Die Weite der nördlichen Zonen

Sinfonische Entgrenzungen von Esa-Pekka Salonen, Edvard Grieg und Jean Sibelius

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Für Helix braucht man inzwischen wohl eine Triggerwarnung. Eine über neun Minuten sich erstreckende Beschleunigung, mit der ein Crescendo des ganzen Orchesters (fünf Schlagzeuger eingeschlossen) verbunden ist, könnte Angstzustände auslösen. Doch bislang mündete das Stück, das Esa-Pekka Salonen 2005 schrieb, meist in den Jubel eines Publikums, das Freude am pannenfreien Heißlaufen eines großen Orchesters hat. Zu dessen Virtuosen gehört der 1958 geborene Finne als Dirigent und als Komponist. Einer, dem das Material garantiert nicht um die Ohren fliegt und der es auch nicht zerkratzt. Man findet bei Salonen keine Geräusche, sondern das Orchester etwa in jenem Zustand, in dem Strawinsky es mit seinem Le Sacre du printemps hinterließ. Das gilt auch für das rhythmische und harmonische Vokabular. In Helix wird es maximal verdichtet, dem Prinzip einer um einen Kegel gewickelten Spule folgend. Aber Salonen überlässt das Material nicht einfach nur sich selbst. Und er bringt es so behutsam in Gang, dass wir Zeit haben, uns innerlich anzuschnallen…

9. April 1870, Rom. Die Basilika Santa Francesca Romana unfern des Kolosseums wurde einst in den Ruinen eines Venustempels errichtet. Eine passendere Adresse konnte sich Franz Liszt nicht aussuchen, der hier eine komfortable Wohnung im Kloster hat. 58 Jahre alt ist er jetzt, seit vier Jahren Abbé mit niederen Weihen, stets in der Soutane und doch immer noch der funkelnde, gefeierte Virtuose des Lebens und der Kunst.  An diesem Samstag scharen sich junge Damen um ihn, „die Liszt gern mit Haut und Haaren gefressen hätten“. So beobachtet es ein junger Besucher aus Norwegen, dessen Partitur Liszt gerade auf den Chickering-Flügel in der großen Halle des Klosters gestellt hat: Edvard Grieg. Dann sind da noch Griegs Komponistenfreund August Winding, der hochbegabte Pianist und Dirigent Giovanni Sgambati und ein deutscher Bewunderer, der Liszt imitiert und selbst ein Abbékostüm angelegt hat.

Es ist eine schwankende Zeit, in der sich diese bunte kleine Gesellschaft im sakralen Ambiente versammelt. Noch, aber nicht mehr lange ist ganz Rom ein Kirchenstaat, Enklave im jungen Königreich Italien. Es herrscht jene Atmosphäre des Umbruchs, in der einer wie Liszt aufblüht. „Wollen Sie spielen?“, fragt er Grieg, der mit dem Manuskript seines a-Moll-Klavierkonzerts gekommen ist. „Ich kann nicht“, bekennt der 26-Jährige, das Stück müsse er erst noch üben. „Dann werde ich Ihnen zeigen, dass ich es auch nicht kann“, sagt Liszt und lächelt seltsam. Die Damen drängen sich näher um ihn und starren auf seine langen, schmalen Finger. Winding und Grieg, die beiden Norweger, sehen einander an, skeptisch. So etwas kann man nicht vom Blatt spielen, noch dazu aus dem Manuskript.

Liszt stürzt sich hinein in die Kaskaden des Anfangs, zunächst viel zu schnell. Aber dann beginnt er sich in der Musik umzusehen, die seine Hände mühelos aus der Partitur zaubern. Natürlich hat er gleich erkannt, dass die a-Moll-Kaskaden zu Begin denen von Robert Schumanns Klavierkonzert folgen – Grieg hat das schon als 15-jähriger Leipziger Student mit Clara Schumann am Klavier erlebt -, aber ganz andere Welten wachrufen. Kleine Sekunde und große Terz abwärts, das kommt aus der norwegischen Folklore, die Liszt nicht kennt, aber eine neue, starke Sprache erkennt er, so, wie er schon als 18-jähriger in Paris das Genie von Berlioz erkannte und in der Uraufführung Symphonie fantastique einfach aufschrie.

Das tut er jetzt nicht, aber immer wieder kommentiert er beglückt, während er spielt. Es mögen die gnomenhaften Punktierungen im Klavier sein, später das herrliche E im Horn über fis-Moll, dann ein paar harmonische Tricks, die simpel sind und doch taufrisch wirken, wie nie vorher gehört. Ohne die Anstrengung, das Zielgerichtete der Deutschen um Schumann und Brahms, freier, unter sehr weitem Himmel, auch fern von Rom. Mit Norwegen im Sinn hat Grieg sein Klavierkonzert in Søllerød nahe Kopenhagen begonnen und in Oslo vollendet.

Kurz vor Schluss springt Liszt auf und brüllt “Famos!”

Im Adagio ist Liszt sogar noch begeisterter. Er spielt das sanfte, sarabandenhafte Thema – so dürfen wir es uns vorstellen – wie die Erzählung einer großen Liebe, und seine Ornamente sind wie Zärtlichkeiten. Ohne Pause geht es danach ins Finale, in dem besonders die Norweger in der Klosterhalle nur staunen können. So, wie Liszt nach dem heftigen norwegischen Männertanz die völlig überraschende Idylle, das schwebende Thema der Flöte erscheinen lässt, sieht man hier, dem schmutzigen Tiber nahe, einen klaren endlosen Fjord vor sich. Wie Liszt später im Presto die Betonungsänderungen, die Hemiolen greift, als hätte er sie selbst dorthin gesetzt, aus zwei schnellen Dreiertakten einen langsamen machend – und wie er dann aufspringt. Ja, er springt auf, vier Takte vor Schluss, und seine Anbeterinnen treten erschrocken zurück vom Flügel.

Gerade hat er noch mit der linken Hand eine rasende Skala aufwärts genommen und mit der rechten Trompeten und Posaunen erschallen lassen. Die machen aus dem idyllischen Flötenthema ein Maestoso wie für den Circus Maximus, und aus dem Gis, dem Leitton für a-Moll, ist ein G geworden, gegen alle Schulregeln. Liszt brüllt das Thema geradezu, während er mit erhobenem Arm und hochgewachsen, wie er ist, durch die Halle schreitet. „G, g, nicht Gis! Famos!“ ruft er. Diese Szene wird später in keinem Text über das Werk fehlen, aber genau wie Griegs Konzert wird sie durch Wiederholung nicht schwächer… Liszt setzt sich wieder hin und spielt die letzten 18 Takte noch mal richtig. Nimmt die Noten, gibt sie dem Komponisten und sagt, leise und bewegt: „Fahren Sie so fort, Sie haben das Zeug dazu.“

Auch für Jean Sibelius wird Franz Liszt wichtig, aber auf andere Weise. Liszt ist schon seit fünf Jahren in Bayreuth begraben, als dort im Sommer 1894 der 28-jährige Finne, überwältigt von Tristan, Parsifal und Die Meistersinger, in eine Krise gerät und sich von eigenen Opernplänen verabschiedet. „In Wirklichkeit bin ich ein Tonmaler und Dichter“, schreibt Sibelius seiner Frau Aino. „Ich stehe der Meinung von Liszt über die Musik am nächsten…“ Das ist allerdings eher eine Bestätigung des Wegs, auf den sich Sibelius mit Kullervo längst begeben hat, einer Komposition der Heldensage aus dem finnischen Nationalepos Kalevala. Die Uraufführung 1892 in Helsinki ist sofort als „Geburtsstunde der finnischen Musik“ gefeiert worden, und das sagt schon einiges über das Spannungsfeld, in dem sich Jean Sibelius bewegt.

Da ist der kulturelle und politische Einfluss Schwedens einerseits und Russlands andererseits, eine komplexe Geschichte, keineswegs nur eine der Unterdrückung, die zum Erwachen eines finnischen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert führt. Es gibt eine unter schwedischer Herrschaft etablierte europäische Kultur, es gibt seit 1809 ein russisches Großfürstentum Finnland mit schwedischen Gesetzen, und mit dem wirtschaftlichen Erfolg Finnlands wächst der Wunsch nach Autonomie, die Suche nach eigener Identität. Für diese spielen die überlieferten Tonformeln eine große Rolle, mit denen die Verse aus der Kalevala zu rezitieren sind, gebildet aus einem melancholischen Fünfklang in Moll. Hunderte dieser Formeln sind im 19. Jahrhundert in Finnland aus der mündlichen Überlieferung transkribiert worden, und sie inspirieren Sibelius.

Doch nicht weniger beeindruckt ihn in Wien 1890 eine Aufführung von Bruckners Dritter Sinfonie. Bruckner, Wagner, Liszt, dazu noch Tschaikowsky – das sind die Zeitgenossen, die Sibelius anregen. Tschaikowsky in der Körperhaftigkeit des Orchesterklangs, Liszt als komponierender Erzähler, Wagner als Faszinator, zu dem jeder eine eigene Position finden muss, Bruckner als Outsider, der das Arbeiten an Sinfonien in ein neues Universum geführt hat. All diese Einflüsse treffen sich mit Sibelius´ „finnischem“ Ton in seiner Zweiten Sinfonie so offen wie vorher und nachher nicht, ein Werk übrigens, dessen Entstehungsgeschichte 1901 auf einer Italienreise beginnt, nicht in Finnland.

Wie nach und nach ein Thema erscheint

Eigentlich zeigt jeder Satz eine andere Position inmitten der Strömungen, der erste wohl die am meisten ausbalancierte. Wie sanft uns die Streicher entgegenkommen, mit welcher Selbstverständlichkeit sich alles entfaltet – das hat etwas vom Erleben einer Landschaft. Wenn man sich das Material näher ansieht, kommt hinter dem Naturhaften eine geniale Themendisposition zum Vorschein, besonders beim nachhaltigsten Thema. In voller Größe erscheint es erst nach zwei Dritteln des ersten Satzes. Es ist uns aber vorher schon nach und nach bekannt geworden, wie ein Berg, den man auf kurvigem Weg zunächst in Auschnitten oder umrisshaft durch das Laub der Bäume schimmern sah. Den ersten Teil dieses Themas spielen die Holzbläser schon früh: Ein über dreieinhalb Takte gehendes C, von dem eine kleine Wellenbewegung aus Achteln in eine Quinte nach unten mündet.

Es ist da noch umhüllt von Blechbläsertönen und dem Bogenvibrato der Streicher, mit dem der Satz begann. Zusammen mit den Streichern ist es wenig später deutlicher zu hören. Dann folgen 14 Takte gespannter Ungewissheit, die Oboe spielt das Thema allein auf weiter Flur, das Fagott spinnt es fort bis zu einem sehr auffälligen, fast dramatischen Sprung nach oben, im „Teufelsintervall“ einer verminderten Quinte. Immer wieder kommen Details ins Spiel, die wir schon kennen und bereits wieder vergessen haben, und tragen bei zu der eigentümlichen Vertrautheit im Neuen, das sich entwickelt. Nach vielen Andeutungen und Anläufen ist es dann pures Glück, das Thema komplett zu erleben, mit Paukenwirbel und acht Takte lang.

Bis dahin hat Sibelius ein anderes Thema, sein bis dahin etwa zehntes, aus Vorstufen entwickelt und so exzessiv gesteigert, dass man sich fragen konnte, wohin das noch führen soll. Voilà: zum vollen Bergblick! Ungefähr zehn Themen (je nach dem, wo man die Grenze zwischen Motiv und Thema ziehen möchte, was bei Sibelius nicht viel Sinn hat) – das liest sich komplex. Aber alles ist so unangestrengt aufeinander bezogen, derartig aus einer Vision heraus entwickelt, dass wir uns immer gut aufgehoben fühlen. Dazu noch gibt es unverhoffte Harmonien, die in die Zeit vor der Diatonik führen, Durakkorde wie aus der Renaissance, reines Blau, reines Grün…

Im zweiten Satz wächst ein Motiv, ein Thema aus dem anderen so hervor, dass wir uns nicht mehr auf einem klar sichtbaren Weg befinden, sondern in einer Wildnis. Sibelius kann ohne Vorwarnung Gefahren hervorbrechen lassen, etwa Violinen wie angreifende Hornissenschwärme – aber anders als etwa bei Mahler führt so etwas nie zu Katastrophe oder Durchbruch. Stattdessen, beispielsweise, in ein Bruckner-Idyll, Triolen der Streicher zum Viervierteltakt der Bläser, die auch hier und da mal den Tristanakkord spielen. Anspielungsreiche Anarchie, zusammengehalten von einem Thema in der Melancholie der Kalevala-Formeln.

Dann, im dritten Satz, wieder eine andere Perspektive, die man eine der kosmopolitischen Raffinesse nennen könnte: Sibelius liefert ein (von ihm nicht so genanntes) Sechsachtel-Scherzo, das Tschaikowsky in einer siebten Sinfonie hätte schreiben können: spritzig, elegant, drängend, mit einem Mittelteil, in dem sich Tschaikowsky und Sibelius gleichsam an der Grenze ihrer Heimatländer im einsamen finnischen Südosten treffen. Das Thema beginnt mit einem achtmal wiederholten b in der Oboe, halb Ruf, halb Naturlaut, bevor sehnsüchtiges Melos daraus wird. Dieser B-Teil ändert nicht nur die Reprise des schnellen A-Teils, in dem nun Schatten zu hören sind, er führt am Ende auch ins Finale.

Was dann passiert, ist nicht sehr subtil, aber eben auch ein Aspekt dieser Sinfonie. Das Finale beginnt schon, wie es enden wird. Man kann dem triumphalen Thema zugute halten, dass es aus den Kontrasten im dritten Satz hervorgeht, und man kann auch nicht behaupten, dass neben dieser Pracht kein Gras mehr wachse. Es gibt noch andere Themen und Motive, auch nachdenkliche. Aber sie taugen nur zum Atemholen, nicht für Unwägbarkeiten und Überraschungen. Dass nun „alles gut“ ist, steht außer Frage. Was etwas überrascht. Denn ein Kampf, dem ein derartiger Triumph folgen könnte, hat den Komponisten vorher nicht interessiert – dieses Finale ist wohl auch die vom finnischen Publikum erwartete Botschaft auf dem Weg zur Autonomie der Nation. Bei der Uraufführung am 8. März 1902 im ausverkauften Saal der Universität von Helsinki bricht Begeisterung aus, der 36jährige Sibelius erhält Lorbeerkränze. Nimmt man aber die mutmaßliche politische Botschaft weg, bleibt doch etwas Neues. In der additiven Struktur des Finales ist auch die pure Lust am Material zu erleben – gut hundert Jahre, bevor sie bei Jean Sibelius´ Landsmann Esa-Pekka Salonen und Helix ins Zentrum rückt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich Orchesters Köln, das die Werke unter der Leitung von Tarmo Peltokoski – mit dem Solisten Jan Lisiecki am Klavier – am 4. und 5. Februar 2024 in der Kölner Philharmonie spielt. Illustration: Edvard Munch, Landschaft mit Fjord (1906), Bühnenbildentwurf für Henrik Ibsens Gespenster (3. Akt, letzte Szene), Öl auf Leinwand, Munch Museum Oslo