Kategorie-Archiv: Historisch

Felix, tust du nichts?

Die letzten beiden Jahre von Felix Mendelssohn Bartholdy waren von extremer Produktivität geprägt. Im Oratorium „Elias“ kulminiert ein Leben unter Hochdruck. Ein Blick zurück auf die Jahre 1846 und 1847

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„Ich bin zuweilen in meinem Zimmer hoch in die Höhe gesprungen, wenn mir’s gar so gut zu werden schien“, schreibt Felix Mendelssohn Bartholdy am Freitag, dem 15. Mai 1846, höchst zufrieden mit der Arbeit am Elias. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer am Tisch, Blick nach Süden, draußen hört er die kleine Elisabeth krähen. Sie stört ihn nicht, er kann auch „unter Kinderlärm“ gut arbeiten. Vor acht Monaten ist sie zur Welt gekommen, das fünfte Kind des Gewandhausdirektors und seiner Frau Cécile. Platz genug haben sie hier in Leipzig, in der Beletage der Königsstraße 3, eine Viertelstunde vom Bahnhof entfernt. Acht Zimmer, Küche, Musiksalon, ein 23 Meter langer Korridor mit breiten Nadelholzdielen, alles in schlichtem Klassizismus dekoriert.

Es sind ein paar entspannte Minuten in einem Leben unter Hochdruck. Schon eine Woche später schickt Mendelssohn den fertigen ersten Teil des Oratoriums nach London, dann bricht er auf nach Aachen, um das Niederrheinische Musikfest zu leiten und bei der Gelegenheit die Sängerin zu treffen, der er an diesem Freitag noch mehr mitteilt. „Wenn ich heut blos schriebe, wie mir zu Muth ist, so schrieb ich in den ganzen Brief nichts als blos: Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen! Denn eigentlich denke ich in diesem Augenblicke doch gar nichts anders. Und wie ich mich darauf freue…“ Er möchte mit ihr eine Rheinfahrt machen, „und ich will Ihnen sagen, wie die Burgen heißen.“

Er plant auch schon eine Oper mit ihr in der Hauptrolle, Lore Ley. Spätestens am 4. Dezember 1845 ist ein Funke übergesprungen zwischen der 25jährigen Jenny Lind, der europaweit gefeierten „schwedischen Nachtigall“, und dem 36-jährigen Komponisten, Dirigenten, Pianisten. Es war das Debüt der Sopranistin im Leipziger Gewandhaus, ein Triumph. Die Billets kosteten doppelt so viel wie sonst, an zwei Abenden. Lind wurde von Mendelssohn am Flügel begleitet. Am Schluss aber begleitete sie sich zu einem schwedischen Nationallied selbst und verzauberte alle mit einem lang ausgehaltenen hohen fis im Pianissimo. Mendelssohn hat dieses fis dann obsessiv für die Sopranarie „Höre Israel“ übernommen, mit der der zweite Teil seines neuen Oratoriums Elias beginnt. Nach ihrem Gastspiel ist er mit Jenny Lind in der Eisenbahn ein Stück in Richtung Berlin gefahren, bis nach Dessau. Dort lebt der Theologe Julius Schubring, mit dem Mendelssohn sich über das Libretto des Elias berät.

Das Wunderkind ist früh auf dem Olymp angekommen

In Dessau hat aber gewissermaßen auch alles begonnen, mit Moses, dem Großvater von Felix. Ärmsten Verhältnissen enstammte er, im jüdischen Ghetto der Stadt war er aufgewachsen. Der 14-Jährige sprach neben Hebräisch und Jiddisch kaum Deutsch, als er 1743 nach Berlin aufbrach, seinem Rabbi folgend. Geradezu im Zeitraffer wurde aus diesem Jungen eine Schlüsselfigur der deutschen Aufklärung. Moses Mendelssohn lernte außer Deutsch auch Latein, Französisch, Englisch, wurde zuerst Hauslehrer, dann Geschäftsmann, dann Mitbegründer einer deutschen Literaturkritik, befreundet mit Kant, Herder, Lessing, Wegbereiter der jüdischen Emanzipation und „Schutzjude“ mit dem Recht auf Grundbesitz, Wohnungswechsel und Ausübung eines Gewerbes. Diese Privilegien gingen an seine sechs Kinder über, also auch an Abraham Mendelsohn, der als Bankier eine Bankierstochter heiratete, Lea Itzig, vielsprachig, hochmusikalisch.

Ihre Großtante hat das Klavierspielen noch bei Bachs Sohn Friedemann gelernt und in ihrem Wiener Salon Mozart empfangen. Auf so einem Level bewegt man sich da. Zwei der wohlhabendsten und kultiviertesten jüdischen Familien verbinden sich in der Ehe von Abraham und Lea. Doch die Gleichstellung der Juden, 1812 in Preußen verkündet, wird 1815 widerrufen. So lassen die Mendelssohns ihre vier Kinder taufen und konvertieren später selbst. Und sie lassen ihren Kindern Privatunterricht von einer Qualität und Spannweite angedeihen, als rechneten sie mit Universalgenies. Ausgeruht wird nie, aufgestanden um fünf Uhr morgens, um das Pensum zu schaffen. „Felix, tust du nichts?“ fragt Lea ihren Sohn, wenn er mit einem Freund plaudert.

Es erweist sich, dass Felix und seine ältere Schwester Fanny sprachlich und musikalisch wahnwitzig begabt sind. Dichterfürst Goethe persönlich testet mit Musikern in Weimar, ob der zwölfjährige Mendelssohn mit dem Wunderkind Mozart mithalten kann, und findet ihn sogar noch erstaunlicher. Felix ist früh auf dem Olymp angekommen – und trägt seither die volle Beweislast für den Triumph seiner Familie über alle Diskriminierungen. Mit 17 schreibt er die schwerelos geniale Musik zum Sommernachtstraum, mit 20 realisiert er die epochemachende Wiederaufführung der Matthäuspassion.

Lange ist das jetzt her, im Sommer 1846. In fünfzehn, sechzehn Jahren kann viel passieren. Die Pariser Julirevolution 1830 hat das Gesicht Europas ebenso verändert wie die Eisenbahn. Man kann das Schienennetz in Mendelssohns Briefen kilometerweise wachsen sehen, seit 1837 das erste Teilstück zwischen Leipzig und Dresden eröffnet wurde. Als er mit seinem Violinkonzert fertig wird, im September 1844, zeichnet er ein Biedermeiersofa, auf dem er und seine Frau Tee trinken, während sich Gouvernanten um die Kinder kümmern – und unten auf demselben Blatt fährt die Eisenbahn, Modell Saxonia, die erste deutsche Dampflok, präzise dargestellt. Mendelssohn ist der einzige Komponist neben Hector Berlioz, dem die Züge mit maximal 40 Stundenkilometern nicht schnell genug sind. Kein Wunder bei seinem Terminkalender. Seit 1835 ist er Direktor der Leipziger Gewandhauskonzerte, parallel dirigiert er dann in Berlin, 1843 wird das Leipziger Konservatorium eröffnet, das auf Mendelssohns Initiative entstanden ist und von ihm geleitet wird, mit Stipendien für mittellose Hochbegabte. Er kümmert sich um bessere Bedingungen für Orchestermusiker; er leitet die Uraufführung der neu entdeckten, letzten Schubert-Sinfonie; er ist innovativ an allen Ecken. Ein goldenes Dutzend Jahre, das die Leipziger später mit einem Mendelssohn-Denkmal vor dem Gewandhaus würdigen. 1936 wird es von den Nazis abgeräumt. Der Antisemitismus ist Staatsdoktrin geworden, auf den schon Mendelssohn selbst immer wieder stieß – außer im Vereinigten Königreich.

Zehnmal reist er dorthin, erstmals 1829. Man liebt ihn in Großbritannien, er wird dort wie ein Popstar gefeiert. Er schreibt und spricht Englisch so fließend wie Französisch. London hat schon den 20-jährigen tief beeindruckt: „Es ist entsetzlich! Es ist toll! Ich bin confus und verdreht! London ist das grandioseste und complicierteste Ungeheuer, das die Welt trägt. […] Seht die Läden mit den Manns hohen Inschriften, und die stage coaches, auf denen die Menschen sich aufthürmen, […] und wie die Menschen gebraucht werden, um Ankündigungszettel herumzutragen, auf denen man uns die graziösen Kunststücke gebildeter Katzen verheißt, und die Bettler, und die Mohren, und die dicken John Bulls mit ihren dünnen, schönen zwei Töchtern an den Armen.“

Eine innige Nähe zu den alten Meistern Bach und Händel

In London verfasst er 1837 auch einen ersten Textentwurf zum Elias, lange bevor es einen Auftrag gibt. Fast 70 Sakralwerke hat Mendelssohn komponiert. Mit den Meistern des Barock so vertraut, wie es zu dieser Zeit überhaupt nur möglich ist, hat schon der 16-Jährige in seinem Oktett den Messias von Händel zitiert; im Finale der Reformationssinfonie des 20-jährigen wird Luthers Choral Ein feste Burg ist unser Gott kontrapunktischen Eskapaden unterworfen, die selbst Bach hätten aufhorchen lassen. Die innige Nähe zu alten Meistern ist in die Musiksprache Mendelssohns integriert. Das Disparate und Desperate stellt er dabei ungern aus – „Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider“, heißt es im Elias.

Da ist Berlioz ganz anders, der Freund und Antipode, mit dem sich Mendelssohn, wenn auch skeptisch, auseinandersetzt. 1831 verurteilt er die Symphonie fantastique in einem Brief noch als „Grunzen, Schreien, Kreischen“, doch zwölf Jahre später darf Berlioz das Werk mit dem Gewandhausorchester aufführen, wo Mendelssohn am Klavier die Harfenpartie übernimmt. Im Februar 1846 hat er den Leipzigern wieder einen Avantgardisten zugemutet und Richard Wagners Tannhäuser-Ouvertüre dirigiert. Der einzige Hörer, dem sie gefiel, war offenbar der dänische Autor Hans Christian Andersen, Mendelssohns Gast.Mendelssohn Zimmer

Donnerstag, 23. Juli 1846. Inzwischen sind es nur noch vier Wochen bis zur Uraufführung des Elias in Birmingham, und Mendelssohn ist noch nicht fertig. Er lebe seit der Rückkehr vom Rhein so arbeitsam „wie ein Hamster“, schreibt an Jenny Lind. „Da ich von Mitte des nächsten Monats an bis zum September wieder ein wenig in der Welt herumschweifen werde, so könnte es ja sein daß wir uns irgendwo um eine Woche, oder um einen Tag, oder um eine Meile fehl gingen. Und das könnte mich sehr verdrießen. Denn wenn’s nicht gerade sein muß, daß es mit unserm nächsten Wiederzusammentreffen bis zum Frühjahr dauert, so wäre mir’s schon ganz recht.“ Aber so lange wird es doch dauern.

Auf den letzten Metern schreibt er noch die Ouvertüre für den Elias. Eigentlich wollte er keine, das Werk soll mit dem Fluch des Elias beginnen. Aber sein englischer Übersetzer William Bartholomew hat ihn auf die Idee gebracht, den Orchestertreibsatz nach dem Rezitativ zu bringen. Es wird eine raffinierte Fuge, deren Thema den Tritonus, das Intervall des Fluchs, enthält. Er hat sie nach der Niederschrift im Kopf; bei der ersten Durchspielprobe am 19. August in London spielt er sie aus dem Gedächtnis, ehe er sich mit den Primadonnen plagt: Die eine möchte „Höre Israel“ einen Ganzton tiefer singen (was würde da aus dem Jenny-fis!), die andere überrascht mit Extratrillern. Mit den Solisten, etlichen Orchestermitgliedern, Choristen und einem Presseteam steigt Mendelssohn am 23. August in den Sonderzug nach Birmingham. Elias ist das Hauptevent des Festivals dort, man erwartet ein Epochenereignis, es wird auch eines.

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Der Schluss der Uraufführung von „Elias“ geht in rasendem Beifall unter

Am Mittwoch, 26. August, versammeln sich in der Stadthalle 125 Orchestermusiker, 271 Chorsängerinnen und Chorsänger, die Solisten und ein Publikum von 2000 Menschen, darunter Prominenz aus Politik, Adel und Kirche. Gejubelt wird schon zu Beginn, acht Nummern müssen wiederholt werden, das Ende des Schlusschors geht in rasendem Beifall unter. Es ist, der Uraufführung von Mahlers Achter vergleichbar, der größte Erfolg, den Mendelssohn je mit einem neuen Werk erlebt hat. Und wie dort kommt auch hier eine lebenslange Auseinandersetzung mit Religion -  fünfzehn Jahre nach der von Mendelssohn verworfenen Reformationssinfonie – zu einer Lösung jenseits der Dogmen. Mehr noch: Das Drama Elias ist auch die große Oper, die Mendelssohn nie schrieb.

„Noch niemals ist ein Stück von mir bei der ersten Aufführung so vortrefflich gegangen und von den Musikern und den Zuhörern so begeistert aufgenommen worden“, schreibt er an den jüngeren Bruder Paul in Berlin. An Fanny, die ältere Schwester, hat er kurz vor der Reise einen weit wichtigeren Brief geschrieben. Einen Monat lang hat sie darauf warten müssen. Fanny war vierzehn, als ihr der Vater erklärte, für sie werde die Musik „stets nur Zierde“ sein, nie Beruf. Jetzt aber, 40 Jahre alt und Mutter eines 16jährigen Sohnes, hat sie den Bruder um sein Einverständnis gebeten, dass sie sechs Lieder als opus 1 unter ihrem Namen drucken lässt. Der 37-jährige erteilt ihr den „Handwerksegen“. Die beiden treffen sich im Dezember 1846 in Berlin, wo Felix seiner Schwester Teile des Elias vorspielt. Inzwischen hat er mit der Überarbeitung seines Oratoriums begonnen, dazu kommen seine Verpflichtungen am Gewandhaus mit fünf Programmen bis zum März – einschließlich der Uraufführung der Zweiten Sinfonie des fast gleichaltrigen Freundes Robert Schumann. Nach dem letzten Konzert am 18. März teilt Mendelssohn mit, dass er die Leitung der Konzerte niederzulegen wünscht. „Ich denke jetzt oft an Ihre Fragen auf dem Rheinischen Dampfboot“, hat er schon im Oktober an Jenny Lind geschrieben, „ob ich nicht wieder von Leipzig fortgehen würde, und daß Sie wünschten ich möchte nicht immer in Leipzig bleiben & c. & c. – Sie haben wohl Recht gehabt… “

Derweil ist die politische Lage angespannt, die Hungersnot in Deutschland führt zu Unruhen. „Du wirst dieselbe Verstimmung und dieselbe Unzufriedenheit überall, durch ganz Deutschland verbreitet finden“, schreibt Mendelssohn Anfang 1847 seinem Schwager, der einen Wegzug aus Berlin erwägt. „Die Besserung der allgemeinen Krankheit kann nur durch ganz andre Dinge, oder durch eine sehr starke Crisis kommen. Auch ein drittes kann kommen, und ist in Deutschland leider nicht das unwahrscheinlichste: es kann alles beim Alten bleiben.“ Die Märzrevolution 1848 wird Mendelssohn nicht mehr erleben, aber er scheint schon zu wissen, wie sie ausgeht.

Drei Tage Fahrt bis Köln, ein weiterer per Bahn bis Oostende, fünf Stunden auf dem Liniendampfschiff nach Dover, fast noch mal so viele Schienenstunden bis London. Als Mendelssohn dort am 12. April eintrifft, fällt einem Freund sein ungewöhnlich müder Gesichtsausdruck auf. Aber ein gewaltiges Programm steht bevor – sechs Aufführungen des Elias in London, Manchester, Birmingham, ein zusätzliches Konzert, bei dem der Musiker Beethovens viertes Klavierkonzert spielt (natürlich aus dem Gedächtnis) und seine Schottische Sinfonie sowie die Sommernachtstraum-Musik dirigiert – und Jenny Lind wiedersieht, die ebenso dabei ist wie Queen Victoria und Prince Albert. Sie singt in London die Hauptrolle in Meyerbeers Robert le Diable. Natürlich geht er hin, obwohl er diesen blockbuster als „Dekorationsmalerei“ verachtet. Alles andere steht wohl in den Briefen, die nach Jennys Tod 1887 ihr Ehemann entdeckt – und verbrennt.

Der Tod seiner Schwester Fanny ist der größte Schmerz seines Lebens

Vielleicht aber hört man etwas von dieser Passion auch noch im letzten bedeutenden Werk, das Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt und dessen Auslöser der wohl größte Schmerz seines Leben ist. Fanny Hensel, die seit Monaten wie im Rausch komponierte, zuletzt ein Klaviertrio in d-Moll, hat bei der Probe zu einer ihrer Sonntagsmusiken einen Schlaganfall erlitten, am 14. Mai ist sie gestorben, zwei Tage später erfährt es ihr Bruder, der auf der Rückreise von London in Frankfurt Station macht. Er flieht vor dem Schmerz in einen mehrmonatigen Urlaub mit der Familie in die Schweiz, wo er im August das f-Moll-Streichquartett schreibt. Es zeigt einen so anderen, subjektiven, rücksichtslosen Komponisten, als hätte er uns bis dahin etwas verschwiegen.

Seine Tonsprache erreicht eine Zerrissenheit und Intensität, die die neue Dringlichkeit des Elias noch übertrifft. Das ist nicht nur ein Requiem für Fanny. Diesen Mann zerreißt vieles. Den letzten seiner Briefe muss Cécile für ihn schreiben, am 1. November 1847 an einen Wiener Veranstalter: „Mein Mann [ist] in diesem Augenblick noch bettlägerig, mit schrecklichen Schmerzen geplagt.“ Drei Tage zuvor hat Mendelssohn einen Schlaganfall erlitten, dem nächsten erliegt er am 4. November. Lebenslange Anspannung, unlebbare Liebe, größter Verlust geraten da ineinander, in keinem Klang mehr aufzulösen.

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das  MAG 123, Mai 2025, die letzte Ausgabe des Magazins der Oper Zürich zum Ende der dreizehnjährigen Intendanz von Andreas Homoki. Am 9. Juni 2025 findet die Premiere von Mendelssohns Oratorium Elias statt, inszeniert von Andreas Homoki, dirigiert von Gianandrea Noseda, Solisten u.a.: Christian Gerhaher, Julia Kleiter, Wiebke Lehmkuhl. Illustrationen: William Turner, Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844, National Gallery, London, Quelle: Wikipedia; Mendelssohns Arbeitszimmer (nach seinem Tod) in Leipzig, Aquarell von Ferdinand Schiertz, Quelle: Mendelssohn-Haus Leipzig;Birmingham Town Hall, 1845, Quelle: Wikipedia

Klang und Körper

Vier Schlüsselszenen aus der jahrhundertelangen Beziehung zwischen Musik und Tanz – von J.S.Bach bis zu György Ligeti

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Was Bach vom Sonnenkönig übernahm

Als die Leipziger am Karfreitag 1727 die neue »große Passion« hörten, die ihr Thomaskantor geschrieben hatte, die Passio Secundum Matthaeum, konnten sie sich noch wundern über die neue Musik, und vielleicht freute es sie in all dem Neuen auch, hie und da eine Tanzform wiederzuerkennen: eine Gigue in der wütenden Chorfuge »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?«, ein Menuett in der Arie »Ach, nun ist mein Jesus hin«, eine Sarabande im Schlusschor »Wir setzen uns mit Tränen nieder« … Zumindest das gehobene Bürgertum kannte diese ursprünglich französischen Tänze nebst ihren Bewegungen sehr gut – sie wurden längst nicht mehr nur an den Höfen getanzt.

Bach und Tanz? Das liegt für uns so nahe wie fern. Nahe, weil wir gerade bei diesem Komponisten immer wieder auf die Namen von Tänzen stoßen, in Suiten und Partiten höchsten Ranges: Allemande, Bourrée, Courante, Gavotte … In weite Ferne entrückt aber ist uns das Universum der Formen und Bewegungen hinter diesen Namen, das einst nicht nur den Leipzigern (mit immerhin einem Dutzend Tanzmeistern auf 30.000 Einwohner) nahe war. »Ganz bewusst«, schreibt der Bach-Experte Christoph Wolff, habe Bach für die Matthäuspassion »Elemente aus allen gängigen Gattungen der geistlichen und weltlichen Musik« herangezogen. Dieses Sakralwerk überbot alles Dagewesene an Vielfalt. Dass wir dabei nicht an höfische Tänze denken, liegt auch daran, dass Bachrezeption und Bachforschung in diesem Punkt deutlich verkniffener sind, als es die Lutheraner des frühen 18. Jahrhunderts waren.

Gegen die »wahre Tantz-Kunst« hatten sie im Gegensatz zu Calvinisten und Pietisten nichts einzuwenden. Es war der Leipziger Tanzmeister Johann Pasch, der mit seiner »Beschreibung wahrer Tantz-Kunst« 1707 die Kunst aus Versailles »ins deutsche protestantische Bürgertum vermittelte« (Silke Leopold), und in Leipzig erschien 1717 Gottfried Tauberts »Rechtschaffener Tantzmeister« mit der Übersetzung eines bahnbrechenden Werks aus Frankreich: 1700 hatte Raoul-Auger Feuillet die Tanznotation publiziert, die am Hof des Sonnenkönigs entwickelt worden war. Ganz gleich, wie viele Städte Louis XIV. hatte niederbrennen lassen, seine Hofkultur war maßgeblich für ganz Europa, und mit Feuillets »Choréographie« eroberte die für ihn zentrale Kunst auch das Bürgertum.

Es ist ein Vokabular von Bewegungen, dessen Differenziertheit einem Unkundigen den Atem verschlägt. Was da an Positionen, Fußstellungen und Schrittfolgen aufgezeichnet ist, nimmt sich aus wie eine grafische Partitur neben den Tönen. Kniebeugen, Erheben auf die Fußballen, Drehen, Gleiten, Springen, Armbewegungen, für alles gibt es Hieroglyphen. Bach dürfte all das schon früh kennengelernt haben. Als 15-jähriger Lüneburger Stipendiat hatte er, so Wolff, über den Ballettmeister Thomas de la Selle vermutlich Zugang zum herzoglichen Schloss und konnte dort »aus erster Hand genuin französische Musik hören und sich in französischen Aufführungsmanieren bilden«, zur selben Zeit, als er von Georg Böhm in die Komposition stilisierter Tänze eingeführt wurde. Später befreundet sich Bach mit zwei bedeutenden Tanzmeistern in Sachsen, Jean-Baptiste Volumier und Pantaleon Hebenstreit.

Es ist unwahrscheinlich, dass er bei den Bällen, die die Leipziger Bürger und ihre Tanzmeister veranstalteten, nur am Rande stand und zusah. Ganz sicher aber hatte er bei den hunderten von Tänzen, die er explizit oder implizit komponierte, eine Körpersprache vor sich, die heute nur noch Experten kennen – und die doch für die Europäer mehrerer Generationen zum Leben gehörte. Allein im »Wohltemperierten Klavier« haben Meredith Little und Natalie Jenne (»Dance and the Music of J. S. Bach«, 1991) zwölf Tänze gefunden. »Wenn man die Übung im Komponieren charakteristischer Tänze vernachlässigt«, schrieb Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger 1777, »wird man nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht zu einer guten Melodie kommen. Vor allem ist es unmöglich, eine Fuge zu schreiben oder zu spielen, wenn man nicht jede Art von Rhythmus kennt.«

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Ein Sprengsatz aus Tänzen: Mozart macht Party

1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution. Ein vermögender Adliger, immer auf der Jagd nach Affären, lädt zur Party in sein Schloss, Leute von Stand und eine Hochzeitsgesellschaft von Bauern. »Viva la libertà!«, ruft er, dann lässt er von drei verschiedenen Kapellen drei Tänze gleichzeitig spielen. Menuett für den Adel, Kontretanz für die Bauern, unter die er sich mischt, weil er sich so an die Braut heranmachen kann. Eine dritte Kapelle spielt einen »Deutschen«, die Vorform des Walzers, ein für die Zeit unanständiger und daher sehr beliebter Tanz mit enger Berührung – und ausgerechnet zu dem nötigt der Diener des Gastgebers den Bräutigam, um ihn abzulenken. Unnötig zu sagen, dass sich unter den Menuett tanzenden Maskierten zwei Damen befinden, die mit dem Hausherrn auch schon Erfahrungen gemacht haben und ihn endlich aus dem Verkehr ziehen wollen. Unnötig deshalb, weil Sie natürlich schon Mozarts Oper »Don Giovanni« erkannt haben, erster Akt, erstes Finale, Szene 20.

Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte siedeln die Geschichte im Sevilla des 17. Jahrhunderts an, aber die Oper ist vom ersten Wort bis zum letzten Ton auf der Höhe des Tages, und das betrifft auch die Tänze. Von all den Hoftänzen, mit denen – dank Feuillets Tanzschrift – Versailles in ganz Europa präsent war, ist im späten 18. Jahrhundert der jüngste geblieben, das Menuett, in den 1650ern von Louis XIV. entwickelt, einfachster Tanz, aber doch kompliziert genug mit vier Schritten auf sechs Zählzeiten, nobler Haltung, absoluter Kontrolle. Die Beherrschung des Menuetts wurde zum bürgerlichen Bildungsnachweis und seine einfache musikalische Struktur ein Einstieg ins Komponieren. Mozart dachte sich sein erstes Menuett mit fünf Jahren aus, und Silke Leopold (»Tanz und Macht im Ancien Régime«, 2007) schließt aus dem Thema, dass er da auch schon wusste, wie man es tanzte.

Er wurde ein sehr guter Tänzer und verließ 1777 enttäuscht einen Ball, »dann es ware, unter 50 viell Frauenzimmer, eine einzige welche auf dem tact Tanzte«. Da ließ es schon nach mit der Finesse, und zur Zeit des »Don Giovanni« war das Menuett so angekratzt wie die Ordnung der Stände, für die es in dieser Oper noch steht. Derweil wurde der Kontretanz – Frauen und Männer einander gegenüber, einfache Bewegungen – zum Modetanz, bald auch der »Deutsche«, bei dem sich die Geschlechter tanzend so nahe kamen wie nie zuvor. Alle drei stapelt Mozart beim Fest aufeinander. Das Menuett im 3/4tel-Takt beginnt, es kommt die »Contradanza« im 2/4tel-Takt dazu und schließlich die »Balla la Teitsch«, der »Deutsche«, im 3/8tel-Takt – ein Chaos der Betonungen und Motive, das dem Beziehungswirrwarr entspricht, in das alle verwickelt sind. Die Party wird im Zeitraffer – 63 Takte Tanz, keine zwei Minuten – zur Weißglut gebracht und bricht mit dem entsetzten Schrei Zerlinas ab, die vom Gastgeber gewaltsam ins Abseits gezerrt wird.

Es ist nicht das erste Mal in der Musikgeschichte, dass unterschiedliche Ebenen von Aktionen und Gefühlen zugleich erklingen – aber hier riskiert es ein Komponist, die Struktur daran zerbrechen zu lassen. Der Dreivierteltakt des Menuetts als Grundgerüst kann die Verdichtung und Irregularität kaum noch tragen. Mozart geht mit dem Takt, »der doch stets die letzte, unantastbare Kategorie darstellt, so um (…), als ob sich Taktarten so kombinieren ließen wie Stimmen oder Motive«, stellt Stefan Kunze fest (»Mozarts Opern«, 1984). Freilich tut er das mit einem unfassbaren Schwung, die Energie des Ganzen springt uns mühelos an, und die Tänze, aus denen Mozart seinen Sprengsatz baut, wirken nach 236 Jahren wie taufrische Gegenwart. Zwei Jahre nach der Uraufführung begann die feudale Ordnung in Europa zu zerbrechen.

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Walzer von innen: Berlioz, Tschaikowsky, Mahler

Es gibt bei Gustav Mahler 23 Walzertakte, die könnte man herauslösen und damit Leute hereinlegen, vielleicht sogar solche, die seine Fünfte Sinfonie schon mal gehört haben. »Das ist aber ein schöner Walzer«, würden sie sagen und hätten recht. Nichts stört diesen sanften Schwung der Streicher, dem leise gezupfte Töne das Metrum geben. Hie und da sekundiert eine Oboe, ein Fagott, von Brechung keine Spur, das bisschen Kontrapunktik ist nicht der Rede wert. Und all das mitten in einem Satz, der der polyphonste in Mahlers Fünfter Sinfonie ist, das längste Scherzo aller Zeiten, Mahlers erstes vollkommen kontrapunktisch durchgearbeitetes Werk.

Dieses Scherzo ist seinerseits eine Art kosmischer Walzer voller Aufbrüche und Abgründe, die gerade deswegen so deutlich werden, weil der Tanzrhythmus alles zusammenhält, auch dort, wo er in wilden Fugati und apokalyptischen Bläserschreien untergeht oder mit Paukenschlägen untanzbar gemacht wird. Und mittendrin – formal eine Art »Trio I« – Walzer pur und schön, wie ein Rückblick oder eine Liebeserklärung oder beides, vor jenem letzten Takt abgebrochen, den man nach einer ordentlichen Periode erwartet. Hier kommt der Walzer noch einmal so zu sich, dass man förmlich seine Sinnlichkeit spürt, die Nähe, die er in aller Öffentlichkeit möglich macht. Wie ein Séparée hat Mahler ihn in die riesige Partitur gesetzt, intim instrumentiert. Und so – aber eben nur so, nicht herausgelöst – ist es eine der erotischsten Passagen, die er je schrieb.

Walzer sind in Sinfonien so selten, wie sie in anderen Genres häufig sind. In Mode kam der Tanz, der einfach auszuführen war, schon in den 1790ern, und die meisten Komponisten des 19. Jahrhunderts – nicht nur die für den Vergnügungsmarkt schreibenden – griffen in Instrumentalwerken den populären Dreier auf, von Beethoven, Schubert, Webern über Chopin, Liszt, Brahms bis hin zu Saint-Saëns. Natürlich sind auch Ballette, Operetten, Opern voller Walzer, selbst in Richard Wagners »Parsifal« wird gewalzert, von den Blumenmädchen. Wagner bewunderte Johann Strauß (den Älteren) ebenso, wie Hector Berlioz das tat – der widmete Strauß und seinem Orchester eine fulminante Besprechung, als die Wiener Musiker 1837 erstmals in Paris gastierten.

Da hatte Berlioz selbst den Walzer schon explizit in eine Sinfonie eingebaut, als erster. Unter dem Blickwinkel »absoluter Musik« gehörten Allerweltsklänge nicht in Sinfonien, Sonaten, Streichquartette. Das Menuett – letzter Rest der französischen Hofkultur, als dritter Satz in die Sinfonie gewandert – war zum Scherzo geworden und wusste nichts mehr vom Tanzen. Nur die ABA-Form war geblieben, als mitunter qualvolle Pflichtübung, auf die Mozart schon in seiner Prager Sinfonie verzichtet hatte.

Berlioz setzte sich in seiner erzählerisch konzipierten »Symphonie fantastique« als 27-Jähriger über diese eher deutschen Dogmen hinweg und führte die idée fixe ein, das Thema einer ersehnten Frau, die in unterschiedlichen Umgebungen und Gestaltungen auftaucht, bis hin zum dämonischen Hexensabbath. Im zweiten Satz, »Un bal«, wird die Angebetete noch in heiteren Situationen imaginiert, für die das Gewirbel eines Balls steht – mit eben der Musik, zu der damals, 1830, vornehmlich getanzt wurde. Berlioz blendet von diesem Walzer (der ihn als Kenner des Genres ausweist) zur Erscheinung der Ersehnten, verbindet beide Ebenen raffiniert, trennt sie wieder … Wie bei Mahler, der dieses Werk oft und gern dirigierte, gewinnt das Walzerglück seine tiefere Bedeutung durch das Drama (bei Mahler eher: den »Roman«) der ganzen Sinfonie.

Etwas anders ist es bei Peter Tschaikowsky, der nach einer schönen »Valse« in seiner Fünften Sinfonie (und Walzern in seinen Bühnenwerken) ein letztes Mal auf diesen Tanz zurückkommt, als er die »Pathetique« schreibt, seine Sechste Sinfonie, mit einem Programm, »das für jedermann stets ein Rätsel bleiben soll«. Ein Schlüssel zu diesem Rätsel liegt vielleicht im zweiten Satz, einem Walzer im Fünfvierteltakt, mit einem derartig organischen Thema, dass man nie finden kann, es seien zwei Viertel zu viel im Takt – es bleibt ein sanftes Kreisen. Ein ungetrübtes nicht, man hört auch Schatten, die sich im Trio vertiefen. Tschaikowsky schrieb nicht nur Ballette, er tanzte selbst, und sein geheimer Pas de deux mit dem Kollegen Camille Saint-Saëns 1875 in Moskau ist nicht nur in der LGTB-Community legendär. Es mag schon sein, dass er im Fünf-Viertel-Walzer souverän ein Abweichen von der gesellschaftlichen Norm aufs Podium brachte, das im Uraufführungsjahr 1893 nicht ohne Gefahr gelebt werden konnte. So gehört, ist dieser Walzer seiner Zeit um etliche Jahrzehnte voraus.

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György Ligeti und die Autonomie der Volkstänze

1949 begibt sich György Ligeti, 26 Jahre alt, Absolvent der Budapester Musikakademie, in seine rumänische Heimat (in der seine Eltern zur großen ungarischen Ethnie gehörten), um Volksmusik aufzuzeichnen, Tänze und Lieder – so, wie das mehr als drei Jahrzehnte zuvor auch der von ihm verehrte Béla Bartók getan hat Es sind Exkursionen des neu gegründeten Bukarester Folklore-Instituts, an denen er teilnimmt. Von den Wachsrollen und Schallplatten dieses Instituts schreibt sich Ligeti weitere Themen herunter – und aus all dem wird ein wunderbares Stück, mit dem man jeden Kenner der Musik des 20. Jahrhunderts verwirren kann, das »Concert Românesc« für kleines Orchester. Vier miteinander verbundene Sätze, 15 Minuten, von denen – zunächst – niemand vermuten würde, dass sie von Ligeti stammen.

Die folkloristischen Quellen von Melodik, Rhythmik, Harmonik (uns vertraut durch die lange so genannte »Zigeunermusik« der Sinti und Roma) sind offenkundig, mehr noch, die Wehmut der Lieder, die Rasanz der Tänze werden geradezu herausgestellt, und doch wird schnell klar, dass es hier nicht um ein back to the roots wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts geht. Die Virtuosität der Instrumentierung, verblüffende Farben, imitatorische Verdichtungen zeigen einen auch zu Witzen aufgelegten Geist, der Bartók schon hinter sich hat.

Am Ende spielt eine Sologeige in schwindelnder Höhe rasende Neunachtelketten, einen verselbstständigten Rest des Tanzes zuvor, und das Orchester versucht sie mit einzelnen Hieben gleichsam zu erschlagen wie eine lästige Mücke. Das gelingt nur scheinbar – die kinetische Energie der siebenbürgischen Tanzweise schießt über den Schlussstrich hinaus. Ligetis Gestaltungslust macht die Musikantenweisen keineswegs zu Souvenirs, sie erschließt ihr Potenzial. »Das ›Concert Românesc‹«, schrieb der Komponist später, »spiegelt meine tiefe Liebe zur rumänischen Volksmusik und zur rumänischsprachigen Kultur schlechthin wieder.« So gesehen, ist sein Werk vielleicht das letzte Exempel einer künstlerischen »Aneignung« kollektiv tradierter Tanzmusik am Ende einer mehrhundertjährigen Geschichte solcher Adaptionen, die den Hintergrund, auch den politischen, für Györgi Ligetis Bekenntnis zu Rumänien bildet.

Diesen Hintergrund beleuchtet ein Blick auf die Polonaise, die sich im 17. Jahrhundert aus dem polnischen Volkstanz polonez – sechs Achtel, auf der zweiten Achtel zwei Sechzehntel – zu einem Tanz der gehobenen Klassen entwickelt und am Ende des Jahrhunderts schon so europäisiert ist, dass sie selbst in Polen den französischen Namen trägt.

Es folgt eine zweigleisige Geschichte: Zum einen verselbstständigt sich eine musikalische Form, J. S. Bach, Telemann, Couperin bauen Polonaisen in ihre Suiten ein, in der Generation danach weist vor allem Wilhelm Friedemann Bach schon auf die Romantik voraus. Aus einem Modeartikel im Dreivierteltakt wird bei Bachs ältestem Sohn ein intimes Tagebuch. Persönlicher lässt sich nicht komponieren. Einsame Träumereien am Cembalo schreibt Friedemann, mit denen er schon an die Seite Frédéric Chopins gerät. Es ist kein Wunder, dass diese zwölf Stücke in zwölf Tonarten die ersten aus seiner Feder sind, die im 19. Jahrhundert gedruckt werden; schon vorher kursieren sie in Abschriften.

Zugleich, das andere Gleis, wird die Polonaise in dem Maße renationalisiert, in dem eine autarke polnische Nation von europäischen Großmächten verhindert wird. Eine Folge davon ist Chopins Pariser Exil, in dem beides zusammenkommt: die Polonaise in extrem individualisierter Form, als kompositorisches Labor, und daneben als Ausdruck polnischer Identität (wie auch die Mazurka). Die Zeit der »Nationalkomponisten« bricht nun an in Nationen, die um ihre Autonomie ringen. Eine Musik, in der »die tschechische Seele ihren Widerhall finden würde«, erträumt sich Bedřich Smetana und realisiert sie mit böhmischen Bauerntänzen im Zyklus »Mein Vaterland«. Vergleichbare Tendenzen gibt es vom Finnen Jean Sibelius bis zum Spanier Isaac Albéniz.

Und eben in Ungarn von Bartók und Kodály bis hin zu György Ligeti, der mit seinem »Concert Românesc« keineswegs auf das Wohlwollen der kommunistischen, letztlich stalinistischen Kulturpolitik stieß. 1950 wurden in Ungarn selbst wichtige Werke von Bartók als »bourgeois« aus Rundfunksendungen ausgeschlossen. Ligeti hatte angenommen, die insgesamt moderate Musiksprache seines Konzerts werde als »Camouflage« den Maßgaben des Sozialistischen Realismus standhalten. Aber nach nur einer Probe wurde 1951 das Stück verboten mit Hinweis auf Dissonanzen – »z. B. fis innerhalb von B-Dur«, wie er schreibt. Möglich auch, dass zwei Jahre vor dem Tod Stalins allein schon die Verwendung rumänischer und ungarischer Volksmusik von bedenklichen Autonomiegelüsten zeugte.

Die brachen sich 1956 in Budapest bekanntlich Bahn und wurden von der Sowjetunion blutig niedergeschlagen. Das »Concert Românesc« wurde erst 1971 uraufgeführt, 1996 fand es nach einer Überarbeitung durch den Komponisten den Weg ins Repertoire. In jeder Hinsicht zeigt dieses Stück aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, dass in jedem Volkstanz weit mehr steckt als nur ein harmloses Vergnügen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im Elbphilharmonie Magazin I / 2024, S.8-13. Die Illustrationen sind Raoul-Auger Feuillets Buch “Choreographie ou L’art de decrire la danse”, Paris 1700, entnommen.

Blut an den Saiten

Spiel mir das Lied von Bach: Der moderne Barockkomponist Ennio Morricone

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Diese Musik setzt nicht ein, sie ist schon da. Sie wartet in den Dingen, in der Weite, in der Hitze. Alles wartet in einem der langsamsten Anfänge der Filmgeschichte, in Spiel mir das Lied vom Tod. Man hört das gedehnte Metrum der Wassertropfen, die aus dem Bahnhofstank in die Hutkrempe eines Mannes fallen. Ein Windrad quietscht. Manchmal bringt es eine Art Es-Dur zustande. Eine Fliege summt. Einmal bellt ein Hund. Bewusstlose Geräusche, die ein zerbrechliches Muster bilden.

Der Schrei der Lokomotive zerreißt es – und ist doch nichts gegen den Laut des Schicksals, den man hört, als der Zug schon wieder fort ist und drei Männern der gegenübersteht, auf den sie gewartet haben. In wenigen Tönen, die Charles Bronson auf der Mundharmonika spielt, bündelt sich alle Weite zum Konflikt. Ein fieses Halbtonschleifen zwischen f und e, ein des, dem die Erlösung zum c noch fehlt. Sekunden später sind drei Männer tot. Der Mann mit der Mundharmonika nimmt seine Tasche und geht jener Rachemission entgegen, die das gefährliche kleine Motiv in sich birgt wie der Tristanakkord die Liebe.

Schon diese paar Töne sind nicht zu trennen von der archaischen Faustrechts- und Felsenwelt, aus der sie hervordringen in Sergio Leones Western von 1968. Ennio Morricone, der 1928 geborene Filmkomponist [gestorben 2020], lauscht ins Sujet hinein, ins Material, in die Farben. Was er findet, wird auf wenige Elemente reduziert. Und die wiederum vergrößert er – ausgebildeter Trompeter, Komponist, Dirigent – im gewaltigen Echoraum populärer Idiome. Er hat sich einmal als “Barockkomponisten” bezeichnet, und sein Lied vom Tod erreicht den Durchbruch über einem Bassmotiv, das schon J. S. Bach kannte. Das dräut unhörbar schon unter den einsamen Mundharmonikatönen. Es bricht hervor, als ein kleiner Junge vor den Männern steht, die soeben seine Familie ausgelöscht haben. Der absteigende Quartgang, wie ihn Bach etwa im Crucifixus der h-Moll-Messe einsetzt, wird hier von einer E-Gitarre geröhrt, an deren Saiten noch Blut zu trocknen scheint. Anders als Bach lässt Morricone die Schmerzenshalbtöne weg, den Passionsweg mithin: Hier wird gestorben, ehe man noch leiden kann. Und statt der Aussicht auf Erlösung gleißt die Verheißung der Rache über allem: die Mundharmonika. Eigentlich sind Gut und Böse nicht zu unterscheiden.

Diese Musik macht aus unrasierten Männern in langen Mänteln Todesengel, Verkörperungen vorzivilisatorischer Gesetze. Wo mit dem Bau einer Eisenbahnlinie der Fortschritt naht, beginnt die Steinzeit, und Morricone vertont den ungeheuren Sog einer Welt, in der auf Gewalt nur Gewalt antworten kann. Er hat auch ganz andere Welten komponiert in über 400 Filmpartituren und einem ernst zu nehmenden Œuvre für den Konzertsaal. Aber sein Lied vom Tod ist nicht totzukriegen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 9. November 2006 in der Serie “50 Moderne Klassiker” (Nr.39) in der ZEIT