17. Mai 2024

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Simon Laks, 1901 in Warschau geboren als Szymon Laks, hier zu sehen als etwa 63jähriger in seiner französischen Wahlheimat, ist als Komponist eine der wunderbarsten Neuentdeckungen der jüngsten Jahre, ganz besonders als bedeutender Liedkomponist. So viel gibt es über ihn zu sagen, so viel wurde – mittlerweile – von seiner Musik eingespielt, dass ich hier einfach nur auf die wohl umfänglichste Radioproduktion verweise, die bislang über ihn und seine Musik entstand. Nicht etwa in Paris, der Stadt, aus der er 1942 nach Auschwitz deportiert wurde, in die er 1945 zurückkehrte, in der er davor und danach in allen Genres komponierte und wo er 1983 starb, sondern in Berlin, wo es die Reihe “Interpretationen” bei Deutschlandfunk Kultur nach wie vor möglich macht, auch weitab vom Mainstream ganze zwei Stunden lang fokussiert Werke und Komponist*innen zu erkunden.

Das habe ich gemeinsam mit dem Laks-Pionier, dem Musikwissenschaftler, Produzenten und Herausgeber Frank Harders-Wuthenow als Studiogast getan – unterstützt von Produktionsleiterin Brid Henning und drei Sprecher*innen für die Übersetzungen der von Laks vertonten Gedichte und die autobiografischen Texte des Komponisten selbst, der auch ein ausgezeichneter Autor war. Sie werden gelesen von Rosario Bona, während Torsten Föste die  Gedichte liest; Christine Jensen übernimmt ein weiteres Zitat. Die Sendung “Genie der Sensibilität. Der Komponist Simon Laks – ein diskographisches Porträt”  (Erstausstrahlung 19. Mai, 15.05 Uhr) ist jetzt ein Jahr lang online bei Deutschlandfunk Kultur abrufbar.

Vielleicht wird auch Krystian Adam bald Lieder seines Landsmanns singen? Den 1979 geborenen polnischen Tenor, der wechselnd in Warschau und auf Sardinien lebt, traf ich in Zürich, wo er seine Lieblingspartie probt: den Orfeo von Claudio Monteverdi.

(aktualisiert am 23. Mai 2024)

“Das Wichtigste im Leben ist lieben und geliebt werden”

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Ein Orfeo mit Wohnsitz in Warschau und auf Sardinien: Tenor Krystian Adam erzählt, wie er zu Monteverdi kam und warum er dauernd Chopin hören könnte

Wenn es etwas gibt, das Sängerinnen und Sänger in Interviews selten tun, dann ist es Singen. Sie sprechen viel und gern über ihre Kunst, manche bis auf historische Details genau oder bestimmte Intervalle, manche lieber über die Gefühle in ihrer Rolle. Aber Töne lassen sie kaum hören. Und die meisten sprechen so, dass ein Außenstehender nicht auf die Idee käme, sie als Sänger zu identifizieren, also normal, ungestützt, eher leise, wenn auch vielleicht etwas klarer prononcierend als andere Leute. So unauffällig spricht auch Krystian Adam, der Tenor. Aber er singt oft bei unserem Gespräch in der Cafeteria der Oper Zürich, gleichsam ohne seinen Redefluss zu unterbrechen, mezzopiano, akustische Vignetten mit leichter Stimme, um etwas zu verdeutlichen. Das geht von Monteverdi bis, ja doch, Chopin, bis zur Polonaise As-Dur opus 53…

Am ausführlichsten singt Krystian, als er von einem gefährlichen Moment seiner Karriere erzählt, von einer jener barocken Arien, in denen man auch Töne singen muss, die nicht da stehen, selbsterdachte Verzierungen, Koloraturen, Kadenzen. «Das war beim Festival in Santiago di Compostela. Ich hatte noch nicht viel Erfahrung und improvisierte eine Kadenz, begann und wusste nicht mehr, wo ich war.» Er singt, ganz entspannt dasitzend, leise eine Skala aufwärts, setzt neu an, noch eine, es geht treppauf und treppab, bis zu einem Triller … «Wenn diese Note jetzt nicht auf die Tonika passt, habe ich trouble! Ich war so gespannt. Und das Orchester spielte den Akkord, uff, ein 100-Kilo-Gewicht fiel mir von den Schultern! So etwas habe ich dann lange nicht mehr riskiert.»

Es gehe ja auch nicht nur darum, nach Koloraturen richtig zu landen, sondern auch, die Verzierung dem Affekt der Arie anzupassen, Wut brauche andere Töne als Übermut. Inzwischen könne er ganz gut improvisieren, «aber an jedem Abend eine andere Kadenz singen, das mache ich nicht.» Für eine der berühmtesten Arien im Orfeo, mit dem Krystian in Zürich debütiert, habe Claudio Monteverdi ohnehin selbst eine Kadenz geschrieben, für «Possente spirito», den Gesang, mit dem es Orpheus gelingt, in die Unterwelt vorzudringen, um seine geliebte Eurydike zurück ins Leben zu holen. «Es ist meine Lieblingsrolle», meint der Tenor, «superschwierig, nicht nur musikalisch. Was der fühlt, ist unglaublich.» Identifiziert er sich mit diesem Helden? «Das Wichtigste im Leben», sagt Krystian in seinem gepflegten, dezent polnisch gefärbten Englisch, «ist lieben und geliebt werden. Wenn man die Liebe des Lebens findet, tut man alles für sie oder ihn. Jeder von uns ist dieser Orfeo. Nur hat vielleicht nicht jeder diesen Mut.» Einmal seien ihm die Tränen gekommen, als er «Tu se’ morta» sang, «Du bist tot, mein Leben, und ich atme noch?» «Das war mir so nah, und es muss auch real sein. Man kann das nicht schauspielern. Ich glaube, dass in vielen Rollen die wahre Empfindung für das Publikum wichtiger ist, als dass alles perfekt gesungen wird. Ich sah mal Tosca mit einem verheirateten Paar, ein Liebesduett mit Tosca und Cavaradossi, das war nur fake. Sie waren im wahren Leben verheiratet, aber auf der Bühne war gar nichts.»

Das ginge ihm mit seiner Frau, der Sopranistin Natalia Rubiś, wohl anders. Die beiden treten mitunter auch gemeinsam auf, aber weder in Orfeo noch in Tosca, denn ihre Domäne ist die Oper des 19. Jahrhunderts und seine die der beiden Jahrhunderte davor. Was keineswegs Krystians ersten Plänen entsprach – gerade Puccinis Tosca hatte ihn schon als kleinen Jungen beeindruckt, «alles war so schön, obwohl ich nichts verstand!» Sein Weg zum Gesang begann im schlesischen Städtchen Jawor, «in einem Haus voller Musik, meine Eltern sind keine Musiker, aber sie hörten alles Mögliche. Eine Tante hatte ein Klavier, auf dem probierte ich ein bisschen und sagte, das möchte ich auch haben, mit sechs. Mein Vater meinte, na gut, wir besorgen ein Klavier und gucken, was passiert.» Krystian lernte schnell, mit elf durfte er auch in der Kirche Orgel spielen, «singen musste ich da auch», ein Gesangslehrer hörte das und schickte ihn zu einem Kollegen ins 70 Kilometer entfernte Wrocław.

Bei diesem Breslauer Lehrer, Bogdan Makal, hat er dann auch Gesang studiert, mit den großen italienischen Opern im Sinn. «Ich dachte, wer Sänger sein will, muss Tosca und Traviata singen.» Mit dem Ziel setzte er das Studium auch in Mailand fort, am Konservatorium, sang mit im Chor der Scala und war nicht gerade begeistert, als ein Dirigent ihn für ein Programm mit Händel fragte. «Naja, als Student brauchte ich Geld… Danach sagte der, ich glaube, diese Musik ist perfekt für dich. Lass uns noch etwas probieren. Und ich begann die barocke Musik Schritt für Schritt zu lieben. Man öffnet die Tür und sieht mehr und mehr Licht und dann einen schönen Garten…»

Es ging noch ein anderes Licht auf in Mailand. Sein polnischer Lehrer rief an und bat ihn, einer seiner Studentinnen, die dort studieren wollte, die Stadt zu zeigen. «Sie war mit ihrem Freund da und ich mit meiner Freundin, also, das war nicht so einfach… es ist sechzehn Jahre her, und seit elf Jahren sind wir verheiratet.» Wie er hat sich auch Natalia in die Insel Sardinien verliebt, wo die beiden inzwischen ihren zweiten Wohnsitz haben, neben Warschau. «Viele Reisen, ja. Aber nur an einem Ort halte ich es sowieso nicht aus. Ich träumte schon als Junge von grossen Reisen.»

Mir fällt ein, wieviele polnische Künstler Kosmopoliten sind und zugleich sehr ihrem Land verbunden. Gibt es so etwas wie eine polnische musikalische Identität? «Danke für die Frage! Ich könnte die ganze Zeit Chopin hören. Besonders, wenn ich lange weg bin. Schon zwei Akkorde sagen etwas über Polen.» Er singt den Anfang des Themas der As-Dur-Polonaise, so berühmt, dass man darin fast schon das ganze Stück hört. Aber einer wie Krystian – der als Pianist das Stück ja auch selbst spielen kann – hört noch mehr: «It’s so Polish inside! Da fühle ich mich wirklich zu Hause.» Und er singt gleich weiter …

Ein anderes musikalisches Zuhause ist für ihn die Szene italienischer Barockinterpreten, zu der auch Ottavio Dantone zählt, der Dirigent des Zürcher Orfeo. Zeitweise war Dantone auch Cembalist des Mailänder Ensembles Il giardino armonico, für das sich der Sänger schon als Student begeisterte. «Das waren für mich die Götter der Barockmusik! Das ist nicht die höfliche englische Art, tantakadamm…», er deutet singend einen Rhythmus an, «das ist die italienische Art», derselbe Rhythmus mit mehr Kante und Drive. «Sie bringen all diese Musik als Musik von heute. Das ist alles zusammen, Barock, Rock, Pop…» Als er später für einen Auftritt mit diesen Musikern angefragt wurde, konnte er sein Glück kaum fassen und hielt mitten auf der abgelegenen Strasse an, wo ihn im Auto der Anruf seiner Agentur erreicht hatte. «Ich fühle mich noch heute ein bisschen wie ein Schuljunge, wenn ich mit ihnen arbeite.» Indessen war es doch ein Engländer, nämlich John Eliot Gardiner, der Krystian darauf brachte, wieviel Pop auch im Orfeo steckt, etwa in «Vi ricorda, o bosch’ ombrosi». Auch eines der Stücke, die er nur ansingen muss, um alles wachzurufen. «Er sagte, du kommst damit wie Elvis Presley auf die Bühne! Ja, Orfeo ist auch ein Popstar.» Genau deswegen reizte es Krystian auch, beim Projekt Orfeo 2.0 mitzumachen, bei dem das Leverkusener Ensemble L’arte di mondo neben Streichern und Laute auch E-Gitarren und Schlagzeug einsetzt. «Meine Agentur riet ab: Du hast Orfeo mit Gardiner in der Carnegie Hall gemacht – und jetzt so etwas? Aber ich experimentiere gern. Wenn man im Theater weinen kann, ist alles gut, egal mit welchen Instrumenten.»

Wie wahr das ist, merke ich auf der Bühnenprobe nach unserem Gespräch. Es ist die erste Probe auf der grossen Bühne, noch mit einem Klavier im Graben. Schon die ersten Harmonien reißen einem das Herz auf. Dann kniet Orfeo neben dem offenen weißen Sarg, hebt die Hand der Toten hoch, an der der Ehering funkelt, und Krystian Adam erhebt seine geschmeidige Stimme zu jenem «Rosa del ciel», mit dem Orfeo sonst sein Glück besingt. Es ist nur eine Probe. Aber wenn der ganze Abend so wird, werden die Leute mehr als ein Taschentuch brauchen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 112 der Oper Zürich, Mai 2024, und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Der neue Zürcher Orfeo hat am 22. Mai 2024 Premiere.

„Der Mensch ist ein Abgrund“

Seit dem frühen 20. Jahrhundert reagiert die Musik auf einen Krieg nach dem anderen. Vorahnend, unmittelbar oder verzögert, mit und ohne Botschaft, klagend oder anklagend. Eine Spurensuche von Alban Berg bis Steve Reich

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Vielleicht gelingt mir doch einmal etwas Heiteres“, schrieb Alban Berg im Juni 1913 zu einer geplanten Folge von Orchesterstücken. Aber was der 29-Jährige am 23. August 1914 zuerst vollendete, „Marsch“ genannt, letztes der drei Orchesterstücke opus 6, mündet in den brutalsten Schluss, der je komponiert wurde. Nach 174 Takten in einer gerade noch durchhörbaren Dichte polyphoner Ereignisse schlägt sich die Musik mit einem Hammerschlag des ganzen Orchesters gleichsam selbst tot. Zu dieser Zeit sind innerhalb von drei Wochen, seit der Krieg begann, schon Hunderttausende umgekommen.

Der Komponist hat, zurückgezogen in ein Alpenidyll südwestlich von Graz, kaum etwas davon mitbekommen und diesen letzten Satz seiner Orchesterstücke ohnehin schon seit dem Frühjahr 1914 konzipiert – keineswegs als „Kriegsstück“. Gerade deshalb kann man in dieser Partitur die Spannungen dieser Jahre, ihre Hypertrophie, ihr destruktives Potential, ihr kollektives Unbewusstes fast mitlesen wie in einer Computertomographie – nur dass es hier ein „tongebendes Verfahren“ ist, kein bildgebendes. Beklemmend ist auch die leise, beharrliche Mechanik, das Weckerticken vor dem finalen Ausbruch. Alban Berg konnte nicht wissen, dass ihn diese Partitur vom Frieden in den Krieg begleiten würde.

Wer mit dem Blick auf Krieg und Frieden die Musikgeschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert erkundet, findet hellseherisch anmutende Innenansichten wie seine, aber auch unmittelbare Reaktionen, politisch motivierte Statements und versteckte Botschaften. Manches Werk reagiert mit „Verspätung“ auf nicht zu bewältigende Traumata, manches entsteht „in Echtzeit“ parallel zum Kriegsgrauen, mitunter als bewusster Gegenentwurf dazu.

Aber ist nicht jede kreative Arbeit ein Gegenentwurf zum Krieg? „Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg“, schreibt Sigmund Freud 1933 an Albert Einstein, in einem öffentlichen Briefwechsel zum Thema Krieg. Für den überzeugten Pazifisten Freud gehört die Dominanz des Liebens gegenüber dem Hassen zu den Errungenschaften der Kultur. Was für den Psychoanalytiker Freud nicht heißt, dass „die Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen“ in der Kultur keinen Platz hätte – sie gerät aber unter die Kontrolle des Intellekts. Das können wir in vielen großen Werken unseres Themas erleben. Jedes von ihnen verhält sich zur militärischen Destruktivität aus kultureller Erfahrung heraus, und selbst eine für den Verteidigungskampf komponierte Sinfonie wie die „Leningrader“ von Dmitri Schostakowitsch erweist sich bei näherem Hören als hochsensibel.

Auf „Freund“ und „Feind“ ist Kunst nicht zu reduzieren. Das zeigt vor allem Maurice Ravel, der sich nach Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig als Lastwagenfahrer bei Verdun einsetzen lässt. Parallel arbeitet er an der Klaviersuite „Le Tombeau de Couperin“, die er nicht nur dem Barockmeister, sondern auch sieben im Krieg getöteten Freunden widmet. Und doch antwortet er der „Liga zur Verteidigung der französischen Musik“, die 1916 ein Aufführungsverbot zeitgenössischer Musik aus Deutschland und Österreich anstrebt: „Es bedeutet mir wenig, dass Herr Schönberg, zum Beispiel, österreicherischer Nationalität ist. Er ist darum nicht weniger ein Musiker von hohem Verdienst, dessen Erkundungen (…) einen glücklichen Einfluss auf gewisse Komponisten auf alliierter Seite und bis hin zu uns gehabt haben.“

Er weiß freilich nicht, was Arnold Schönberg schon am 28. August 1914 an Alma Mahler über „alle ausländische Musik“ schrieb: „Aber jetzt kommt die Abrechnung! Jetzt werfen wir diese mediokren Kitschisten wieder in die Sklaverei und sie sollen den deutschen Geist verehren und den deutschen Gott anbeten lernen.“ Übrigens arbeitet Ravel in einem seiner bis heute meistgespielten Stücke tatsächlich mit „Kitsch“, mit Wienerischem gar noch – indem er einen Wiener Walzer in jene Katastrophe führt, die von Anfang an in den unheimlichen Farben, Akzentverschiebungen, Binnendramen von „La Valse“ lauert, wie eine danse macabre. Das Orchesterwerk fasst gleichsam die Jahre von 1906 – damals entstand das früheste Material – bis 1920 in zwölf Minuten zusammen. Aus schwelgerischen Streichermotiven werden Fetzen, Heultöne; Rhythmus und Harmonik des Walzers werden zur immer dünneren Folie über den Spannungen, der Walzer vernichtet sich am Ende selbst.

Das lässt an die virtuos komponierte Orgie der Zerstörung denken, die Richard Strauss als „Gewitter und Sturm“ in seiner „Alpensinfonie“ realisiert, einem so beliebten wie zugleich unterschätzten Werk, das nicht nur in seiner Entstehungsgeschichte weit über eine alpine Tondichtung hinausgeht. In Skizzen schon 1900 beginnend, wird ein vielschichtiges Panorama daraus, das –wie Bergs Orchesterstücke – erst im Krieg vollendet wird. Einem Krieg, den Strauss zuerst als „herrlich“ begrüßt und schon im Februar 1915 – da ist die Orchestrierung abgeschlossen – ernüchtert als „Morden“ bezeichnet. Im „Gewitter“ wird eine ganze Welt zermahlen und geschreddert. Strauss wirft – mit Ausnahme des Sonnenmotivs – alle Bestandteile seiner Alpensinfonie in den Häcksler. Nicht erst von hier aus kann man das ganze Werk auch als Zeitkino hören, als „Abschiedsfeier von einem scheinbar intakten Weltbild“, wie der Komponist Helmut Lachenmann meint, der diese Musik „apokalyptisch“ findet.

Gespenstische Verzerrung

Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts reicht auch in der Musik weit in die Zukunft. Alban Berg erlebt militärische Verrohung zuerst als Reserveoffizier, dann als Kanzlist im Kriegsministerium, Erfahrungen, die in seine 1925 vollendete Oper „Wozzeck“ einfließen. „Es steckt ja auch ein Stück von mir in seiner Figur“, schreibt Berg schon 1918 über den Soldaten Wozzeck. In extremer Verdichtung zeigt sein Werk das Zerbrechen des Ich und gibt Wozzecks Satz „Der Mensch ist ein Abgrund“ – von Georg Büchner 1836 geschrieben- eine immense Aktualität. Bergs neue Oper wurde nach der Uraufführung 1925 an so vielen Häusern gespielt, dass der Komponist von den Tantiemen ein Sportcabriolet kaufte und mit Zuversicht den 1930ern entgegenfuhr.

Schon zu deren Beginn zeichnet sich in Deutschland der Aufstieg der Nationalsozialisten ab, deren Diktatur dann den wohl größten Talenttransfer der Weltgeschichte auslöst – um es positiv zu formulieren neben der Tatsache, dass noch nie so viele Talente in so kurzer Zeit ihr Leben verloren. Dass mindestens 1500 europäische Musiker in die USA flohen, darunter bedeutendste Komponisten und Interpreten, gehört auch zum Thema „Krieg und Frieden“.

Wie gespenstisch, wenn Richard Strauss 26 Jahre nach der Uraufführung seiner „Alpensinfonie“ dieses Werk dirigiert, im Juni 1941 in München, mit nun 77 Jahren, während im Osten drei Heeresgruppen für den Überfall auf die Sowjetunion vorbereitet werden. Im „Gewitter“ kommt die Aufnahmetechnik an ihre Grenzen, und das auskomponierte Chaos klingt – für unsere Ohren – so verzerrt, dass es sich realen Frontgemetzeln anzuverwandeln scheint. Eine zufällige und unheimliche Vorwegnahme der Effekte, mit denen Jimi Hendrix 1969 in Woodstock die amerikanische Nationalhymne auf der E-Gitarre in einen Fliegerangriff verwandelte, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren.

Keine Hymnen, keine Helden

Nach dem Angriff am 22. Juni 1941 entstehen in der Sowjetunion unzählige Lieder und Märsche heroischen Charakters, vor allem aber nehmen zwei Werke ihren Anfang, die den Krieg überdauern. Sergej Prokofjew, 50 Jahre alt, konzipiert seine Oper „Krieg und Frieden“ nach Tolstois Roman über den gescheiterten Feldzug Napoleons gegen Russland. Daran wird der Komponist bis zu seinem Tod 1953 arbeiten – eine finale Fassung gibt es nicht.

Das prominentere Werk ist die „Leningrader Sinfonie“, mit deren Komposition der 34-jährige Dmitri Schostakowitsch schon vor der Beginn der Blockade seiner Heimatstadt beginnt, des vormaligen (und jetzigen) St. Petersburg. Die Belagerung durch die Wehrmacht beginnt am 8. September 1941 mit dem Vorsatz, die Bürger der Stadt verhungern zu lassen. Bis Juni 1942 sind bereits 400.000 Leningrader an Unterernährung gestorben. Um so wichtiger wird, als symbolischer Widerstand, diese Siebte Sinfonie, die der beizeiten evakuierte Komponist schreibt. Seitdem auch nur Gerüchte darüber die Runde machten, reißen sich die Dirigenten um das Stück. Ein Mikrofilm der Partitur wird nach New York gebracht, wo Arturo Toscanini die amerikanische Erstaufführung realisiert.

Die Propagandatauglichkeit – Schostakowitsch erhält den Stalinpreis 1. Klasse – steht zugleich der späteren westlichen Rezeption im Weg, die hier mehr Botschaft als Originalität wahrnimmt und den „wahren“ Schostakowitsch erst wieder in seiner Achten Sinfonie erkennen möchte. Indessen ist der immerwährende Rhythmus des ersten Satzes, an Ravels Bolero angelehnt, eine Abstraktion der Logik des Krieges, von schmerzhaften Intervallen überlagert. Es gibt keine Hymnen, keine Helden. Der zweite Satz zeigt ein zerbrechliches Glück, wie etwas Buntes, das ein Kind mit Kreide an eine Wand gemalt hat. Im Adagio zerfällt förmlich das komponierende Subjekt – und selbst im virtuosen Sturmgetöse des Finales finden sich marschuntaugliche Siebenviertel-Takte.

Die Siebte hat also durchaus einen Platz an der Seite ihrer dunkleren Schwester, der Achten, verdient, einer Musik der verbrannten und beweinten Erde und der zerreißenden Maschinerien, der Schreie. Eine so persönliche wie komplexe Musik, in der auch die Angst und Not unter dem Regime des Massenmörders Stalin gehört werden können – und die nach ihrer Moskauer Uraufführung 1943 in der Sowjetunion überaus kühl aufgenommen wurde.

Botschaften aus dem Jahr 1943

Im selben Jahr 1943 wird im von den Deutschen besetzten Paris ein Werk uraufgeführt, dessen Komponist damit ein beträchtliches Risiko eingeht, auch wenn es „nur“ eine Violinsonate ist, die die junge Ginette Neveu in der Salle Gaveau spielt, mit dem 44-jährigen Francis Poulenc am Klavier. Zwei Tage zuvor hat er in der Zeitung „Comoedia“ ausdrücklich auf den Widmungsträger hingewiesen: Federico García Lorca. Diesen berühmtesten spanischsprachigen Autor der 1930er Jahre haben Francos Faschisten am 19. August 1936 brutal ermordet, seiner Liberalität wie seiner Homosexualität wegen.

Es ist ziemlich unerschrocken, in Paris ein Werk zu seinem Gedenken aufzuführen, mit einem Zitat aus seiner Lyrik, wenn sich die Propandastaffel der Nazis gerade mal 800 Meter weiter weg befindet. Dass zudem amerikanischer Jazz zitiert wird, nämlich der Standard „Tea for two“, ist auch eine Botschaft. Eine von vielen in diesem persönlichsten Werk Poulencs, das viel über jene Jahre erzählt, nicht weniger als Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeiten“, das Poulenc hoch schätzte. 1943 schrieb er auch eine Musik, die vorerst unaufführbar war. „Figure humaine“ für Chor zu Gedichten von Paul Élouard endet mit „Liberté“ – jenen Strophen, die als Flugblatt zu Tausenden von britischen Flugzeugen über dem besetzten Frankreich abgeworfen worden waren.

1943 ist außerdem das Jahr, in dem sich im Warschauer Ghetto jüdischer Widerstand gegen die deutschen Besatzer erhob, mit der Folge, dass mehr als 56.000 Menschen ermordet oder in KZs deportiert wurden. Ihnen widmet Arnold Schönberg – selbst schon 1933 aus Deutschland über Frankreich in die USA emigriert – sein Werk „A Survivor from Warsaw“ für Sprecher, Männerchor und Orchester, geschrieben im August 1947 als eine der frühesten künstlerischen Reaktionen auf den Holocaust. Nur sieben Minuten dauert es, einfach und schwer zu verstehen zugleich. Einfach, da der Sprecher, der „Überlebende“, auf englisch erzählt, was geschieht, während die Kommandos des berlinernden Feldwebels auf Deutsch gebrüllt werden, bis zu dem Moment, als die zusammengetriebenen Männer das „Schma Jisrael“ zu singen beginnen, eines der wichtigsten Gebete des Judentums. Indessen reflektiert das Orchester das Geschehen in einer zwölftönigen Reihenstruktur, deren komplexe Bezüge sich nicht ohne Weiteres im Zeitmaß der Worte verfolgen lassen.

In zugänglicherer Musiksprache arbeitet 1962 ein Komponist, der – anders als Schönbergs fiktive Erzählgestalt – tatsächlich ein Überlebender ist, der aus Auschwitz in seine Wahlheimat Paris zurückkehrte. Dort berichtet Simon Laks zwar früh über seine Zeit im KZ, doch als Komponist setzt er sich erst als 60-Jähriger direkt mit dem Holocaust auseinander. „Der Sarg war der Ofen des Krematoriums“. So beginnt das Gedicht „Begräbnis“ von Mieczysław Jastrun, der uns auf „ein Grab aus Luft“ blicken lässt, ganz wie Paul Celan in seiner „Todesfuge“. Laks, gebürtiger Pole, dessen Mutter, Schwester, Neffe die Shoah nicht überlebt haben, der einen Bruder in Warschau verlor, lässt das Klavier so etwas wie einen Legendenton anschlagen, wandernde dunkle Akkorde.

Dem unsagbaren Grauen setzt er die Kontinuität seines Musikdenkens gegenüber. Den Akkorden, den traurigen Bögen der Stimme können wir gut folgen, eine letzte tonale Gravitation ist von fern spürbar, wichtiger sind aber die Sensibilität, die Vorsicht und menschliche Wärme, mit der Laks den Worten folgt. Als großer Liedkomponist wird er erst wiederentdeckt, seit die serielle Avantgarde der Nachkriegszeit ihre jahrzehntelange Definitionshoheit verloren hat.

Die galt in Großbritannien allerdings wenig, und dort wurde 1962 ein Werk uraufgeführt, das noch Dur und Moll kennt und bis heute zum Bedeutendsten zählt, was je zum Thema „Krieg und Frieden“ komponiert wurde: das „War Requiem“ des 49-jährigen Benjamin Britten, entstanden zur Einweihung der neuerbauten Kathedrale von Coventry – jener Stadt, über der die deutsche Luftwaffe am 14. November 1940 500 Tonnen Sprengbomben, 50 Luftminen und 36.000 Brandbomben abgeworfen hatte. „Operation Mondscheinsonate“ nannten das die musikalischen Befehlshaber. Britten hatte als Pazifist den Kriegsdienst verweigert und blieb sich darin auch im „Requiem“ treu. „Was für Totenglocken gebühren denen, die wie Vieh sterben?“, sang der englische Tenor Peter Pears in der Uraufführung. Und der deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau sang: „Ich bin der Feind, den du erschlugst, mein Freund.“ Das sind Worte des Dichters Wilfred Owen, der im Ersten Weltkrieg mit 25 Jahren das Leben verlor und diesen Krieg verachtet hatte.

Britten vertonte sie eigens für diese beiden Sänger, den Engländer und den Deutschen, während der liturgische Text dem Chor, dazu einem Kinderchor und einer Sopranistin zugeteilt wurde. Der Erfolg war bahnbrechend, die Anwesenheit von Queen Elizabeth II. unterstrich auch den politischen Rang dieses Versöhnungswerkes. Auf die nukleare Aufrüstung der Supermächte in West und Ost hatte das natürlich keinen Einfluss. Natürlich? Wie „machtlos“ die Kunst ist, auch sein muss, darüber lässt sich endlos nachdenken.

Welche Mittel aber die Musik hat, uns unsägliches Leiden so nahezubringen, dass wir auch die unsägliche Anmaßung, Borniertheit, Dummheit und Machtgier erkennen können, die dahinter steht, zeigt einer der großen Komponisten unserer Zeit, Steve Reich, 1937 geboren. Fast ein Klassiker ist inzwischen sein Streichquartett „Different Trains“ von 1988, in dem er vom Band zugespielte Zeugenaussagen zu den Transporten in die Konzentrationslager zum Gegenstand und Ausgangspunkt einer eindringlichen, dokumentarischen Musik macht. Sie fokussiert das Geschehen auf eine Weise, die nichts verkleinert, aber die Hörer nicht mit dem Rücken an die Wand drückt.

Reichs Technik, Sprachmelodien aus Audiodokumenten in instrumentale Patterns zu verwandeln, wird in der Video-Oper „Three Tales“ von 2002 aufs Visuelle ausgeweitet. Drei Fanale „technischen Fortschritts“ nehmen sich Steve Reich und Videokünstlerin Beryl Korot vor. Am erschütterndsten ist „Bikini“ (Youtube: 16’13-38’36) zu den Nuklearwaffentests, die die USA bis 1958 auf den Marshallinseln durchführten, mit unabsehbaren Folgen für die hier lebenden Menschen, die hoher Strahlung ausgesetzt wurden.

Wenn da ein US-Offizier den „Eingeborenen“ erklärt, welch wichtiger Schritt für die Menschheit das sei, und der Rhythmus seiner Worte ins Ensemble wandert; wenn die eisige Laborsprache „test designed to measure effect on metal flesh air water“ weiß auf schwarz flimmert und gleichzeitig von einem Vokalquintett gesungen wird; wenn das digital erstellte Video fast verspielt mit dem Countdown operiert, der den Livemusikern den Takt vorgibt – dann begreift man in dieser perfekt getimten, mitunter bitter ironischen Collage nicht nur die Tragweite der monströsen Aktion. Man spürt auch die Enge in den Köpfen der Verantwortlichen. Sie haben steinzeitlichen Keulenträgern nichts voraus.

Wir sind weiterhin von solchen Keulenträgern umgeben. Aber mit ihren Arsenalen wächst der Fundus von Musik, in der wir erleben, dass die Dinge ganz anders sein könnten und werden können. Dazu muss sie nicht einmal vom Leiden erzählen, das Beschwiegene zum Klang bringen, den Krieg ins Visier nehmen. Im Oktober jenes Jahres 1915, in dem die Deutschen erstmals Giftgas eingesetzt haben – 150 Tonnen Chlor auf sieben Kilometern Frontlänge – schreibt der 53-jährige Claude Debussy einem Freund: „Es wäre mutlos, an nichts zu denken als die verübten Schrecken, ohne den Versuch, darauf zu reagieren durch das Wiederherstellen – soweit es meine Mittel erlauben – jener Schönheit, gegen die diese ,Leute‘ wüten…“ Er hat in diesem Jahr ein Trio für Flöte, Viola und Harfe komponiert, wie eine glückliche Insel, schwebend und leuchtend. Nur ein schöner Traum? Mag sein. Aber man spielt es seit es einem Jahrhundert.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Elbphilharmonie Magazin 2024 / 2 “Krieg und Frieden”, erschienen im April 2024. Illustration: Screenshot aus “Bikini” in “Three Tales – a documentary digital video opera” (1998-2002), Steve Reich (Musik), Beryl Korot (Video)