Blut an den Saiten

Spiel mir das Lied von Bach: Der moderne Barockkomponist Ennio Morricone

Screenshot 2023-12-07 142456

Diese Musik setzt nicht ein, sie ist schon da. Sie wartet in den Dingen, in der Weite, in der Hitze. Alles wartet in einem der langsamsten Anfänge der Filmgeschichte, in Spiel mir das Lied vom Tod. Man hört das gedehnte Metrum der Wassertropfen, die aus dem Bahnhofstank in die Hutkrempe eines Mannes fallen. Ein Windrad quietscht. Manchmal bringt es eine Art Es-Dur zustande. Eine Fliege summt. Einmal bellt ein Hund. Bewusstlose Geräusche, die ein zerbrechliches Muster bilden.

Der Schrei der Lokomotive zerreißt es – und ist doch nichts gegen den Laut des Schicksals, den man hört, als der Zug schon wieder fort ist und drei Männern der gegenübersteht, auf den sie gewartet haben. In wenigen Tönen, die Charles Bronson auf der Mundharmonika spielt, bündelt sich alle Weite zum Konflikt. Ein fieses Halbtonschleifen zwischen f und e, ein des, dem die Erlösung zum c noch fehlt. Sekunden später sind drei Männer tot. Der Mann mit der Mundharmonika nimmt seine Tasche und geht jener Rachemission entgegen, die das gefährliche kleine Motiv in sich birgt wie der Tristanakkord die Liebe.

Schon diese paar Töne sind nicht zu trennen von der archaischen Faustrechts- und Felsenwelt, aus der sie hervordringen in Sergio Leones Western von 1968. Ennio Morricone, der 1928 geborene Filmkomponist [gestorben 2020], lauscht ins Sujet hinein, ins Material, in die Farben. Was er findet, wird auf wenige Elemente reduziert. Und die wiederum vergrößert er – ausgebildeter Trompeter, Komponist, Dirigent – im gewaltigen Echoraum populärer Idiome. Er hat sich einmal als “Barockkomponisten” bezeichnet, und sein Lied vom Tod erreicht den Durchbruch über einem Bassmotiv, das schon J. S. Bach kannte. Das dräut unhörbar schon unter den einsamen Mundharmonikatönen. Es bricht hervor, als ein kleiner Junge vor den Männern steht, die soeben seine Familie ausgelöscht haben. Der absteigende Quartgang, wie ihn Bach etwa im Crucifixus der h-Moll-Messe einsetzt, wird hier von einer E-Gitarre geröhrt, an deren Saiten noch Blut zu trocknen scheint. Anders als Bach lässt Morricone die Schmerzenshalbtöne weg, den Passionsweg mithin: Hier wird gestorben, ehe man noch leiden kann. Und statt der Aussicht auf Erlösung gleißt die Verheißung der Rache über allem: die Mundharmonika. Eigentlich sind Gut und Böse nicht zu unterscheiden.

Diese Musik macht aus unrasierten Männern in langen Mänteln Todesengel, Verkörperungen vorzivilisatorischer Gesetze. Wo mit dem Bau einer Eisenbahnlinie der Fortschritt naht, beginnt die Steinzeit, und Morricone vertont den ungeheuren Sog einer Welt, in der auf Gewalt nur Gewalt antworten kann. Er hat auch ganz andere Welten komponiert in über 400 Filmpartituren und einem ernst zu nehmenden Œuvre für den Konzertsaal. Aber sein Lied vom Tod ist nicht totzukriegen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 9. November 2006 in der Serie “50 Moderne Klassiker” (Nr.39) in der ZEIT