“Ich sang alles, was die Leute wollten…”

Offenbach, Zemlinsky, Rameau – es gibt kaum einen vielseitigeren Sänger als den Südfranzosen Mathias Vidal. In Zürich verkörpert er die tragikomische Titelheldin von Rameaus Oper “Platée”

In dieser Probe ist er nicht die Hauptperson, und das passt ganz gut zu Mathias Vidal als dem, der er jenseits der Bühne ist. Extrem bescheiden. Wie intensiv er sein kann, stimmlich, szenisch, das wissen die Zuschauer und Kollegen seines gewaltigen Repertoires von Monteverdi bis zur Moderne, aber dieses Potenzial wird jetzt gerade nicht gebraucht. Er steht am Rand der Probebühne und wartet, bis La Folie, die funkelnde Sopranistin Mary Bevan, und die acht Tänzer ihn erreicht haben, umschlungen, ihm einen Hut aufgesetzt, ihn und seine Kollegin zu einem Tänzchen geführt haben, das vorn am Cembalo gespielt wird, während Emmanuelle Haïm mit Schwung dirigiert. Abbruch. Regisseurin Jetske Mijnssen tauscht sich mit dem Choreografen Kinsun Chan aus, Haïm überprüft selbst ein paar Takte am Cembalo, Mathias Vidal trinkt einen Schluck Tee.

Es ist eine von diesen Proben, bei denen aus wenigen Takten mehrere Baustellen werden, ineinander übergehend, in denen zwischen Konzept und Improvisation etwas so Komplexes zusammenwächst, dass man als Zaungast nicht gleich durchblickt und umso mehr die gut gelaunte Gelassenheit geniesst, mit der alle dabei sind. Und natürlich die Musik, diesen Rameau’schen Tonfall, der aus dem späten französischen Absolutismus schon in andere Zeiten vorzugreifen scheint, der noch etwas filigran Barockes hat und schon… ja, was? Als Mathias Vidal und Theo Hoffmann, der den sarkastischen Kleingott Momus spielt, einen knappen Dialog singen, schwebt ein Hauch Offenbach über die Szene, etwas Französisches jenseits der Revolution, von der Platée noch gut vier Jahrzehnte entfernt ist, die Komödie mit der Tenor singenden Sumpfnymphe.

«Gounod, Massenet, Bizet», sagt Mathias Vidal, als wir uns im Foyer darüber unterhalten. «In diese Richtung muss man Rameau singen. Es ist dieselbe Familie, dieselbe DNA. Das ist nicht Lully oder Charpentier, wir sind in der grossen französischen Oper.» Das gelte nicht zuletzt für seine Partie. «Für einige in Frankreich bin ich überhaupt nicht der Beste für dieses Repertoire. Sie wollen die Stimme sehr leicht für das ganze Barock, meine ist ihnen zu stark. Dabei habe ich keine Siegfriedstimme! Aber Rameau, das ist keine Kammermusik.»

«Haute-contre» habe nichts mit Countertenor zu tun, es bedeute bei Rameau einfach Tenor, so wie «dessus» die alte Bezeichnung für Sopran ist, «bas-dessus» für Mezzosopran, «taille» für Bariton und «basse-taille» für Bass. Allerdings: Bei Marc-Antoine Charpentier, 40 Jahre vor Rameau geboren, «liegt Haute-contre viel höher. Das kann ich nicht singen, unmöglich, da singe ich immer taille! Also, vorsichtig sein mit der französischen alten Musik!» Er lacht.

Screenshot 2024-01-25 110730
Mathias Vidal ist zierlich, hat dunkle Locken, braune Augen, einen knappen Bart und entspricht optisch durchaus dem Klischee vom Südfranzosen, der er ist, vor knapp 46 Jahren an der Cote d’Azur im Hafenstädtchen Saint-Raphaël zur Welt gekommen als Sohn eines Amateursaxophonisten. Mehr erzählt er über seine Eltern nicht, und dass er selbst eine Familie und Kinder hat, findet er nicht unbedingt erwähnenswert. Er selbst begann als Siebenjähriger mit dem Klavierunterricht. Als er in Nizza studierte, 50 Kilometer nordöstlich von seiner Vaterstadt, interessierten ihn Musikwissenschaft, Chor- und Orchesterleitung und immer mehr der Gesang. Das fing an im Chor der Oper von Nizza. Im kleinen Gattières nördlich dieser Stadt sang Mathias mit 20 Jahren zum ersten Mal eine Rolle in Hoffmanns Erzählungen. Von da war es ein grosser Sprung ans Pariser Conservatoire, wo er Gesang bei Christiane Patard studierte.

«Ich lernte alles bei ihr, mit sehr guter italienischer Technik, die lehre ich nun selbst. Sie starb leider vor zwei Jahren, sonst wäre ich jede Woche in Paris. Man braucht immer einen Lehrer, wenn man Sänger ist.» Rameau war damals noch in weiter Ferne, aber nicht Emmanuelle Haïm, die um 16 Jahre Ältere, die als Lehrbeauftragte ihm und anderen Studentinnen und Studenten Musik von Claudio Monteverdi nahebrachte. «Bis ich 25 war, habe ich eigentlich nur Belcanto gesungen, italienische Oper. Das sind auch meine Wurzeln, eine meiner Grossmütter kommt aus Sizilien, und sie sang dauernd diese Arien… Nach dem Konservatorium sang ich zum ersten Mal französische Romantik. Keine Hauptrollen!»

Das war in Compiègne, jener nordfranzösischen Stadt, die außer ihrer historischen Bedeutung für Frankreich wie für Deutschland auch ein Théâtre Impérial aus der Zeit Napoléons III. hat, seit langem bekannt für seine Opernausgrabungen. Hier debütierte Mathias 2004 in Bizets noch nie aufgeführter Oper Noé, «und in derselben Saison sang ich Rossinis Barbier, Offenbachs La Périchole und ein bisschen frühe französische Musik mit Gérard Lesne, dem berühmten Counter. Ich sang alles, was die Leute wollten, ich dachte einfach, ah, da ist ein Job für dich!» Dieser bunte Start ins Bühnenleben scheint wegweisend bei einem, den man in Frankreich «éclectique» nennt, in vielen Genres zu Hause und nicht leicht zu etikettieren. Ist das ein Problem?

«Es wechselt von Haus zu Haus, wie man besetzt wird. Hier Rameau, da Operette…» Nein, das Hauptproblem ist ein anderes, und es gilt für alle französischen Sänger: «Wir haben tolle Musiker und nur 20 Operntheater, das ist nichts. In Deutschland gibt es 120. Warum? Theater in Nantes und anderen Grossstädten zeigen viel weniger Vorstellungen als zum Beispiel das in Oldenburg. Die festen Ensembles sind vor 40 Jahren verschwunden. Es gibt also nur Gastspiele. Wenn du in Frankreich auftrittst, geht es um das Leben, du hast nur einen Schuss! Wir versuchen diese musikferne Mentalität zu ändern, das geht nur langsam.» Umso lieber denkt er an den Erfolg, den eine Koproduktion der Theater von Lille und Rennes hatte, die 2017 Zemlinskys Einakter Der Zwerg auf die Bühne brachten. Es war der norwegische Talentscout Pål Christian Moe, der Mathias für die tragische Titelrolle empfahl.

Wer ihn im Mitschnitt erlebt, begreift sofort, warum das einschlug. Eine Stimme, die den Worten folgt, die fleht und nicht prunkt, eine Körpersprache, die zeigt, was dieser «Zwerg» vor allem ist – ein zutiefst verunsicherbares Wesen. «Ich war sehr glücklich mit diesem Charakter», meint er, «und mit der Atmosphäre dieser Musik, der Harmonik. Wir haben in Frankreich auch Werke aus dieser postromantischen Periode, aber die sind eleganter. Bei Zemlinsky ist es sehr real. Und auf Deutsch zu singen ist zwar nicht einfacher, aber klarer. Die Worte verbinden sich besser.»

Tatsächlich fiel ihm der Weg zu Zemlinsky leichter als der zu Rameau. «Ich war sehr langsam mit diesem Komponisten, und bei meiner ersten Produktion war ich improvable, denn es ist sehr schwer. Das Schwierige ist, die Ornamente und eine grosse Stimme zusammenzubringen. In der ersten Woche der Proben wird die Stimme erstmal klein, weil man alle Töne erwischen will. Man muss zu einer bestimmten Flexibilität finden.» Die Zürcher Platée ist die dritte, die Mathias auf der Bühne singt – nach Produktionen in Frankreich und Japan –, aber die erste, bei der die von den Göttern genasführte hässliche Nymphe eben keine ist, sondern ein männlicher Souffleur, der sich in einen Startänzer verliebt. Für ihn macht das keinen fundamentalen Unterschied. «Es sind dieselben Gefühle, dasselbe Spiel zwischen den Charakteren. Und die Figur ist sehr reichhaltig, naiv und anmassend, komisch, romantisch, tragisch.»

Ein Wunsch freilich bleibt offen. Ideal für Rameau und den Stimmumfang eines Haute-contre, meint er, sei ein Stimmton von 400 oder 405 Hertz statt 415 wie hier, «aber für Platée ist das okay, es ist eine Komödie!» Um was genau, frage ich ihn, geht es eigentlich in der komplexen Szene, die gerade geprobt wurde? «Platée wartet auf ihre Hochzeit mit Jupiter», sagt er in seinem sanften südfranzösischen Englisch. «She is enjoying moments. And… that’s it.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 107 der Oper Zürich, auf deren Website er ebenfalls zu finden ist. Die Premiere von Platée fand am 10. Dezember 2023 statt.