30 Münchhausen 240

Klang und Körper

Vier Schlüsselszenen aus der jahrhundertelangen Beziehung zwischen Musik und Tanz – von J.S.Bach bis zu György Ligeti

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Was Bach vom Sonnenkönig übernahm

Als die Leipziger am Karfreitag 1727 die neue »große Passion« hörten, die ihr Thomaskantor geschrieben hatte, die Passio Secundum Matthaeum, konnten sie sich noch wundern über die neue Musik, und vielleicht freute es sie in all dem Neuen auch, hie und da eine Tanzform wiederzuerkennen: eine Gigue in der wütenden Chorfuge »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?«, ein Menuett in der Arie »Ach, nun ist mein Jesus hin«, eine Sarabande im Schlusschor »Wir setzen uns mit Tränen nieder« … Zumindest das gehobene Bürgertum kannte diese ursprünglich französischen Tänze nebst ihren Bewegungen sehr gut – sie wurden längst nicht mehr nur an den Höfen getanzt.

Bach und Tanz? Das liegt für uns so nahe wie fern. Nahe, weil wir gerade bei diesem Komponisten immer wieder auf die Namen von Tänzen stoßen, in Suiten und Partiten höchsten Ranges: Allemande, Bourrée, Courante, Gavotte … In weite Ferne entrückt aber ist uns das Universum der Formen und Bewegungen hinter diesen Namen, das einst nicht nur den Leipzigern (mit immerhin einem Dutzend Tanzmeistern auf 30.000 Einwohner) nahe war. »Ganz bewusst«, schreibt der Bach-Experte Christoph Wolff, habe Bach für die Matthäuspassion »Elemente aus allen gängigen Gattungen der geistlichen und weltlichen Musik« herangezogen. Dieses Sakralwerk überbot alles Dagewesene an Vielfalt. Dass wir dabei nicht an höfische Tänze denken, liegt auch daran, dass Bachrezeption und Bachforschung in diesem Punkt deutlich verkniffener sind, als es die Lutheraner des frühen 18. Jahrhunderts waren.

Gegen die »wahre Tantz-Kunst« hatten sie im Gegensatz zu Calvinisten und Pietisten nichts einzuwenden. Es war der Leipziger Tanzmeister Johann Pasch, der mit seiner »Beschreibung wahrer Tantz-Kunst« 1707 die Kunst aus Versailles »ins deutsche protestantische Bürgertum vermittelte« (Silke Leopold), und in Leipzig erschien 1717 Gottfried Tauberts »Rechtschaffener Tantzmeister« mit der Übersetzung eines bahnbrechenden Werks aus Frankreich: 1700 hatte Raoul-Auger Feuillet die Tanznotation publiziert, die am Hof des Sonnenkönigs entwickelt worden war. Ganz gleich, wie viele Städte Louis XIV. hatte niederbrennen lassen, seine Hofkultur war maßgeblich für ganz Europa, und mit Feuillets »Choréographie« eroberte die für ihn zentrale Kunst auch das Bürgertum.

Es ist ein Vokabular von Bewegungen, dessen Differenziertheit einem Unkundigen den Atem verschlägt. Was da an Positionen, Fußstellungen und Schrittfolgen aufgezeichnet ist, nimmt sich aus wie eine grafische Partitur neben den Tönen. Kniebeugen, Erheben auf die Fußballen, Drehen, Gleiten, Springen, Armbewegungen, für alles gibt es Hieroglyphen. Bach dürfte all das schon früh kennengelernt haben. Als 15-jähriger Lüneburger Stipendiat hatte er, so Wolff, über den Ballettmeister Thomas de la Selle vermutlich Zugang zum herzoglichen Schloss und konnte dort »aus erster Hand genuin französische Musik hören und sich in französischen Aufführungsmanieren bilden«, zur selben Zeit, als er von Georg Böhm in die Komposition stilisierter Tänze eingeführt wurde. Später befreundet sich Bach mit zwei bedeutenden Tanzmeistern in Sachsen, Jean-Baptiste Volumier und Pantaleon Hebenstreit.

Es ist unwahrscheinlich, dass er bei den Bällen, die die Leipziger Bürger und ihre Tanzmeister veranstalteten, nur am Rande stand und zusah. Ganz sicher aber hatte er bei den hunderten von Tänzen, die er explizit oder implizit komponierte, eine Körpersprache vor sich, die heute nur noch Experten kennen – und die doch für die Europäer mehrerer Generationen zum Leben gehörte. Allein im »Wohltemperierten Klavier« haben Meredith Little und Natalie Jenne (»Dance and the Music of J. S. Bach«, 1991) zwölf Tänze gefunden. »Wenn man die Übung im Komponieren charakteristischer Tänze vernachlässigt«, schrieb Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger 1777, »wird man nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht zu einer guten Melodie kommen. Vor allem ist es unmöglich, eine Fuge zu schreiben oder zu spielen, wenn man nicht jede Art von Rhythmus kennt.«

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Ein Sprengsatz aus Tänzen: Mozart macht Party

1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution. Ein vermögender Adliger, immer auf der Jagd nach Affären, lädt zur Party in sein Schloss, Leute von Stand und eine Hochzeitsgesellschaft von Bauern. »Viva la libertà!«, ruft er, dann lässt er von drei verschiedenen Kapellen drei Tänze gleichzeitig spielen. Menuett für den Adel, Kontretanz für die Bauern, unter die er sich mischt, weil er sich so an die Braut heranmachen kann. Eine dritte Kapelle spielt einen »Deutschen«, die Vorform des Walzers, ein für die Zeit unanständiger und daher sehr beliebter Tanz mit enger Berührung – und ausgerechnet zu dem nötigt der Diener des Gastgebers den Bräutigam, um ihn abzulenken. Unnötig zu sagen, dass sich unter den Menuett tanzenden Maskierten zwei Damen befinden, die mit dem Hausherrn auch schon Erfahrungen gemacht haben und ihn endlich aus dem Verkehr ziehen wollen. Unnötig deshalb, weil Sie natürlich schon Mozarts Oper »Don Giovanni« erkannt haben, erster Akt, erstes Finale, Szene 20.

Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte siedeln die Geschichte im Sevilla des 17. Jahrhunderts an, aber die Oper ist vom ersten Wort bis zum letzten Ton auf der Höhe des Tages, und das betrifft auch die Tänze. Von all den Hoftänzen, mit denen – dank Feuillets Tanzschrift – Versailles in ganz Europa präsent war, ist im späten 18. Jahrhundert der jüngste geblieben, das Menuett, in den 1650ern von Louis XIV. entwickelt, einfachster Tanz, aber doch kompliziert genug mit vier Schritten auf sechs Zählzeiten, nobler Haltung, absoluter Kontrolle. Die Beherrschung des Menuetts wurde zum bürgerlichen Bildungsnachweis und seine einfache musikalische Struktur ein Einstieg ins Komponieren. Mozart dachte sich sein erstes Menuett mit fünf Jahren aus, und Silke Leopold (»Tanz und Macht im Ancien Régime«, 2007) schließt aus dem Thema, dass er da auch schon wusste, wie man es tanzte.

Er wurde ein sehr guter Tänzer und verließ 1777 enttäuscht einen Ball, »dann es ware, unter 50 viell Frauenzimmer, eine einzige welche auf dem tact Tanzte«. Da ließ es schon nach mit der Finesse, und zur Zeit des »Don Giovanni« war das Menuett so angekratzt wie die Ordnung der Stände, für die es in dieser Oper noch steht. Derweil wurde der Kontretanz – Frauen und Männer einander gegenüber, einfache Bewegungen – zum Modetanz, bald auch der »Deutsche«, bei dem sich die Geschlechter tanzend so nahe kamen wie nie zuvor. Alle drei stapelt Mozart beim Fest aufeinander. Das Menuett im 3/4tel-Takt beginnt, es kommt die »Contradanza« im 2/4tel-Takt dazu und schließlich die »Balla la Teitsch«, der »Deutsche«, im 3/8tel-Takt – ein Chaos der Betonungen und Motive, das dem Beziehungswirrwarr entspricht, in das alle verwickelt sind. Die Party wird im Zeitraffer – 63 Takte Tanz, keine zwei Minuten – zur Weißglut gebracht und bricht mit dem entsetzten Schrei Zerlinas ab, die vom Gastgeber gewaltsam ins Abseits gezerrt wird.

Es ist nicht das erste Mal in der Musikgeschichte, dass unterschiedliche Ebenen von Aktionen und Gefühlen zugleich erklingen – aber hier riskiert es ein Komponist, die Struktur daran zerbrechen zu lassen. Der Dreivierteltakt des Menuetts als Grundgerüst kann die Verdichtung und Irregularität kaum noch tragen. Mozart geht mit dem Takt, »der doch stets die letzte, unantastbare Kategorie darstellt, so um (…), als ob sich Taktarten so kombinieren ließen wie Stimmen oder Motive«, stellt Stefan Kunze fest (»Mozarts Opern«, 1984). Freilich tut er das mit einem unfassbaren Schwung, die Energie des Ganzen springt uns mühelos an, und die Tänze, aus denen Mozart seinen Sprengsatz baut, wirken nach 236 Jahren wie taufrische Gegenwart. Zwei Jahre nach der Uraufführung begann die feudale Ordnung in Europa zu zerbrechen.

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Walzer von innen: Berlioz, Tschaikowsky, Mahler

Es gibt bei Gustav Mahler 23 Walzertakte, die könnte man herauslösen und damit Leute hereinlegen, vielleicht sogar solche, die seine Fünfte Sinfonie schon mal gehört haben. »Das ist aber ein schöner Walzer«, würden sie sagen und hätten recht. Nichts stört diesen sanften Schwung der Streicher, dem leise gezupfte Töne das Metrum geben. Hie und da sekundiert eine Oboe, ein Fagott, von Brechung keine Spur, das bisschen Kontrapunktik ist nicht der Rede wert. Und all das mitten in einem Satz, der der polyphonste in Mahlers Fünfter Sinfonie ist, das längste Scherzo aller Zeiten, Mahlers erstes vollkommen kontrapunktisch durchgearbeitetes Werk.

Dieses Scherzo ist seinerseits eine Art kosmischer Walzer voller Aufbrüche und Abgründe, die gerade deswegen so deutlich werden, weil der Tanzrhythmus alles zusammenhält, auch dort, wo er in wilden Fugati und apokalyptischen Bläserschreien untergeht oder mit Paukenschlägen untanzbar gemacht wird. Und mittendrin – formal eine Art »Trio I« – Walzer pur und schön, wie ein Rückblick oder eine Liebeserklärung oder beides, vor jenem letzten Takt abgebrochen, den man nach einer ordentlichen Periode erwartet. Hier kommt der Walzer noch einmal so zu sich, dass man förmlich seine Sinnlichkeit spürt, die Nähe, die er in aller Öffentlichkeit möglich macht. Wie ein Séparée hat Mahler ihn in die riesige Partitur gesetzt, intim instrumentiert. Und so – aber eben nur so, nicht herausgelöst – ist es eine der erotischsten Passagen, die er je schrieb.

Walzer sind in Sinfonien so selten, wie sie in anderen Genres häufig sind. In Mode kam der Tanz, der einfach auszuführen war, schon in den 1790ern, und die meisten Komponisten des 19. Jahrhunderts – nicht nur die für den Vergnügungsmarkt schreibenden – griffen in Instrumentalwerken den populären Dreier auf, von Beethoven, Schubert, Webern über Chopin, Liszt, Brahms bis hin zu Saint-Saëns. Natürlich sind auch Ballette, Operetten, Opern voller Walzer, selbst in Richard Wagners »Parsifal« wird gewalzert, von den Blumenmädchen. Wagner bewunderte Johann Strauß (den Älteren) ebenso, wie Hector Berlioz das tat – der widmete Strauß und seinem Orchester eine fulminante Besprechung, als die Wiener Musiker 1837 erstmals in Paris gastierten.

Da hatte Berlioz selbst den Walzer schon explizit in eine Sinfonie eingebaut, als erster. Unter dem Blickwinkel »absoluter Musik« gehörten Allerweltsklänge nicht in Sinfonien, Sonaten, Streichquartette. Das Menuett – letzter Rest der französischen Hofkultur, als dritter Satz in die Sinfonie gewandert – war zum Scherzo geworden und wusste nichts mehr vom Tanzen. Nur die ABA-Form war geblieben, als mitunter qualvolle Pflichtübung, auf die Mozart schon in seiner Prager Sinfonie verzichtet hatte.

Berlioz setzte sich in seiner erzählerisch konzipierten »Symphonie fantastique« als 27-Jähriger über diese eher deutschen Dogmen hinweg und führte die idée fixe ein, das Thema einer ersehnten Frau, die in unterschiedlichen Umgebungen und Gestaltungen auftaucht, bis hin zum dämonischen Hexensabbath. Im zweiten Satz, »Un bal«, wird die Angebetete noch in heiteren Situationen imaginiert, für die das Gewirbel eines Balls steht – mit eben der Musik, zu der damals, 1830, vornehmlich getanzt wurde. Berlioz blendet von diesem Walzer (der ihn als Kenner des Genres ausweist) zur Erscheinung der Ersehnten, verbindet beide Ebenen raffiniert, trennt sie wieder … Wie bei Mahler, der dieses Werk oft und gern dirigierte, gewinnt das Walzerglück seine tiefere Bedeutung durch das Drama (bei Mahler eher: den »Roman«) der ganzen Sinfonie.

Etwas anders ist es bei Peter Tschaikowsky, der nach einer schönen »Valse« in seiner Fünften Sinfonie (und Walzern in seinen Bühnenwerken) ein letztes Mal auf diesen Tanz zurückkommt, als er die »Pathetique« schreibt, seine Sechste Sinfonie, mit einem Programm, »das für jedermann stets ein Rätsel bleiben soll«. Ein Schlüssel zu diesem Rätsel liegt vielleicht im zweiten Satz, einem Walzer im Fünfvierteltakt, mit einem derartig organischen Thema, dass man nie finden kann, es seien zwei Viertel zu viel im Takt – es bleibt ein sanftes Kreisen. Ein ungetrübtes nicht, man hört auch Schatten, die sich im Trio vertiefen. Tschaikowsky schrieb nicht nur Ballette, er tanzte selbst, und sein geheimer Pas de deux mit dem Kollegen Camille Saint-Saëns 1875 in Moskau ist nicht nur in der LGTB-Community legendär. Es mag schon sein, dass er im Fünf-Viertel-Walzer souverän ein Abweichen von der gesellschaftlichen Norm aufs Podium brachte, das im Uraufführungsjahr 1893 nicht ohne Gefahr gelebt werden konnte. So gehört, ist dieser Walzer seiner Zeit um etliche Jahrzehnte voraus.

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György Ligeti und die Autonomie der Volkstänze

1949 begibt sich György Ligeti, 26 Jahre alt, Absolvent der Budapester Musikakademie, in seine rumänische Heimat (in der seine Eltern zur großen ungarischen Ethnie gehörten), um Volksmusik aufzuzeichnen, Tänze und Lieder – so, wie das mehr als drei Jahrzehnte zuvor auch der von ihm verehrte Béla Bartók getan hat Es sind Exkursionen des neu gegründeten Bukarester Folklore-Instituts, an denen er teilnimmt. Von den Wachsrollen und Schallplatten dieses Instituts schreibt sich Ligeti weitere Themen herunter – und aus all dem wird ein wunderbares Stück, mit dem man jeden Kenner der Musik des 20. Jahrhunderts verwirren kann, das »Concert Românesc« für kleines Orchester. Vier miteinander verbundene Sätze, 15 Minuten, von denen – zunächst – niemand vermuten würde, dass sie von Ligeti stammen.

Die folkloristischen Quellen von Melodik, Rhythmik, Harmonik (uns vertraut durch die lange so genannte »Zigeunermusik« der Sinti und Roma) sind offenkundig, mehr noch, die Wehmut der Lieder, die Rasanz der Tänze werden geradezu herausgestellt, und doch wird schnell klar, dass es hier nicht um ein back to the roots wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts geht. Die Virtuosität der Instrumentierung, verblüffende Farben, imitatorische Verdichtungen zeigen einen auch zu Witzen aufgelegten Geist, der Bartók schon hinter sich hat.

Am Ende spielt eine Sologeige in schwindelnder Höhe rasende Neunachtelketten, einen verselbstständigten Rest des Tanzes zuvor, und das Orchester versucht sie mit einzelnen Hieben gleichsam zu erschlagen wie eine lästige Mücke. Das gelingt nur scheinbar – die kinetische Energie der siebenbürgischen Tanzweise schießt über den Schlussstrich hinaus. Ligetis Gestaltungslust macht die Musikantenweisen keineswegs zu Souvenirs, sie erschließt ihr Potenzial. »Das ›Concert Românesc‹«, schrieb der Komponist später, »spiegelt meine tiefe Liebe zur rumänischen Volksmusik und zur rumänischsprachigen Kultur schlechthin wieder.« So gesehen, ist sein Werk vielleicht das letzte Exempel einer künstlerischen »Aneignung« kollektiv tradierter Tanzmusik am Ende einer mehrhundertjährigen Geschichte solcher Adaptionen, die den Hintergrund, auch den politischen, für Györgi Ligetis Bekenntnis zu Rumänien bildet.

Diesen Hintergrund beleuchtet ein Blick auf die Polonaise, die sich im 17. Jahrhundert aus dem polnischen Volkstanz polonez – sechs Achtel, auf der zweiten Achtel zwei Sechzehntel – zu einem Tanz der gehobenen Klassen entwickelt und am Ende des Jahrhunderts schon so europäisiert ist, dass sie selbst in Polen den französischen Namen trägt.

Es folgt eine zweigleisige Geschichte: Zum einen verselbstständigt sich eine musikalische Form, J. S. Bach, Telemann, Couperin bauen Polonaisen in ihre Suiten ein, in der Generation danach weist vor allem Wilhelm Friedemann Bach schon auf die Romantik voraus. Aus einem Modeartikel im Dreivierteltakt wird bei Bachs ältestem Sohn ein intimes Tagebuch. Persönlicher lässt sich nicht komponieren. Einsame Träumereien am Cembalo schreibt Friedemann, mit denen er schon an die Seite Frédéric Chopins gerät. Es ist kein Wunder, dass diese zwölf Stücke in zwölf Tonarten die ersten aus seiner Feder sind, die im 19. Jahrhundert gedruckt werden; schon vorher kursieren sie in Abschriften.

Zugleich, das andere Gleis, wird die Polonaise in dem Maße renationalisiert, in dem eine autarke polnische Nation von europäischen Großmächten verhindert wird. Eine Folge davon ist Chopins Pariser Exil, in dem beides zusammenkommt: die Polonaise in extrem individualisierter Form, als kompositorisches Labor, und daneben als Ausdruck polnischer Identität (wie auch die Mazurka). Die Zeit der »Nationalkomponisten« bricht nun an in Nationen, die um ihre Autonomie ringen. Eine Musik, in der »die tschechische Seele ihren Widerhall finden würde«, erträumt sich Bedřich Smetana und realisiert sie mit böhmischen Bauerntänzen im Zyklus »Mein Vaterland«. Vergleichbare Tendenzen gibt es vom Finnen Jean Sibelius bis zum Spanier Isaac Albéniz.

Und eben in Ungarn von Bartók und Kodály bis hin zu György Ligeti, der mit seinem »Concert Românesc« keineswegs auf das Wohlwollen der kommunistischen, letztlich stalinistischen Kulturpolitik stieß. 1950 wurden in Ungarn selbst wichtige Werke von Bartók als »bourgeois« aus Rundfunksendungen ausgeschlossen. Ligeti hatte angenommen, die insgesamt moderate Musiksprache seines Konzerts werde als »Camouflage« den Maßgaben des Sozialistischen Realismus standhalten. Aber nach nur einer Probe wurde 1951 das Stück verboten mit Hinweis auf Dissonanzen – »z. B. fis innerhalb von B-Dur«, wie er schreibt. Möglich auch, dass zwei Jahre vor dem Tod Stalins allein schon die Verwendung rumänischer und ungarischer Volksmusik von bedenklichen Autonomiegelüsten zeugte.

Die brachen sich 1956 in Budapest bekanntlich Bahn und wurden von der Sowjetunion blutig niedergeschlagen. Das »Concert Românesc« wurde erst 1971 uraufgeführt, 1996 fand es nach einer Überarbeitung durch den Komponisten den Weg ins Repertoire. In jeder Hinsicht zeigt dieses Stück aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, dass in jedem Volkstanz weit mehr steckt als nur ein harmloses Vergnügen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im Elbphilharmonie Magazin I / 2024, S.8-13. Die Illustrationen sind Raoul-Auger Feuillets Buch “Choreographie ou L’art de decrire la danse”, Paris 1700, entnommen.

Blut an den Saiten

Spiel mir das Lied von Bach: Der moderne Barockkomponist Ennio Morricone

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Diese Musik setzt nicht ein, sie ist schon da. Sie wartet in den Dingen, in der Weite, in der Hitze. Alles wartet in einem der langsamsten Anfänge der Filmgeschichte, in Spiel mir das Lied vom Tod. Man hört das gedehnte Metrum der Wassertropfen, die aus dem Bahnhofstank in die Hutkrempe eines Mannes fallen. Ein Windrad quietscht. Manchmal bringt es eine Art Es-Dur zustande. Eine Fliege summt. Einmal bellt ein Hund. Bewusstlose Geräusche, die ein zerbrechliches Muster bilden.

Der Schrei der Lokomotive zerreißt es – und ist doch nichts gegen den Laut des Schicksals, den man hört, als der Zug schon wieder fort ist und drei Männern der gegenübersteht, auf den sie gewartet haben. In wenigen Tönen, die Charles Bronson auf der Mundharmonika spielt, bündelt sich alle Weite zum Konflikt. Ein fieses Halbtonschleifen zwischen f und e, ein des, dem die Erlösung zum c noch fehlt. Sekunden später sind drei Männer tot. Der Mann mit der Mundharmonika nimmt seine Tasche und geht jener Rachemission entgegen, die das gefährliche kleine Motiv in sich birgt wie der Tristanakkord die Liebe.

Schon diese paar Töne sind nicht zu trennen von der archaischen Faustrechts- und Felsenwelt, aus der sie hervordringen in Sergio Leones Western von 1968. Ennio Morricone, der 1928 geborene Filmkomponist [gestorben 2020], lauscht ins Sujet hinein, ins Material, in die Farben. Was er findet, wird auf wenige Elemente reduziert. Und die wiederum vergrößert er – ausgebildeter Trompeter, Komponist, Dirigent – im gewaltigen Echoraum populärer Idiome. Er hat sich einmal als “Barockkomponisten” bezeichnet, und sein Lied vom Tod erreicht den Durchbruch über einem Bassmotiv, das schon J. S. Bach kannte. Das dräut unhörbar schon unter den einsamen Mundharmonikatönen. Es bricht hervor, als ein kleiner Junge vor den Männern steht, die soeben seine Familie ausgelöscht haben. Der absteigende Quartgang, wie ihn Bach etwa im Crucifixus der h-Moll-Messe einsetzt, wird hier von einer E-Gitarre geröhrt, an deren Saiten noch Blut zu trocknen scheint. Anders als Bach lässt Morricone die Schmerzenshalbtöne weg, den Passionsweg mithin: Hier wird gestorben, ehe man noch leiden kann. Und statt der Aussicht auf Erlösung gleißt die Verheißung der Rache über allem: die Mundharmonika. Eigentlich sind Gut und Böse nicht zu unterscheiden.

Diese Musik macht aus unrasierten Männern in langen Mänteln Todesengel, Verkörperungen vorzivilisatorischer Gesetze. Wo mit dem Bau einer Eisenbahnlinie der Fortschritt naht, beginnt die Steinzeit, und Morricone vertont den ungeheuren Sog einer Welt, in der auf Gewalt nur Gewalt antworten kann. Er hat auch ganz andere Welten komponiert in über 400 Filmpartituren und einem ernst zu nehmenden Œuvre für den Konzertsaal. Aber sein Lied vom Tod ist nicht totzukriegen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 9. November 2006 in der Serie “50 Moderne Klassiker” (Nr.39) in der ZEIT