Bariton Bo Skovhus im Zürcher Kantinengespräch über Schnittkes “Leben mit einem Idioten”, den Weg von Kopenhagen nach Wien, über Reifeprozesse und Rezitative und ein Fax von Wolfgang Rihm
Eines schönen kalten Morgens im Jahr 1987, zur Weihnachtszeit, klingelt in Kopenhagen das Telefon bei Bo Skovhus. Der junge Mann nimmt den Hörer ab, hört jemanden auf Deutsch reden, irgendetwas mit Oper und Wien, lacht und legt gleich wieder auf. „Ich war am Abend vorher mit meinen Freunden unterwegs gewesen und dachte, die machen sich einen Spaß mit mir.“ Das Telefon klingelt erneut. Dieselbe Stimme, diesmal spricht der Mann englisch. Die Volksoper Wien fragt an, ob er zum Vorsingen kommen möge. Sie suchen einen neuen Don Giovanni, ein unbeschriebenes Blatt. Sie zahlen alles, Flug, Hotel… „Ich war noch nie bei einem Vorsingen! Und ich hab´ da vorgesungen.“
So erzählt mir Bo Skovhus 37 Jahre später, wie es losging mit seiner Karriere. Wir sitzen in der Kantine der Oper Zürich, wo er die Partie des „Ich“ in Alfred Schnittkes Leben mit einem Idioten probt, weit, weit entfernt von jenem Beginn, der allerdings, wie Schnittkes letztes Werk, auch etwas Irreales hat, als Eingriff unberechenbarer Mächte. Aber der hatte natürlich eine Vorgeschichte. Skovhus, geboren im 10.000-Seelen-Städtchen Ikast, 250 Autokilometer und zwei Ostseebrücken weit entfernt von Kopenhagen, im Westen, war über Schulchor und Blasmusik zum Singen gekommen und schließlich, nach Überwinden elterlicher Vorbehalte, ans Opernstudio der dänischen Hauptstadt.
„Im Sommer dieses Jahres hatte ich eine Masterclass besucht, mit zwei tollen Sängern, Walter Berry und Sena Jurinac.“ Mit der serbischen Sopranlegende verstand sich der 25-jährige gut, „ich hab´ sie gefragt, was muss ich tun? Ich möchte weg aus Dänemark!“ Denn sehr viele Auftrittsmöglichkeiten boten die Häuser in Aarhus und Kopenhagen nicht. „Gib mir deine Telefonnummer.“ Und die wählte dann jemand in Wien, wo 1988 der junge Däne nach dem Vorsingen in die Direktion gebeten wurde. „Vierter Stock. Da stand an der Tür nur: Eberhard Wächter. Den Namen kannte ich.“ Wächter sang den Don Giovanni in der grandiosen Aufnahme mit Giulini, die der Student besaß. „Ich ging rein und fragte ihn, ob er auch gerade für Don Giovanni vorgesungen hätte.“
Wächter lachte schallend. Er war Ende 50 und nicht mehr Sänger, sondern Direktor der Volksoper. Er engagierte den jungen Bariton, „und wenn das schief gegangen wäre, dann wäre ich Arzt geworden.“ Es ging aber nicht schief. Der steile Aufstieg zu den großen Bühnen der Welt, der dann folgte, unterscheidet sich allerdings von vergleichbaren Karrieren in einem wichtigen Punkt. Skovhus interessiert sich, jenseits von Mozart bis Strauss, brennend auch für die Opern, die nicht zu den Kassenschlagern gehören (und doch oft das Potential dafür haben), deren Musiksprachen Dur und Moll und Kantilene hinter sich lassen und deren Helden oft alles andere als Helden sind – wie jener Wozzeck, mit dem ich Bo Skovhus zum ersten Mal erlebte. Bebend vor Präsenz, gefangen in Zwängen, alles wahr machend, was Peter Konwitschny in seiner – inzwischen legendären – Hamburger Inszenierung ersann. 1998 war das, aber weit weg ist es nicht.
„Es war immer die Frage, ist Wozzeck ein Mörder oder nicht? Die Gesellschaft zwingt ihn zu dieser Tat“, sagt Skovhus. „Da gibt es eine Parallele zum Leben mit einem Idioten. Wer begeht eigentlich den Mord an der Frau, wie kommt es dazu? Immer ist der Chor dabei und beobachtet und kommentiert, was in diesem Haus passiert und mit diesem eigentlich stinknormalen Paar. Plötzlich kommt eine dritte Person in diese Ehe, die alles auf den Kopf stellt.“ Das ist der „Idiot“, dem „Ich“ gegenübersteht, der Ehemann. „Ich habe irrsinnige Schwierigkeiten, mich da hineinzufinden“, gesteht Skovhus, „denn hier gibt´s keine Handlung, nur Bruchstücke. Da müssen wir schauen, dass wir´s irgendwie verbinden.“
Dazu kommt noch, dass Alfred Schnittke über Stimmen nicht viel wusste. „Er sagte selbst, ich habe eine Oper geschrieben, aber keine Ahnung davon. Das merkt man total. Wenn man die Aufnahme von der Uraufführung 1992 hört und die Noten anschaut – da stimmt gar nichts, so viel wurde geändert. Ich bin wohl der erste, der versucht, es so zu singen, wie es da steht. Ich habe eine sehr gute Höhe und komme da durch, manchmal im Falsett.“ Skovhus ist auch physisch der Mann für Himmelfahrtskommandos, groß und durchtrainiert, und er liebt zerrissene Gestalten wie etwa Aribert Reimanns Lear. „Ein unglaublich tolles Stück, das hält sich. Genau wie die Eroberung von Mexico von Rihm. Die haben beide so gut geschrieben!“ Ein Fax von Wolfgang Rihm hat er sich aufgehoben. „Ich sagte ihm bei den Proben in Salzburg, wenn ich so viel gesungen habe, komme ich am Schluss nicht mehr auf das tiefe Fis. Dann kam nach zwei Stunden ein Fax mit Noten. Er hatte die letzten vier Takte umkomponiert!“
Dass man sogar bei Mozart etwas umkomponieren darf, erlebte er mit Nikolaus Harnoncourt. „Er sagte, die Rezitative dürft gar nicht singen, nur sprechen! Aber für die Sängerin, die im Figaro den Cherubino gesungen hat, waren ein paar Töne zu hoch notiert, um sie natürlich zu sprechen. Dann oktavieren Sie´s, hat er gesagt. Das konnte nur er sich erlauben!“ Skovhus sang damals, 2006 in Salzburg, den Grafen. „Um die Rezitative kümmern sich heute nur noch wenige“, meint er. „Meist wird viel gestrichen, damit wir so schnell wie möglich wieder ,zur Musik‘ kommen, und das ist total falsch.“ Wie man Rezitative zum Leben bringt, das vermittelt Bo Skovhus nun selbst den jungen Sängern der Opernstudios etlicher Theater. Und dass es nicht nur um „schöne Töne“ geht.
Dabei ist er ziemlich gnadenlos mit dem jungen Sänger, der er selbst war. „Ich war noch nicht dreißig, als ich mit Helmut Deutsch Die schöne Müllerin aufgenommen habe. Als ich das später wieder hörte, dachte ich, das bin nicht ich, das muss die falsche CD sein! Es klang völlig belanglos. Vielleicht ganz nett und schön, aber ohne Charakter.“ An Schuberts Winterreise hat Bo Skovhus sich erst mit Fünfzig getraut. „Ich glaube, man muss etwas im Leben erlebt haben, um einen Zugang dazu zu finden.“ Inzwischen singt er diesen Zyklus öfters mit Akkordeon statt Klavier, nicht nur, weil das so gut zum Lied Der Leiermann passt. „Man kann es im Park machen, unter einem Baum, man hat die Freiheit, rauszukommen zu Leuten, die normalerweise nicht in ein Konzert gehen.“
Dass auch viele Leute normalerweise nicht in die Oper gehen, hält Skovhus vor allem für ein Geldproblem. „Es ist so teuer! Da haben sie in Wien eine gute Lösung. Es gibt in der Staatsoper 700 Stehplätze, die zwischen sieben und zehn Euro kosten. Das bringt schon viel, auch ein ganz anderes Publikum.“ Diese Stehplätze gab es schon, als er 1991 erstmals in diesem Haus auf der Bühne stand. Eberhard Wächter war sein Mentor, Korrepetitor, Freund und außerdem Staatsoperndirektor geworden und ließ ihn den Silvio im Bajazzo singen – neben Superstars wie Carreras und Capucilli. „Ich erinnere mich, als wir aus dem Bühneneingang kamen, lagen da die Leute auf ihren Matten. Sie warteten tagelang, um Stehplätze zu bekommen! Ein Riesending. Sowas gibt´s heute nicht mehr.“ Er lacht. „Jetzt rede ich von damals wie so´n Alter, furchtbar.“
Das „ch“ in „furchtbar“ spricht er im Rachen, wie ein Wiener. Tatsächlich ist Skovhus immer in Wien geblieben, er hat eine Wienerin geheiratet – und ist froh, dass seine Tochter Ärztin geworden ist und nicht auch Sängerin. „Es ist so schwer geworden für junge Sänger, wir haben es einfacher gehabt. Als ich anfing, war der Eiserne Vorhang noch unten, erst in den 90ern kamen die vielen guten Sänger aus dem Osten. Und die Plattenfirmen hatten noch Geld. Für die Lustige Witwe mit John Eliott Gardiner wurde vierzehn Tage lang der große Musikvereinssaal gemietet, für eine Stunde Musik! Wahnsinn. Heute ist man froh, wenn es überhaupt noch einen Livemitschnitt gibt.“ Aber die „unglaubliche Glut“ der Wiener, diese Kulturbesessenheit, die sei immer noch da.
Nostalgisch ist er gar nicht, eher unternehmungslustig und gespannt. Nach dem Leben mit einem Idioten in Zürich wartet in Berlin schon György Kurtágs Fin de partie auf ihn. „Kompliziert?“ Er lacht. „Nicht nach diesem hier!“
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und zuerst erschienen im MAG 116 der Oper Zürich, Oktober 2024. Eine erweiterte Fassung ist zu lesen in VAN 466, 30.10.2024. Das Probenfoto von Monika Rittershaus zeigt Bo Skovhus als “Ich” flankiert von Matthew Newlin (links) und Campbell Caspary, beide in der Rolle des “Idioten”. Die Premiere von Alfred Schnittkes “Leben mit einem Idioten” findet am 3. November 2024 in Zürich statt. Es dirigiert Jonathan Stockhammer, Regie führt Kirill Serebrennikov.