Zerbrochene Träume

Die Oper als Seismograph: Was an Madrids Teatro Real passiert, erzählt viel über ein Land in der Krise. Und darüber, wie man aus künstlerischen Erfolgen Stricke dreht. [aus DIE ZEIT vom 6.2.2014, hier neu ediert aus Anlass des 10. Todestags von Gerard Mortier am 8. März 2014]

Screenshot 2024-03-05 200256Tom Randle (li.) und Daniel Okulitch als schwules Liebespaar in der Opernfassung des Kinofilms “Brokeback Mountain” im Teatro Real in Madrid © Carlos Alvarez/​Getty Images

Die große Liebe, sie stört. Der Umsturz liegt in ihrer Natur. Die Liebenden selbst fürchten sich davor fast so sehr wie vor der Reaktion der anderen. “I ain’t no queer”, sagt Ennis Del Mar nach der ersten Nacht mit Jack Twist im Zelt, er sei nicht schwul. Da ist was dran. Wenn es zwischen zwei Cowboys in den Bergen von Wyoming so funkt wie einst zwischen Tristan und Isolde, geht es weniger um Sex als ums Fortgerissenwerden – und die Repression, mit der die Gesellschaft auf jegliche Grenzverletzung reagiert. Aber Grenzen können verschoben werden, in der Kunst sogar unmittelbar, vor aller Augen. Darum ist Gerard Mortier vor gut drei Jahren als Opernintendant nach Madrid gegangen.

Darum hat er jetzt Brokeback Mountain uraufgeführt und das Teatro Real im Herzen der spanischen Hauptstadt auch sonst zum Ort unbequemer Auseinandersetzungen gemacht. Mortier ist der Europäer schlechthin, vielsprachig, visionär. Seit über 30 Jahren ersinnt er Schocks und Konzepte, die das Musiktheater zwischen Brüssel und Paris gründlich erneuert haben. Nur in New York warf er 2008 das Handtuch, rechtzeitig: Die City Opera, mit der er der Met die Stirn bieten wollte, ging pleite. Als Souvenir blieb die bereits bestellte Oper Brokeback Mountain übrig. Die nahm er mit nach Madrid.

Der Mann, der stark genug war, Karajans Schatten aus Salzburg zu vertreiben, hält Theater für politisch. “Das haben die Spanier schon richtig verstanden”, sagt er sarkastisch am Telefon. Denn vor gut vier Monaten enthob die konservative Regierung den Belgier seines Postens – kurz nachdem seine Krebserkrankung bekannt geworden war, kurz nachdem er, frech wie immer, erklärt hatte, er sehe für seine Nachfolge keinen Spanier. Aber das ist nur die einfache Version einer Geschichte, die viel über ein kompliziertes Land erzählt.

Wäre Spanien tatsächlich erstarrt, dann hätte Charles Wuorinens Oper über zwei Männer, die ihre Liebe entdecken und verstecken, den Skandal auslösen müssen, den die Konservativen im Teatro Real befürchteten. Dann hätte nicht vor der Uraufführung ein zwar schmal gewordener, aber glänzend aufgelegter Mortier, faktisch noch Herr im Haus, vor Dutzenden internationalen und nationalen Medienvertretern der katholischen Kirche empfehlen können, besser ihre Probleme zu lösen als die Homosexualität zu geißeln – womit ihn El País prompt zitierte. Dann hätte nicht in der zweiten Vorstellung ein Publikum gejubelt, in dem von Pelzdamen bis Hipstern kaum eine Spezies fehlte.

Während sich hier das liberale Spanien versammelt und die Partitur des finnischen Amerikaners Charles Wuorinen ihren subtil machtvollen Sog entfaltet, zeigen die brutalen Sparmaßnahmen andernorts keineswegs nur die Wirkung, die jetzt Spaniens Banken aufatmen lässt. Mittelständler mit Hochschulabschluss sitzen auf der Straße, rund ums Opernhaus machen sich Akkordeon spielende Senioren die Plätze streitig. Jeder Vierte ist arbeitslos, und die Entscheidung, zehn Milliarden Euro in den Bereichen Bildung und Gesundheit zu sparen, hat im vorigen Jahr mehr als 46.000 Arbeitsplätze allein im Bildungssektor vernichtet. “Die spanische Katastrophe”, sagt der katalanische Opernregisseur Calixto Bieito, “ist eine der Bildung.”

Bieito, ein so radikaler wie erfolgreicher Psychorealist, ist in Basel zu erreichen – wie viele andere hat der 50-Jährige Spanien verlassen. Dort erlebte die Kultur, unter Francos Diktatur praktisch verwüstet, nach 1975 einen durchaus prekären Boom. “Die Demokratie hat uns europäisch und reich gemacht”, sagt die Konzertmanagerin Maria Goded, Jahrgang 1966, “aber wir sind mit dem Geld nicht gut umgegangen. Und die Kultur, vor allem die Musik, ist nicht ein so wichtiger Teil der Gesellschaft wie in Frankreich und Deutschland.” Seit das Geld knapp wurde, stehen viele Säle leer, außer im reichen Norden. Und die Opernhäuser erweisen sich nicht nur als Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern oft genug als deren erste Opfer.

Das traditionsreiche Liceu in Barcelona ist infolge der Kürzungen bankrott. Man spielt trotzdem weiter und hofft auf eine Lösung. Dagegen zeigt sich am 2005 eröffneten Opernhaus von Valencia ein anderer Grund der Krise – hemmungslose Steuerverschwendung. 400 Millionen Euro kostete der Renommieravantgarde-Bau des Architekten Santiago Calatrava. Wegen eines Dachschadens kann das Haus derzeit nicht bespielt werden, ohnehin fehlt der Region das Geld – sie ist hoch verschuldet und gilt als Paradies der Korruption. Eine weitere traurige Attraktion des Südens ist der Flughafen von Ciudad Real, für eine Milliarde Euro gebaut, mittlerweile leere Konkursfläche. “Der wird für 100 Millionen angeboten”, sagt Gerard Mortier, “also werden 900 Millionen verschenkt, während wir uns das Blut aus den Adern sparen.”

Screenshot 2024-03-05 200707Gerard Mortier, 25. November 1943 – 8. März 2014, im Jahr 2010 (Foto: dpa)

Am Teatro Real mit seinen 1800 Plätzen konnte nur die vermögende Stiftung des Hauses die jüngste Subventionskürzung von 28 auf 12 Millionen Euro auffangen – halbwegs, denn der Gesamtetat ist in drei Jahren um 14 auf 42 Millionen abgesackt. Münchens Nationaltheater hat mehr als das Doppelte und ist nicht halb so innovativ. Wer Brokeback Mountain in Madrid erlebt, muss hoffen, dass dieses Niveau gehalten wird – denn hier verbindet sich gesellschaftlicher Diskurs mit unabweisbarer Qualität. Die Oper, zu der Annie Proulx, Autorin der bitter klaren Short Story, selbst das Libretto geschrieben hat, ist besser als der Film.

Mit Kassenrekorden wurde dessen Regisseur Ang Lee dafür belohnt, dass er dass Verstörende und Elementare dieser Männerliebe in eine konventionelle Optik packte. Dem setzt der 75-jährige Komponist Charles Wuorinen nun keineswegs krasse Zuspitzungen entgegen, sondern eine aus Tendenzen der zwanziger Jahre weiterentwickelte organische Klangwelt. Im Schmerz glüht später Mahler auf, bei der Familienkrise assistiert neobarocker Strawinsky, es wozzeckt in der Kneipe, es gibt auch filmmusikalisch schwarze Tiefen mit Klavier und Kontrafagott.

Diese vermeintlich überholten Mittel bilden ein mitwanderndes Orchestergewebe, halb kristallin, halb vegetativ, in dem die kalte Kraft des Berges zu hören ist, die Weite, in der man Nähe sucht, das aber auch liebevoll die Stimmen trägt und viel über die beiden Männer und ihre Frauen erzählt. Regisseur Ivo van Hove und Bühnenbildner Jan Versweyveld arbeiten behutsam und genau. Mal Projektionen hinter karger Spielfläche, mal Möbel, starr sortiert wie im Einrichtungshaus, fürs triste Familienleben.

Das Zerbrechen des Gewohnten einerseits, das von Lebensträumen andererseits – die Ausweglosigkeit ist das Thema, mit dem dieses Werk der spanischen Gegenwart so schmerzhaft nahekommt. Für Gerard Mortier ist die Produktion ein Triumph, der erst recht die Frage aufwirft, warum man sich so brüsk von ihm trennte, um ihn dann, zum Berater degradiert, doch noch für ein Jahr zu behalten, und warum selbst der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, Vorsitzender des Opernrates in Madrid, nicht die Stimme erhob. “Er hat nicht mal gesagt, ich hoffe, es geht Ihnen gut”, meint der 70-Jährige und sieht einen Grund der spanischen Krise auch darin, “dass es Intellektuelle nicht wagen, sich zu äußern”. Spätestens mit einer Oper über die Ermordung Federico García Lorcas, Ainamadar von Osvaldo Golijov, dürfte er sich 2012 bei den Konservativen unbeliebt gemacht haben.

Wohl auch wegen seiner Homosexualität wurde der Dichter Lorca zu Beginn des Bürgerkrieges von Francos Leuten erschossen. Und als vierzig Jahre und viele Morde später die Diktatur endete, “versuchten wir, Frieden zu halten und die Vergangenheit zu vergessen”, sagt Calixto Bieito. Das funktionierte nicht, aber noch immer stößt jeder auf Widerstand, der eine Auseinandersetzung will. Mortier schwärmt von Deutschland: Hier habe man sich mit der Vergangenheit beschäftigt “wie nicht einmal die Franzosen”. Was könnten die Deutschen denn umgekehrt von den Spaniern lernen? “Zurzeit höchstens, wie man Bier aus Plastikeimern trinkt.” Nein, diplomatisch ist er wirklich nicht.

Sein Nachfolger und Bewunderer Joan Matabosch ist es dafür umso mehr. Noch Leiter des Liceu in Barcelona, steht der 52-Jährige bereits als “Director Artistico” im Programmheft des Teatro Real, sieht sich aber einstweilen nur als Assistent. Mortier sei der Chef, sooft es ihm die Behandlung seiner Krankheit erlaube. Und eben die habe im vorigen September Panik ausbrechen lassen, man habe das Schiff führerlos gesehen. “Es waren ein paar verrückte Tage, nach denen aber jeder wieder Vernunft annahm.” Als man ihn, Matabosch, anrief, habe er gleich gesagt: “Wenn Sie jemanden suchen, der genau das Gegenteil von Mortier macht, wie sein Nachfolger in Paris, dann komme ich nicht.” Der Geschmack des spanischen Publikums habe sich massiv gewandelt – man wolle das Regietheater.

Die Frage ist nur, ob eine Regierung überhaupt Kultur will, die für ebendiesen Bereich die Umsatzsteuer von 8 auf 21 Prozent erhöht hat, während Fußballfans wie Regierungschef Mariano Rajoy nur 10 Prozent zahlen. Da wird Matabosch in seinem Büro richtig laut. “Es ist lächerlich! Das hindert das Publikum daran, zu kommen, und 21 Prozent von einem leeren Platz sind – zero!” Leute freilich, die von der Krise in krasse Armut getrieben werden, wie Rafael Chirbes sie in seinem neuen Roman Am Ufer beschreibt, werden wohl niemals in die Oper gehen. Und auch jene nicht, denen Calixto Bieitos Mutter regelmäßig Essen aus dem Supermarkt holt. “Mit etwas so Teurem wie einem Opernhaus”, sagt die Managerin Maria Goded pragmatisch, “kann man keine Revolution machen.” Aber dort, gerade dort, wo Töne und Themen das Gemeinsame berühren, könnte eine Diskussion beginnen.

Als Ennis, Vater zweier Kinder, sich scheiden lässt, 20 Jahre nach der Nacht in den Bergen, macht sich Jack Hoffnungen. Können sie nicht eine Ranch aufmachen, zusammen leben? Ennis ist angststarr. In Wyoming sind Schwule umgebracht worden, als Junge hat er das gesehen. “Das ist doch lange her. Hat sich doch was geändert.” – “Nicht hier. Hier ändern sich die Dinge nie. Werden sie auch nie.” So bleibt die Liebe ungelebt, das Leben ohne Zukunft. Weil die, die am stärksten unter Druck sind, keine Bewegung wagen. Calixto Bieito sagt über sein Land: “Ich wundere mich, dass es keine Explosion gibt.” Vielleicht bewegt sich ja doch etwas. Die billigsten Kartenkategorien für alle weiteren Vorstellungen von Brokeback Mountain jedenfalls sind restlos ausverkauft.

Der Text erschien, geringfügig kürzer, am 6. 2. 14 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt

1. März 2024

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“Was hat ein Opernhaus mit diesem Kafka zu tun, der sich selbst als unmusikalisch bezeichnete?”, fragt Claus Spahn in seinem Beitrag über “das aufwändigste und experimentellste Musiktheater, das auf einen Stoff von Kafka geschrieben wurde”: Amerika, die 1966 unter Mißfallenskundgebungen des Publikums in Berlin uraufgeführte Oper von Roman Haubenstock-Ramati (1919-1994), nach Franz Kafkas nicht vollendetem gleichnamigem Roman. Im Magazin und auf der Website der Oper Zürich (Szenfoto oben: Herwig Prammer) findet man neben Spahns Essay einen nicht minder lesenswerten über die fiktiven – und doch nicht so fiktiven – USA des Franz Kafka und ihre Verbindung mit den Vereinigten Staaten unserer Tage. “Mit dem Bruch des Völkerrechts im Irakkrieg haben die USA ihre moralische Hegemonie verloren; ausgerechnet jenes Land, das Europa unter grössten Opfern von Hitler befreite, steht in den Augen der Welt als Heuchler da”, schreibt Thomas Assheuer, bis 2023 Redakteur im Feuilleton der ZEIT, zu deren klügsten Köpfen er nun als freier Autor zählt.

Kafkas Frauengestalten Klara und Therese werden in der Zürcher Produktion – die am Sonntag, 3. März Premiere hat – von Mojca Erdmann gesungen und gesprochen. Darüber (und über einiges andere) habe ich mich mit ihr unterhalten. Das Porträt ist – wie die schon genannten Texte und vieles mehr – auf der Amerika-Website der Oper Zürich zu finden, aber auch auf meiner; eine Interviewfassung ist seit Mittwoch bei VAN online zu lesen. Sie enthält als Video auch das Galgenlied aus dem höchstkarätig besetzten Pierrot Lunaire, den Mojca Erdmann 2021 mit Zubin Mehta, den Barenboims, Emmanuel Pahud und weiteren Musikern realisierte – ein fantastisches Schönberg-Konzentrat aus dem Lockdown, das in Gänze noch seiner Veröffentlichung harrt.

Am Ende noch ein Hörtipp in ganz anderer Richtung: Noch bis zum 14. Oktober ist auf Deutschlandfunk Kultur die Chopin-Sendung Warten, bis der Frühling kommt zu hören – fast zwei Stunden mit den Préludes op. 28, ihren Interpreten und ihren Entstehungsumständen. 2018 für die Reihe Interpretationen produziert, ist die Sendung nun wieder online und herunterladbar. Details und Playlist dazu findet man allerdings nur im Archiv des Senders, nämlich hier.

“Mich reizen Figuren mit einer größeren Fallhöhe”

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Mojca Erdmann, Wahlschweizerin aus Hamburg, singt Kafka in Zürich. Dort erzählt sie (nicht nur) von ihrer Doppelrolle in Haubenstock-Ramatis selten gespielter Kafka-Oper “Amerika”

«Haben Sie mal die Noten gesehen?» «Nein.» «Ich hab’ sie mitgebracht.» Mojca Erdmann holt im Café den Klavierauszug aus ihrer Tasche. Sofort zur Sache, nach Amerika, mitten hinein in diese irre Montage aus den 1960ern, nach der von Buhs, Gelächter und Handgemengen umtosten Uraufführung in Berlin bislang nur zwei Mal produziert, eine Herausforderung ohnegleichen. «Was ist das eigentlich?», habe sie sich gefragt, als sie die Noten zum ersten Mal sah. «Ich habe viel neue Musik gemacht, aber so etwas ist mir noch nicht untergekommen.» Wir blättern im Klavierauszug. Auf manchen Seiten stehen keine Noten, man sieht grafische Gebilde, Linien und Schraffuren zwischen den Taktstrichen, auf anderen gibt es Notenlinien, mal nur drei, auf denen ungefähre Höhen für Sprechgesang notiert sind, denen jählings Töne auf fünf Linien folgen können, ganz präzis, vom b eine grosse Septime runter zum h… Um die zu treffen, ist ein absolutes Gehör hilfreich, wie Mojca Erdmann es hat, aber allein damit kommt man nicht hinein in ein Werk wie die Amerika­-Oper von Roman Haubenstock­-Ramati nach Kafka. «Ich habe erstmal den Roman gelesen», meint die Sopranistin, «und da ich in Zürich wohne, konnte ich mich mit Michael Richter treffen, dem Studienleiter des Opernhauses, und die Noten mit ihm durchgehen.» In Blau hat sie die Passagen markiert, die sie live singt, in Rot die, die von ihrer Stimme aufgenommen und zugespielt werden, die Figur Klara singt mit sich selbst. Uff. Und was sind das für Charaktere, Klara und Therese?

«Klara ist im Grunde eine reiche Tochter, verwöhnt, brutal, sehr narzisstisch, wirklich das Gegenteil von Therese. Die ist ein Hilfsmädchen im Hotel Occidental, sehr schüchtern, sie erzählt Karl Rossmann ihre ganze Lebensgeschichte. Es ist interessant, diese verschiedenen Frauen schauspielerisch herauszuarbeiten.» Mojca Erdmann selbst hat keine der Eigenschaften, die sie da schildert. Sie wirkt alles andere als selbstbezogen, ohne Diva-­Allüren, vollkommen arbeitsorientiert, freundliche warme Stimme. Und wenn sie, im Gegenteil, so zurückhaltend wäre wie Therese, könnte sie schwerlich längst auf eine Bühnenkarriere zurückblicken, die so reich an Wagnissen ist.

Denn tintenfrische Partien lebender Komponisten zu gestalten, ist auch dann ein Wagnis, wenn diese Künstler so etabliert sind wie Wolfgang Rihm und Aribert Reimann, die beide – und nicht als einzige – für sie geschrieben haben, von Liedern bis zu ganzen Opern. Rihms Proserpina wurde 2009 in Schwetzingen vor allem deswegen ein Erfolg, weil die damals 33­-Jährige die Rolle der in einer antikischen Ehehölle gefesselten Heldin mit grandioser Präsenz und Selbstverausgabung realisierte. Mit der Opernfantasie Dionysos setzten beide 2010 die Zusammenarbeit in Salzburg fort, es wurde die «Uraufführung des Jahres». «Es ist schon toll, wenn man mit den Komponisten sprechen kann», meint sie. «In Dionysos gab es wenige Stellen, wo ich Wolfgang fragte: Kann man hier was ändern? – Ja, schlag mir was vor … wunderbar, machen wir so.» Nun könnte man ja denken, kein Wunder bei einer Sopranistin, die selbst die Tochter eines Komponisten ist, Helmut W. Erdmann aus Emden.

«Nein, durch meinen Vater gab es gar nicht so viel Einfluss, betreffend neue Musik. Er ist auch Flötist, und wir mussten immer leise sein, wenn er Flöte übte…» Sie lacht. Wichtiger war, dass sie schon als Sechsjährige bei den Hamburger Alsterspatzen mitsang, im Kinderchor auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper stand und das Reisen lieben lernte. Der Chor trat in Spanien, Japan, den USA auf, «mit zehn habe ich im Disneyland gesungen. Aber Singen war für mich Spass, ich wollte Geige studieren.» Dann riet ein Musiklehrer der 14­-Jährigen wegen ihrer schönen Stimme, sie solle doch mal Unterricht nehmen, und so wurde sie Schülerin der damals 27-­jährigen Evelyn Herlitzius, die dann eine der grossen dramatischen Sopranistinnen wurde. «Ab da war mir klar, dass die Stimme mein Instrument ist.» Geige studierte Mojca Erdmann aber trotzdem neben dem Gesang, zur Sicherheit. «Ich wusste durch meinen Vater, dass es nicht einfach ist, als Musiker zu überleben. Geige spielte ich auch schon, seit ich sechs war, und wusste, da kann ich als Orchestermusikerin oder Geigenlehrerin mein Geld verdienen. Ich wollte aber weg von zu Hause und habe in Köln vier Semester lang beides studiert.» Wieder Glück: Ihr Gesangsprofessor war Hans Sotin, legendärer Wagner-­Bass, der Gurnemanz schlechthin, und er riet der 21­-jährigen dringend zu, als sie mitten im Studium nach einem Vorsingen in Berlin das Angebot bekam, ins Ensemble der Komischen Oper zu gehen, mit Intendant und Regisseur Harry Kupfer.

«Das war für mich eine unglaublich wichtige Zeit, das Laufenlernen auf der Bühne, zwischen erfahrenen Kollegen. Wie es ist, im Betrieb einzuspringen, nach sechs Stunden Proben noch eine Vorstellung zu singen und dabei die Kräfte einzuteilen.» Von den kleineren Rollen, den Despinas und Ännchens, kam sie zu den grösseren, andere Häuser wurden auf sie aufmerksam. Kent Nagano holte die 29-­Jährige als Gast an die Staatsoper, wo er My way of life dirigierte, ein aus Fragmenten des verstorbenen Tōru Takemitsu gefügtes Musiktheater, «das war eine Collage, an die mich Amerika ein bisschen erinnert». Danach wagte sie den Sprung ins Freiberufliche – und später den nach Zürich. «Ich wollte nach einer Trennung ein neues Kapitel starten, nach elf Jahren in Berlin, und bin allein hierher gereist und habe eine Wohnung gesucht, während des Vulkanausbruchs auf Island. Das war unglaublich kompliziert, weil ich auch noch eine Vorstellung in Wien singen musste.» Die Aschewolken des Eyjafjallajökull legten bekanntlich den Flugverkehr im April 2010 lahm. Aber es klappte, sie fand eine Wohnung zwei Minuten vom See, «es war eine super Entscheidung».

Da sie außer im Winter täglich im See schwimmt, können auch die sportlichen Anforderungen der Amerika-­Inszenierung sie nicht schrecken. Es gibt Kampfszenen, in denen Kopfnüsse und Ohrfeigen genau sitzen müssen, Jiu­-Jitsu ist dabei, break dance, «und Bewegungsabläufe Richtung Tai­-Chi, es braucht viel Kontrolle, weil es sehr langsame Bewegungen sind, und dann das hohe C zu singen … da sind wir noch dran!» Dazu kommen noch die Finessen des Sprechgesangs. «Es ist spannend, mit Sebastian Baumgarten zu arbeiten, der vom Schauspiel kommt und anders mit Worten arbeitet. Man kann auch gegen den Text sprechen», Sebastian hatte so einen Beispielsatz: «Ich bring dich um!» Sie sagt ihn und lässt die letzte Silbe mal eben in die Höhe hüpfen. Ein irrer Effekt.

Fällt es ihr leicht, sich in die Kafka­-Figuren einzufühlen? «Ich kann schnell umdenken und mich nach einer Vorstellung sofort über völlig andere Dinge unterhalten. Natürlich wird man in eine Rolle immer etwas von seinem eigenen Erleben reinbringen. Das ist dann aber die Rolle und nicht Mojca» – übrigens wird der Name, auf ihre slowenische Mutter zurückgehend, wie «Moiza» ausgesprochen. Welche Rollen sind ihr am nächsten? «Figuren mit einer größeren Fallhöhe. Ich war nie ein grosser Fan von Zerlina und Despina. Ich mag Bergs Lulu und Vitellia in Mozarts La clemenza di Tito, die an den Rand ihrer Emotionen getrieben werden. In Hamburg habe ich letztes Jahr die Blanche in Poulencs Dialogues des Carmélites gesungen, das war schon sehr, sehr intensiv. Wenn da am Ende während des Chorals eine Nonne nach der anderen geköpft wird, gingen wir mit Tränen in den Augen auf die Bühne, zusammen ins Ende.» Ebenfalls sehr nah ist ihr die Salome, zu der ihr viele rieten. Ein konzertanter Auftritt mit dieser Partie entfiel wegen Corona. Dafür machte sie im Lockdown eine Aufnahme von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, mit Zubin Mehta am Pult, Daniel und Michael Barenboim und dem Flötisten Emmanuel Pahud. «Eine unglaubliche Atmosphäre», sagt Mojca Erdmann. «An den Umgang mit Sprechgesang in Pierrot Lunaire erinnert mich Amerika besonders.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien im MAG 109 der Oper Zürich, Februar 2024, ebenso auf der Website des Hauses. Die Premiere von Amerika ist am 3. März 2024, es dirigiert Gabriel Feltz, Sebastian Baumgarten inszeniert. Foto: Screenshot aus dem Video mit Schönbergs Pierrot Lunaire ((c) Helios Films/Pierre Boulez Saal), das 2021 in Berlin entstand. Ein Ausschnitt aus dieser noch nicht veröffentlichten Produktion ist im VAN-Interview mit Mojca Erdmann zu finden.