120 Fahrten mit vier Podesten und was ein Inspizient noch alles hinkriegen muss: Felix Bierich erzählt, was er hinter der Bühne macht
Seine Stimme habe ich sicher schon oft gehört, in der Cafeteria des Zürcher Opernhauses, über die Gespräche und das Tassenklirren hinweg aus dem Lautsprecher kommend, den Chor zum Einsatz bittend, oder die Musiker, freundlich und unerbittlich und minutengenau zur Arbeit aufrufend. Aber anders als sie verband ich niemanden mit dieser Stimme. Irgendwer muss diese Ansagen ja machen… Naja, es ist nicht irgendwer. Es ist der, bei dem sämtliche Fäden einer Produktion zusammenlaufen, während er in einer Ecke hinter der Bühne an einem Pult mit Monitoren und Knöpfen steht, mit Headset und Klavierauszug versehen, und nicht nur minutengenau, sondern auf Sekunden und auf Millimeter genau die Koordination sichert, auch und gerade dann, wenn das Schiff auf hoher See ist, in der Vorstellung. Der Inspizient.
Aber jetzt sitzt Felix Bierich gerade gemütlich in der Wohnküche seiner Familie und gibt mir Nachhilfe per Fernstudium. Mit Zoom umgehen wir den aktuellen Bahnstreik, und Herrn Bierich merkt man an, wieviel er in seinem Job ohnehin über Mikro und mit Technik kommuniziert. Er ist ganz da und sehr entspannt. Pullover, Bart, Lachfältchen, klare baritonale Stimme. Er hat, wie sich erweisen wird, als Schauspieler begonnen, aber den Job in Zürich macht er seit 20 Jahren, einer von fünf Inspizient:innen des Hauses. Das Wort ist dem «Inspektor» nicht fern und klingt nach einem, der die Einhaltung von Regeln beaufsichtigt – was er im Theater des 18. Jahrhunderts auch tat. «Das englische ‹stage manager› trifft es ein bisschen besser», meint er, «man ist Pilot des Abends».
Nur ist dieser Pilot für Außenstehende «möglichst nicht wahrnehmbar», auffallen würde er nämlich erst, wenn etwas schiefgeht. Und wenn Felix Bierich erzählt, was beim anstehenden Rheingold die «challenge» ist – er teilt sich den kompletten Ring mit einer Kollegin, die die mittleren beiden Abende übernimmt –, sieht man ein reiches Potential für Pannen vor sich. «Rheingold hat etwa 30 Fahrten mit der Scheibe. Da sind vier Viertel als Räume auf der Scheibe aufgeteilt, es gibt zwei komplette Ausstattungen für das Wohnzimmer in Walhall, dazwischen ist möglicherweise mal das Bild mit dem Stuhl, das dreht nach links raus, von rechts kommt aber schon wieder das Mobiliar angefahren, und das zweite Wohnzimmer wird hinten in kurzer Frist von der Bühne gewuchtet, weil da schon wieder Nibelheim aufgebaut wird…»
Die Bewegung der Drehscheibe ist vom Tempo des Dirigenten abhängig, den der Inspizient auf einem Monitor sieht, «manchmal kann es plötzlich viel schneller oder langsamer sein», und so sagt Bierich dem steuernden Maschinisten neben sich «plus» oder «minus», während er zugleich per Knopfdruck Zeichen für die Auftritte gibt: Pünktlich müssen die Sängerinnen und Sänger in die Räume gestellt werden. Per Funk sorgt er dafür, dass auf der Bühne im richtigen Moment eine Tür auf- und zugemacht wird. Immer wieder schaut er in seinen mit Anmerkungen übersäten Klavierauszug. «Es wird nervenaufreibend, wenn man bei Wagner nicht am Notentext bleibt.» Und zwischen all den Einzelaktionen muss er noch ein Gespür für den «Flow» des Ganzen entwickeln, «dass man merkt, wo geht das hin? Das Feingefühl für das Timing innerhalb des Stückes hängt unmittelbar mit Stimmung und Puls des Dirigenten zusammen und mit den Sängerinnen und Sängern, wie die drauf sind.»
Mir schwirrt schon der Kopf, und dabei erzählt Felix Bierich wirklich entspannt von all den «Vorgängen», die er da koordinieren muss. Er hat jetzt etwas Ruhe nach dem «Rausch», wie er das nennt, der letzten Wochen und Monate, als er nacheinander die Wiederaufnahmen des Tanzstücks Nachtträume, des Musicals Sweeney Todd, der Italienerin in Algier und schliesslich die Pioniertat Amerika auf Kurs hielt. Ehe ich ihn fragen kann, wie er mit dem Stress umgeht, sagt er selbst, «irgendwann dachte ich, es ist immer irgendwie aufregend, ob mir das nicht irgendwann aufs Herz schlägt? Aber zugleich wurde die Routine größer.» Und eine besondere Gabe hat er schon am Anfang seiner Inspizientenlaufbahn entdeckt: «Dass ich ruhiger werde, wenn die anderen nervöser werden.»
Zur Bühne hat es Felix Bierich aber noch früher gezogen. 1964 in Hamburg geboren als Sohn eines Kinderarztes und einer Sportgymnastik-Trainerin, die nach Tübingen zogen, als er vier Jahre alt war, wollte Felix mit sechzehn Jahren Tanz studieren und wusste, «wenn das nicht klappt, werde ich Schauspieler». Den Tanzaspiranten lehnte die Kölner Hochschule ab, der Theaterhungrige fand – nach Abitur, Bundeswehr und nachträglicher Kriegsdienstverweigerung – einen Platz an der Schauspielschule in Saarbrücken, lernte dort umgehend seine Frau kennen, und mit einem Umweg über die Frankfurter Off-Szene landeten die beiden 1990 im thüringischen Altenburg, noch vor dem offiziellen Ende der DDR, und machten dort Theater mit Kindern und Jugendlichen.
«Mir kam dann die Idee mit der Regie, und ich habe in Bayreuth angeklopft», sagt Felix Bierich, der mit acht Jahren Klavierunterricht bekommen hatte und keine Sorge haben musste, «in der Prügelfuge der Meistersinger rauszufliegen». Tatsächlich durfte er dem 77-jährigen Wolfgang Wagner beim Inszenieren dieses Stücks assistieren, «mit seiner Tochter Katharina, die noch in der Schule war». 1997 wurde er Hospitant von Harry Kupfer, dem Intendanten der Komischen Oper Berlin. «Da fragte der Inspizient, ob Kupfer nicht einen von seinen sieben Hospitanten abstellen könnte als Helfer für Pique Dame.» Für Tschaikowskis Dreiakter gab es einen gigantischen Spieltisch, «mit fünf Elementen, bis zu acht Meter lang, die man rausfahren konnte, und diese Fahrten konnte der Inspizient nicht immer selbst steuern… Das habe ich gemacht und dabei gelernt, was ein Inspizient an Timing draufhaben muss, und war schon angefressen, als er fragte, ob ich mir vorstellen könnte, das als Beruf zu machen…»
Ein Traumberuf ist es natürlich nicht dauernd. «Mit manchen Künstlerinnen und Künstlern arbeitet man gern und freut sich, wenn sie wiederkommen, bei manchen freut man sich, dass das Projekt beendet ist… Es muss reichen, wenn ich das schaffe, was als Aufgabe an mich gestellt ist, dass alle zufrieden sind. Es gibt Künstler, die mit wenigen Mitteln erstaunliche Dinge hinkriegen, und andere erreichen mit grossem Trara nicht den kleinsten Effekt.» Bei der jüngsten Produktion Amerika freut es ihn besonders, «dass sie diesen Flow gekriegt hat», denn durch die teils grafische Notation und die Bandzuspielungen war die Koordination dieser Oper von Roman Haubenstock-Ramati eine enorme Herausforderung. Ein «Höllenritt» sei aber Sweeney Todd, «da habe ich 120 Fahrten mit vier Podesten, und dreimal kippt dieser Stuhl», also der Frisierstuhl, aus dem die Opfer des blutrünstigen Barbiers in die Tiefe rutschen, «und es muss so angeordnet sein, dass keiner tief auf die Unterbühne stürzt… das treibt den Puls hoch!» Er lacht, und Snowy bellt, der kleine weiße Hund, der bis dahin brav dem Interview gelauscht hat.
So viel Aufwand für Illusionen, während fürs Kino ganze Katastrophen am Bildschirm entstehen, ohne dass auch nur ein echtes Steinchen aus der Wand fällt! «Unser Sohn macht diese Katastrophen. Er wird 22 und studiert in Luzern Filmanimation. Er ist wohl doch angefressen vom Theatralischen.» Und nicht nur er. Die älteste Tochter von Felix und Sabine Bierich arbeitet selbst schon als Inspizientin in Zürich, und die jüngere studiert Musiktheaterregie in Hamburg.
«Ich denke, dass es immer noch etwas hat, die Bühnenluft, das unmittelbare Erleben, bei dem auch was schiefgehen kann.» Besonders die Sängerinnen und Sänger sind ihm dabei nahe. «Bevor sie auf die Bühne gehen, sind sie in einer besonderen Lage. Sie bringen die Potenz der nächsten Szene mit sich, sie sind wie auf einer Abschussrampe, und ich bin mit der letzte, der ihnen davor begegnet. Manchmal kann man da noch Mut machen. Oder nur bestätigen, dass sie auf dem richtigen Weg sind.» Und damit sie schon in der Garderobe gute Laune haben, erfolgt der Bühnenruf des Inspizienten, soweit er das hinkriegt, in der Muttersprache der Solisten: «Signora Bartoli sul palcoscenico, per favore!»
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien zuerst im MAG 110 der Oper Zürich, April 2024, sowie auf der Website des Hauses. Das Foto ist ein bearbeiteter Screenshot aus dem Zoomgespräch mit Felix Bierich.