Klang und Körper

Vier Schlüsselszenen aus der jahrhundertelangen Beziehung zwischen Musik und Tanz – von J.S.Bach bis zu György Ligeti

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Was Bach vom Sonnenkönig übernahm

Als die Leipziger am Karfreitag 1727 die neue »große Passion« hörten, die ihr Thomaskantor geschrieben hatte, die Passio Secundum Matthaeum, konnten sie sich noch wundern über die neue Musik, und vielleicht freute es sie in all dem Neuen auch, hie und da eine Tanzform wiederzuerkennen: eine Gigue in der wütenden Chorfuge »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?«, ein Menuett in der Arie »Ach, nun ist mein Jesus hin«, eine Sarabande im Schlusschor »Wir setzen uns mit Tränen nieder« … Zumindest das gehobene Bürgertum kannte diese ursprünglich französischen Tänze nebst ihren Bewegungen sehr gut – sie wurden längst nicht mehr nur an den Höfen getanzt.

Bach und Tanz? Das liegt für uns so nahe wie fern. Nahe, weil wir gerade bei diesem Komponisten immer wieder auf die Namen von Tänzen stoßen, in Suiten und Partiten höchsten Ranges: Allemande, Bourrée, Courante, Gavotte … In weite Ferne entrückt aber ist uns das Universum der Formen und Bewegungen hinter diesen Namen, das einst nicht nur den Leipzigern (mit immerhin einem Dutzend Tanzmeistern auf 30.000 Einwohner) nahe war. »Ganz bewusst«, schreibt der Bach-Experte Christoph Wolff, habe Bach für die Matthäuspassion »Elemente aus allen gängigen Gattungen der geistlichen und weltlichen Musik« herangezogen. Dieses Sakralwerk überbot alles Dagewesene an Vielfalt. Dass wir dabei nicht an höfische Tänze denken, liegt auch daran, dass Bachrezeption und Bachforschung in diesem Punkt deutlich verkniffener sind, als es die Lutheraner des frühen 18. Jahrhunderts waren.

Gegen die »wahre Tantz-Kunst« hatten sie im Gegensatz zu Calvinisten und Pietisten nichts einzuwenden. Es war der Leipziger Tanzmeister Johann Pasch, der mit seiner »Beschreibung wahrer Tantz-Kunst« 1707 die Kunst aus Versailles »ins deutsche protestantische Bürgertum vermittelte« (Silke Leopold), und in Leipzig erschien 1717 Gottfried Tauberts »Rechtschaffener Tantzmeister« mit der Übersetzung eines bahnbrechenden Werks aus Frankreich: 1700 hatte Raoul-Auger Feuillet die Tanznotation publiziert, die am Hof des Sonnenkönigs entwickelt worden war. Ganz gleich, wie viele Städte Louis XIV. hatte niederbrennen lassen, seine Hofkultur war maßgeblich für ganz Europa, und mit Feuillets »Choréographie« eroberte die für ihn zentrale Kunst auch das Bürgertum.

Es ist ein Vokabular von Bewegungen, dessen Differenziertheit einem Unkundigen den Atem verschlägt. Was da an Positionen, Fußstellungen und Schrittfolgen aufgezeichnet ist, nimmt sich aus wie eine grafische Partitur neben den Tönen. Kniebeugen, Erheben auf die Fußballen, Drehen, Gleiten, Springen, Armbewegungen, für alles gibt es Hieroglyphen. Bach dürfte all das schon früh kennengelernt haben. Als 15-jähriger Lüneburger Stipendiat hatte er, so Wolff, über den Ballettmeister Thomas de la Selle vermutlich Zugang zum herzoglichen Schloss und konnte dort »aus erster Hand genuin französische Musik hören und sich in französischen Aufführungsmanieren bilden«, zur selben Zeit, als er von Georg Böhm in die Komposition stilisierter Tänze eingeführt wurde. Später befreundet sich Bach mit zwei bedeutenden Tanzmeistern in Sachsen, Jean-Baptiste Volumier und Pantaleon Hebenstreit.

Es ist unwahrscheinlich, dass er bei den Bällen, die die Leipziger Bürger und ihre Tanzmeister veranstalteten, nur am Rande stand und zusah. Ganz sicher aber hatte er bei den hunderten von Tänzen, die er explizit oder implizit komponierte, eine Körpersprache vor sich, die heute nur noch Experten kennen – und die doch für die Europäer mehrerer Generationen zum Leben gehörte. Allein im »Wohltemperierten Klavier« haben Meredith Little und Natalie Jenne (»Dance and the Music of J. S. Bach«, 1991) zwölf Tänze gefunden. »Wenn man die Übung im Komponieren charakteristischer Tänze vernachlässigt«, schrieb Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger 1777, »wird man nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht zu einer guten Melodie kommen. Vor allem ist es unmöglich, eine Fuge zu schreiben oder zu spielen, wenn man nicht jede Art von Rhythmus kennt.«

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Ein Sprengsatz aus Tänzen: Mozart macht Party

1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution. Ein vermögender Adliger, immer auf der Jagd nach Affären, lädt zur Party in sein Schloss, Leute von Stand und eine Hochzeitsgesellschaft von Bauern. »Viva la libertà!«, ruft er, dann lässt er von drei verschiedenen Kapellen drei Tänze gleichzeitig spielen. Menuett für den Adel, Kontretanz für die Bauern, unter die er sich mischt, weil er sich so an die Braut heranmachen kann. Eine dritte Kapelle spielt einen »Deutschen«, die Vorform des Walzers, ein für die Zeit unanständiger und daher sehr beliebter Tanz mit enger Berührung – und ausgerechnet zu dem nötigt der Diener des Gastgebers den Bräutigam, um ihn abzulenken. Unnötig zu sagen, dass sich unter den Menuett tanzenden Maskierten zwei Damen befinden, die mit dem Hausherrn auch schon Erfahrungen gemacht haben und ihn endlich aus dem Verkehr ziehen wollen. Unnötig deshalb, weil Sie natürlich schon Mozarts Oper »Don Giovanni« erkannt haben, erster Akt, erstes Finale, Szene 20.

Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte siedeln die Geschichte im Sevilla des 17. Jahrhunderts an, aber die Oper ist vom ersten Wort bis zum letzten Ton auf der Höhe des Tages, und das betrifft auch die Tänze. Von all den Hoftänzen, mit denen – dank Feuillets Tanzschrift – Versailles in ganz Europa präsent war, ist im späten 18. Jahrhundert der jüngste geblieben, das Menuett, in den 1650ern von Louis XIV. entwickelt, einfachster Tanz, aber doch kompliziert genug mit vier Schritten auf sechs Zählzeiten, nobler Haltung, absoluter Kontrolle. Die Beherrschung des Menuetts wurde zum bürgerlichen Bildungsnachweis und seine einfache musikalische Struktur ein Einstieg ins Komponieren. Mozart dachte sich sein erstes Menuett mit fünf Jahren aus, und Silke Leopold (»Tanz und Macht im Ancien Régime«, 2007) schließt aus dem Thema, dass er da auch schon wusste, wie man es tanzte.

Er wurde ein sehr guter Tänzer und verließ 1777 enttäuscht einen Ball, »dann es ware, unter 50 viell Frauenzimmer, eine einzige welche auf dem tact Tanzte«. Da ließ es schon nach mit der Finesse, und zur Zeit des »Don Giovanni« war das Menuett so angekratzt wie die Ordnung der Stände, für die es in dieser Oper noch steht. Derweil wurde der Kontretanz – Frauen und Männer einander gegenüber, einfache Bewegungen – zum Modetanz, bald auch der »Deutsche«, bei dem sich die Geschlechter tanzend so nahe kamen wie nie zuvor. Alle drei stapelt Mozart beim Fest aufeinander. Das Menuett im 3/4tel-Takt beginnt, es kommt die »Contradanza« im 2/4tel-Takt dazu und schließlich die »Balla la Teitsch«, der »Deutsche«, im 3/8tel-Takt – ein Chaos der Betonungen und Motive, das dem Beziehungswirrwarr entspricht, in das alle verwickelt sind. Die Party wird im Zeitraffer – 63 Takte Tanz, keine zwei Minuten – zur Weißglut gebracht und bricht mit dem entsetzten Schrei Zerlinas ab, die vom Gastgeber gewaltsam ins Abseits gezerrt wird.

Es ist nicht das erste Mal in der Musikgeschichte, dass unterschiedliche Ebenen von Aktionen und Gefühlen zugleich erklingen – aber hier riskiert es ein Komponist, die Struktur daran zerbrechen zu lassen. Der Dreivierteltakt des Menuetts als Grundgerüst kann die Verdichtung und Irregularität kaum noch tragen. Mozart geht mit dem Takt, »der doch stets die letzte, unantastbare Kategorie darstellt, so um (…), als ob sich Taktarten so kombinieren ließen wie Stimmen oder Motive«, stellt Stefan Kunze fest (»Mozarts Opern«, 1984). Freilich tut er das mit einem unfassbaren Schwung, die Energie des Ganzen springt uns mühelos an, und die Tänze, aus denen Mozart seinen Sprengsatz baut, wirken nach 236 Jahren wie taufrische Gegenwart. Zwei Jahre nach der Uraufführung begann die feudale Ordnung in Europa zu zerbrechen.

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Walzer von innen: Berlioz, Tschaikowsky, Mahler

Es gibt bei Gustav Mahler 23 Walzertakte, die könnte man herauslösen und damit Leute hereinlegen, vielleicht sogar solche, die seine Fünfte Sinfonie schon mal gehört haben. »Das ist aber ein schöner Walzer«, würden sie sagen und hätten recht. Nichts stört diesen sanften Schwung der Streicher, dem leise gezupfte Töne das Metrum geben. Hie und da sekundiert eine Oboe, ein Fagott, von Brechung keine Spur, das bisschen Kontrapunktik ist nicht der Rede wert. Und all das mitten in einem Satz, der der polyphonste in Mahlers Fünfter Sinfonie ist, das längste Scherzo aller Zeiten, Mahlers erstes vollkommen kontrapunktisch durchgearbeitetes Werk.

Dieses Scherzo ist seinerseits eine Art kosmischer Walzer voller Aufbrüche und Abgründe, die gerade deswegen so deutlich werden, weil der Tanzrhythmus alles zusammenhält, auch dort, wo er in wilden Fugati und apokalyptischen Bläserschreien untergeht oder mit Paukenschlägen untanzbar gemacht wird. Und mittendrin – formal eine Art »Trio I« – Walzer pur und schön, wie ein Rückblick oder eine Liebeserklärung oder beides, vor jenem letzten Takt abgebrochen, den man nach einer ordentlichen Periode erwartet. Hier kommt der Walzer noch einmal so zu sich, dass man förmlich seine Sinnlichkeit spürt, die Nähe, die er in aller Öffentlichkeit möglich macht. Wie ein Séparée hat Mahler ihn in die riesige Partitur gesetzt, intim instrumentiert. Und so – aber eben nur so, nicht herausgelöst – ist es eine der erotischsten Passagen, die er je schrieb.

Walzer sind in Sinfonien so selten, wie sie in anderen Genres häufig sind. In Mode kam der Tanz, der einfach auszuführen war, schon in den 1790ern, und die meisten Komponisten des 19. Jahrhunderts – nicht nur die für den Vergnügungsmarkt schreibenden – griffen in Instrumentalwerken den populären Dreier auf, von Beethoven, Schubert, Webern über Chopin, Liszt, Brahms bis hin zu Saint-Saëns. Natürlich sind auch Ballette, Operetten, Opern voller Walzer, selbst in Richard Wagners »Parsifal« wird gewalzert, von den Blumenmädchen. Wagner bewunderte Johann Strauß (den Älteren) ebenso, wie Hector Berlioz das tat – der widmete Strauß und seinem Orchester eine fulminante Besprechung, als die Wiener Musiker 1837 erstmals in Paris gastierten.

Da hatte Berlioz selbst den Walzer schon explizit in eine Sinfonie eingebaut, als erster. Unter dem Blickwinkel »absoluter Musik« gehörten Allerweltsklänge nicht in Sinfonien, Sonaten, Streichquartette. Das Menuett – letzter Rest der französischen Hofkultur, als dritter Satz in die Sinfonie gewandert – war zum Scherzo geworden und wusste nichts mehr vom Tanzen. Nur die ABA-Form war geblieben, als mitunter qualvolle Pflichtübung, auf die Mozart schon in seiner Prager Sinfonie verzichtet hatte.

Berlioz setzte sich in seiner erzählerisch konzipierten »Symphonie fantastique« als 27-Jähriger über diese eher deutschen Dogmen hinweg und führte die idée fixe ein, das Thema einer ersehnten Frau, die in unterschiedlichen Umgebungen und Gestaltungen auftaucht, bis hin zum dämonischen Hexensabbath. Im zweiten Satz, »Un bal«, wird die Angebetete noch in heiteren Situationen imaginiert, für die das Gewirbel eines Balls steht – mit eben der Musik, zu der damals, 1830, vornehmlich getanzt wurde. Berlioz blendet von diesem Walzer (der ihn als Kenner des Genres ausweist) zur Erscheinung der Ersehnten, verbindet beide Ebenen raffiniert, trennt sie wieder … Wie bei Mahler, der dieses Werk oft und gern dirigierte, gewinnt das Walzerglück seine tiefere Bedeutung durch das Drama (bei Mahler eher: den »Roman«) der ganzen Sinfonie.

Etwas anders ist es bei Peter Tschaikowsky, der nach einer schönen »Valse« in seiner Fünften Sinfonie (und Walzern in seinen Bühnenwerken) ein letztes Mal auf diesen Tanz zurückkommt, als er die »Pathetique« schreibt, seine Sechste Sinfonie, mit einem Programm, »das für jedermann stets ein Rätsel bleiben soll«. Ein Schlüssel zu diesem Rätsel liegt vielleicht im zweiten Satz, einem Walzer im Fünfvierteltakt, mit einem derartig organischen Thema, dass man nie finden kann, es seien zwei Viertel zu viel im Takt – es bleibt ein sanftes Kreisen. Ein ungetrübtes nicht, man hört auch Schatten, die sich im Trio vertiefen. Tschaikowsky schrieb nicht nur Ballette, er tanzte selbst, und sein geheimer Pas de deux mit dem Kollegen Camille Saint-Saëns 1875 in Moskau ist nicht nur in der LGTB-Community legendär. Es mag schon sein, dass er im Fünf-Viertel-Walzer souverän ein Abweichen von der gesellschaftlichen Norm aufs Podium brachte, das im Uraufführungsjahr 1893 nicht ohne Gefahr gelebt werden konnte. So gehört, ist dieser Walzer seiner Zeit um etliche Jahrzehnte voraus.

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György Ligeti und die Autonomie der Volkstänze

1949 begibt sich György Ligeti, 26 Jahre alt, Absolvent der Budapester Musikakademie, in seine rumänische Heimat (in der seine Eltern zur großen ungarischen Ethnie gehörten), um Volksmusik aufzuzeichnen, Tänze und Lieder – so, wie das mehr als drei Jahrzehnte zuvor auch der von ihm verehrte Béla Bartók getan hat Es sind Exkursionen des neu gegründeten Bukarester Folklore-Instituts, an denen er teilnimmt. Von den Wachsrollen und Schallplatten dieses Instituts schreibt sich Ligeti weitere Themen herunter – und aus all dem wird ein wunderbares Stück, mit dem man jeden Kenner der Musik des 20. Jahrhunderts verwirren kann, das »Concert Românesc« für kleines Orchester. Vier miteinander verbundene Sätze, 15 Minuten, von denen – zunächst – niemand vermuten würde, dass sie von Ligeti stammen.

Die folkloristischen Quellen von Melodik, Rhythmik, Harmonik (uns vertraut durch die lange so genannte »Zigeunermusik« der Sinti und Roma) sind offenkundig, mehr noch, die Wehmut der Lieder, die Rasanz der Tänze werden geradezu herausgestellt, und doch wird schnell klar, dass es hier nicht um ein back to the roots wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts geht. Die Virtuosität der Instrumentierung, verblüffende Farben, imitatorische Verdichtungen zeigen einen auch zu Witzen aufgelegten Geist, der Bartók schon hinter sich hat.

Am Ende spielt eine Sologeige in schwindelnder Höhe rasende Neunachtelketten, einen verselbstständigten Rest des Tanzes zuvor, und das Orchester versucht sie mit einzelnen Hieben gleichsam zu erschlagen wie eine lästige Mücke. Das gelingt nur scheinbar – die kinetische Energie der siebenbürgischen Tanzweise schießt über den Schlussstrich hinaus. Ligetis Gestaltungslust macht die Musikantenweisen keineswegs zu Souvenirs, sie erschließt ihr Potenzial. »Das ›Concert Românesc‹«, schrieb der Komponist später, »spiegelt meine tiefe Liebe zur rumänischen Volksmusik und zur rumänischsprachigen Kultur schlechthin wieder.« So gesehen, ist sein Werk vielleicht das letzte Exempel einer künstlerischen »Aneignung« kollektiv tradierter Tanzmusik am Ende einer mehrhundertjährigen Geschichte solcher Adaptionen, die den Hintergrund, auch den politischen, für Györgi Ligetis Bekenntnis zu Rumänien bildet.

Diesen Hintergrund beleuchtet ein Blick auf die Polonaise, die sich im 17. Jahrhundert aus dem polnischen Volkstanz polonez – sechs Achtel, auf der zweiten Achtel zwei Sechzehntel – zu einem Tanz der gehobenen Klassen entwickelt und am Ende des Jahrhunderts schon so europäisiert ist, dass sie selbst in Polen den französischen Namen trägt.

Es folgt eine zweigleisige Geschichte: Zum einen verselbstständigt sich eine musikalische Form, J. S. Bach, Telemann, Couperin bauen Polonaisen in ihre Suiten ein, in der Generation danach weist vor allem Wilhelm Friedemann Bach schon auf die Romantik voraus. Aus einem Modeartikel im Dreivierteltakt wird bei Bachs ältestem Sohn ein intimes Tagebuch. Persönlicher lässt sich nicht komponieren. Einsame Träumereien am Cembalo schreibt Friedemann, mit denen er schon an die Seite Frédéric Chopins gerät. Es ist kein Wunder, dass diese zwölf Stücke in zwölf Tonarten die ersten aus seiner Feder sind, die im 19. Jahrhundert gedruckt werden; schon vorher kursieren sie in Abschriften.

Zugleich, das andere Gleis, wird die Polonaise in dem Maße renationalisiert, in dem eine autarke polnische Nation von europäischen Großmächten verhindert wird. Eine Folge davon ist Chopins Pariser Exil, in dem beides zusammenkommt: die Polonaise in extrem individualisierter Form, als kompositorisches Labor, und daneben als Ausdruck polnischer Identität (wie auch die Mazurka). Die Zeit der »Nationalkomponisten« bricht nun an in Nationen, die um ihre Autonomie ringen. Eine Musik, in der »die tschechische Seele ihren Widerhall finden würde«, erträumt sich Bedřich Smetana und realisiert sie mit böhmischen Bauerntänzen im Zyklus »Mein Vaterland«. Vergleichbare Tendenzen gibt es vom Finnen Jean Sibelius bis zum Spanier Isaac Albéniz.

Und eben in Ungarn von Bartók und Kodály bis hin zu György Ligeti, der mit seinem »Concert Românesc« keineswegs auf das Wohlwollen der kommunistischen, letztlich stalinistischen Kulturpolitik stieß. 1950 wurden in Ungarn selbst wichtige Werke von Bartók als »bourgeois« aus Rundfunksendungen ausgeschlossen. Ligeti hatte angenommen, die insgesamt moderate Musiksprache seines Konzerts werde als »Camouflage« den Maßgaben des Sozialistischen Realismus standhalten. Aber nach nur einer Probe wurde 1951 das Stück verboten mit Hinweis auf Dissonanzen – »z. B. fis innerhalb von B-Dur«, wie er schreibt. Möglich auch, dass zwei Jahre vor dem Tod Stalins allein schon die Verwendung rumänischer und ungarischer Volksmusik von bedenklichen Autonomiegelüsten zeugte.

Die brachen sich 1956 in Budapest bekanntlich Bahn und wurden von der Sowjetunion blutig niedergeschlagen. Das »Concert Românesc« wurde erst 1971 uraufgeführt, 1996 fand es nach einer Überarbeitung durch den Komponisten den Weg ins Repertoire. In jeder Hinsicht zeigt dieses Stück aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, dass in jedem Volkstanz weit mehr steckt als nur ein harmloses Vergnügen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im Elbphilharmonie Magazin I / 2024, S.8-13. Die Illustrationen sind Raoul-Auger Feuillets Buch “Choreographie ou L’art de decrire la danse”, Paris 1700, entnommen.