15. November 2024

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Sopranistin Esther Tschimpke singt “Meine Freundin, du bist schön” von Johann Christoph Bach (1642-1703) -  ein Screenshot aus dem Trailer, der am 23. Juni 2023 in der Elisabethkirche Langenhagen entstand. Das ist schon eine Weile her und erst recht ein Grund, es aufzurufen. Denn die Produktion mit Voktett Hannover und Concerto Ispirato, die die von mir gelesenen Passagen aus Bachs Welt musikalisch wahr machten, war viel zu gut, als dass man nicht für ein Reload Reklame machen müsste. Ganz dasselbe gilt für ein eng verwandtes, aber weiter gefasstes Projekt des Freiburger Ensemble Context. Von November 2021 bis Juli 2022 führte die vierteilige Serie “Bachs Welt” nach und nach aus den Lockdown-Restriktionen hinaus. “Krieg und Frieden”, “Hochzeit in Ohrdruf”, “Pest in Erfurt” und “Bach bricht auf” heißen die rund 70minütigen Lesungskonzerte. “Es ist alles drin, was eine gute Serie bieten muss”, schwärmte die Badische Zeitung, “ein Clan, Leidenschaft, Zeitgeschichte, Sex and Crime.”

And now for something quite different: Ausnahmsweise trete ich nächstens nicht zusammen mit Musikern auf, sondern als Gast eines Seminars. Es war die Idee des in Leipzig lebenden Komponisten Bernd Franke, den Autor ins Musikwissenschaftliche Institut der Universität Leipzig einzuladen, um über die Entstehung und Konzeption von Flammen (2022) zu sprechen – und auch, um sich dazu befragen zu lassen. Die Veranstaltung ist natürlich öffentlich – das Buch Flammen ist ja keine Doktorarbeit! Auch wenn es genug Themen für ein Dutzend davon enthält. Ort: Neumarkt 9-19 (ehem. Städtisches Kaufhaus), Aufgang E, Hörsaal 302. Zeit: Dienstag, 19. November 2024, 15 Uhr. Von Leipzig ins nahe Halle: Dort traf ich die Pianistin Ragna Schirmer, die in der umjubelten Zürcher Ballettproduktion Clara die Solistin (im Graben) ist und mir nicht nur über Clara Schumann viel Spannendes erzählte. Nachzulesen im Porträt wie auch im VAN-Interview. Heute übrigens ist Cathy Marstons Choreographie zum (hoffentlich nur vorerst) letzten Mal in Zürich zu erleben!

31. Oktober 2024

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Flankiert von “Idioten”: Bo Skovhus (Mitte) ist “Ich” in der Zürcher Produktion von Alfred Schnittkes Oper Leben mit einem Idioten. Auf dem Probenfoto sind es deren gleich zwei, nämlich Matthew Newlin (links) und sein Double Campbell Caspary. Bariton Bo Skovhus hat mir in Zürich nicht nur von den Herausforderungen dieser Partitur erzählt, auch über seinen Weg von Dänemark nach Wien, über Schuberts Winterreise und ein Fax von Wolfgang Rihm… Nachzulesen und mit Audiolink versehen ist das im neuen VAN, in kürzerer Fassung im MAG der Oper Zürich und hier.

Eine besonders aufwändige Produktion in der Reihe “Interpretationen” ist nun wieder für ein Jahr online. Am 13. Oktober 2024 wurde zum zweiten Mal gesendet, was vor zwei Jahren entstand – eine Sendung über die 1913er Mallarmé-Vertonungen von Debussy und Ravel und ihre Interpreten. Auf der Website von Deutschlandradio Kultur gibt es, anders als früher, keine Informationen dazu, um so mehr ist in meinem Blog vom 1. November 2022 zu lesen. Die betreffenden vier Gedichte von Stéphane Mallarmé werden von Céline Grillon exemplarisch gut gelesen – nebst den Übersetzungen. In die ganz anderen Welten von Bach, Tarkowsky und Pasolini führt eine Kolumne, die ebenfalls schon 2022 für VAN entstand und nun auch auf dieser Website zu lesen ist: Schweben mit Bach. Alle Folgen von “Rausch & Räson” seit 2017 sind bei VAN hier zu finden.

Jetzt breche ich gleich mal auf nach Hildesheim, endlich wieder die h-Moll-Messe spielen! Bernhard Römer leitet die St.-Andreas-Kantorei, und ein erstrangiges Solistenquartett ist angereist. Alex Potter ist einer der besten Countertenöre, die ich je gehört habe. Klug und sensibel gestaltend auf allen Ebenen, blühender Ton, unendlich nuancenreich geformt – da macht es einen Bratscher sogar froh, dass er im “Agnus Dei” nur zuhören darf. Weitere Glücksbringer sind Kerstin Dietl (Sopran), Andreas Post (Tenor) und Matthias Vieweg (Bariton), und Ulla Bundies konzertmeistert das Bach-Collegium St. Andreas.

Einer für die Zerrissenen

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Bariton Bo Skovhus im Zürcher Kantinengespräch über Schnittkes “Leben mit einem Idioten”, den Weg von Kopenhagen nach Wien, über Reifeprozesse und Rezitative und ein Fax von Wolfgang Rihm

Eines schönen kalten Morgens im Jahr 1987, zur Weihnachtszeit, klingelt in Kopenhagen das Telefon bei Bo Skovhus. Der junge Mann nimmt den Hörer ab, hört jemanden auf Deutsch reden, irgendetwas mit Oper und Wien, lacht und legt gleich wieder auf. „Ich war am Abend vorher mit meinen Freunden unterwegs gewesen und dachte, die machen sich einen Spaß mit mir.“ Das Telefon klingelt erneut. Dieselbe Stimme, diesmal spricht der Mann englisch. Die Volksoper Wien fragt an, ob er zum Vorsingen kommen möge. Sie suchen einen neuen Don Giovanni, ein unbeschriebenes Blatt. Sie zahlen alles, Flug, Hotel… „Ich war noch nie bei einem Vorsingen! Und ich hab´ da vorgesungen.“

So erzählt mir Bo Skovhus 37 Jahre später, wie es losging mit seiner Karriere. Wir sitzen in der Kantine der Oper Zürich, wo er die Partie des „Ich“ in Alfred Schnittkes Leben mit einem Idioten probt, weit, weit entfernt von jenem Beginn, der allerdings, wie Schnittkes letztes Werk, auch etwas Irreales hat, als Eingriff unberechenbarer Mächte. Aber der hatte natürlich eine Vorgeschichte. Skovhus, geboren im 10.000-Seelen-Städtchen Ikast, 250 Autokilometer und zwei Ostseebrücken weit entfernt von Kopenhagen, im Westen, war über Schulchor und Blasmusik zum Singen gekommen und schließlich, nach Überwinden elterlicher Vorbehalte, ans Opernstudio der dänischen Hauptstadt.

„Im Sommer dieses Jahres hatte ich eine Masterclass besucht, mit zwei tollen Sängern, Walter Berry und Sena Jurinac.“ Mit der serbischen Sopranlegende verstand sich der 25-jährige gut, „ich hab´ sie gefragt, was muss ich tun? Ich möchte weg aus Dänemark!“ Denn sehr viele Auftrittsmöglichkeiten boten die Häuser in Aarhus und Kopenhagen nicht. „Gib mir deine Telefonnummer.“ Und die wählte dann jemand in Wien, wo 1988 der junge Däne nach dem Vorsingen in die Direktion gebeten wurde. „Vierter Stock. Da stand an der Tür nur: Eberhard Wächter. Den Namen kannte ich.“ Wächter sang den Don Giovanni in der grandiosen Aufnahme mit Giulini, die der Student besaß. „Ich ging rein und fragte ihn, ob er auch gerade für Don Giovanni vorgesungen hätte.“

Wächter lachte schallend. Er war Ende 50 und nicht mehr Sänger, sondern Direktor der Volksoper. Er engagierte den jungen Bariton, „und wenn das schief gegangen wäre, dann wäre ich Arzt geworden.“ Es ging aber nicht schief. Der steile Aufstieg zu den großen Bühnen der Welt, der dann folgte, unterscheidet sich allerdings von vergleichbaren Karrieren in einem wichtigen Punkt. Skovhus interessiert sich, jenseits von Mozart bis Strauss, brennend auch für die Opern, die nicht zu den Kassenschlagern gehören (und doch oft das Potential dafür haben), deren Musiksprachen Dur und Moll und Kantilene hinter sich lassen und deren Helden oft alles andere als Helden sind – wie jener Wozzeck, mit dem ich Bo Skovhus zum ersten Mal erlebte. Bebend vor Präsenz, gefangen in Zwängen, alles wahr machend, was Peter Konwitschny in seiner – inzwischen legendären – Hamburger Inszenierung ersann. 1998 war das, aber weit weg ist es nicht.

„Es war immer die Frage, ist Wozzeck ein Mörder oder nicht? Die Gesellschaft zwingt ihn zu dieser Tat“, sagt Skovhus. „Da gibt es eine Parallele zum Leben mit einem Idioten. Wer begeht eigentlich den Mord an der Frau, wie kommt es dazu? Immer ist der Chor dabei und beobachtet und kommentiert, was in diesem Haus passiert und mit diesem eigentlich stinknormalen Paar. Plötzlich kommt eine dritte Person in diese Ehe, die alles auf den Kopf stellt.“ Das ist der „Idiot“, dem „Ich“ gegenübersteht, der Ehemann. „Ich habe irrsinnige Schwierigkeiten, mich da hineinzufinden“, gesteht Skovhus, „denn hier gibt´s keine Handlung, nur Bruchstücke. Da müssen wir schauen, dass wir´s irgendwie verbinden.“

Dazu kommt noch, dass Alfred Schnittke über Stimmen nicht viel wusste. „Er sagte selbst, ich habe eine Oper geschrieben, aber keine Ahnung davon. Das merkt man total. Wenn man die Aufnahme von der Uraufführung 1992 hört und die Noten anschaut – da stimmt gar nichts, so viel wurde geändert. Ich bin wohl der erste, der versucht, es so zu singen, wie es da steht. Ich habe eine sehr gute Höhe und komme da durch, manchmal im Falsett.“ Skovhus ist auch physisch der Mann für Himmelfahrtskommandos, groß und durchtrainiert, und er liebt zerrissene Gestalten wie etwa Aribert Reimanns Lear. „Ein unglaublich tolles Stück, das hält sich. Genau wie die Eroberung von Mexico von Rihm. Die haben beide so gut geschrieben!“ Ein Fax von Wolfgang Rihm hat er sich aufgehoben. „Ich sagte ihm bei den Proben in Salzburg, wenn ich so viel gesungen habe, komme ich am Schluss nicht mehr auf das tiefe Fis. Dann kam nach zwei Stunden ein Fax mit Noten. Er hatte die letzten vier Takte umkomponiert!“

Dass man sogar bei Mozart etwas umkomponieren darf, erlebte er mit Nikolaus Harnoncourt. „Er sagte, die Rezitative dürft gar nicht singen, nur sprechen! Aber für die Sängerin, die im Figaro den Cherubino gesungen hat, waren ein paar Töne zu hoch notiert, um sie natürlich zu sprechen. Dann oktavieren Sie´s, hat er gesagt. Das konnte nur er sich erlauben!“ Skovhus sang damals, 2006 in Salzburg, den Grafen. „Um die Rezitative kümmern sich heute nur noch wenige“, meint er. „Meist wird viel gestrichen, damit wir so schnell wie möglich wieder ,zur Musik‘ kommen, und das ist total falsch.“ Wie man Rezitative zum Leben bringt, das vermittelt Bo Skovhus nun selbst den jungen Sängern der Opernstudios etlicher Theater. Und dass es nicht nur um „schöne Töne“ geht.

Dabei ist er ziemlich gnadenlos mit dem jungen Sänger, der er selbst war. „Ich war noch nicht dreißig, als ich mit Helmut Deutsch Die schöne Müllerin aufgenommen habe. Als ich das später wieder hörte, dachte ich, das bin nicht ich, das muss die falsche CD sein! Es klang völlig belanglos. Vielleicht ganz nett und schön, aber ohne Charakter.“ An Schuberts Winterreise hat Bo Skovhus sich erst mit Fünfzig getraut. „Ich glaube, man muss etwas im Leben erlebt haben, um einen Zugang dazu zu finden.“ Inzwischen singt er diesen Zyklus öfters mit Akkordeon statt Klavier, nicht nur, weil das so gut zum Lied Der Leiermann passt. „Man kann es im Park machen, unter einem Baum, man hat die Freiheit, rauszukommen zu Leuten, die normalerweise nicht in ein Konzert gehen.“

Dass auch viele Leute normalerweise nicht in die Oper gehen, hält Skovhus vor allem für ein Geldproblem. „Es ist so teuer! Da haben sie in Wien eine gute Lösung. Es gibt in der Staatsoper 700 Stehplätze, die zwischen sieben und zehn Euro kosten. Das bringt schon viel, auch ein ganz anderes Publikum.“ Diese Stehplätze gab es schon, als er 1991 erstmals in diesem Haus auf der Bühne stand. Eberhard Wächter war sein Mentor, Korrepetitor, Freund und außerdem Staatsoperndirektor geworden und ließ ihn den Silvio im Bajazzo singen – neben Superstars wie Carreras und Capucilli. „Ich erinnere mich, als wir aus dem Bühneneingang kamen, lagen da die Leute auf ihren Matten. Sie warteten tagelang, um Stehplätze zu bekommen! Ein Riesending. Sowas gibt´s heute nicht mehr.“ Er lacht. „Jetzt rede ich von damals wie so´n Alter, furchtbar.“

Das „ch“ in „furchtbar“ spricht er im Rachen, wie ein Wiener. Tatsächlich ist Skovhus immer in Wien geblieben, er hat eine Wienerin geheiratet – und ist froh, dass seine Tochter Ärztin geworden ist und nicht auch Sängerin. „Es ist so schwer geworden für junge Sänger, wir haben es einfacher gehabt. Als ich anfing, war der Eiserne Vorhang noch unten, erst in den 90ern kamen die vielen guten Sänger aus dem Osten. Und die Plattenfirmen hatten noch Geld. Für die Lustige Witwe mit John Eliott Gardiner wurde vierzehn Tage lang der große Musikvereinssaal gemietet, für eine Stunde Musik! Wahnsinn. Heute ist man froh, wenn es überhaupt noch einen Livemitschnitt gibt.“ Aber die „unglaubliche Glut“ der Wiener, diese Kulturbesessenheit, die sei immer noch da.

Nostalgisch ist er gar nicht, eher unternehmungslustig und gespannt. Nach dem Leben mit einem Idioten in Zürich wartet in Berlin schon György Kurtágs Fin de partie auf ihn. „Kompliziert?“ Er lacht. „Nicht nach diesem hier!“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und zuerst erschienen im MAG 116 der Oper Zürich, Oktober 2024. Eine erweiterte Fassung ist zu lesen in VAN 466, 30.10.2024. Das Probenfoto von Monika Rittershaus zeigt Bo Skovhus als “Ich” flankiert von Matthew Newlin (links) und Campbell Caspary, beide in der Rolle des “Idioten”. Die Premiere von Alfred Schnittkes “Leben mit einem Idioten” findet am 3. November 2024 in Zürich statt. Es dirigiert Jonathan Stockhammer, Regie führt Kirill Serebrennikov.