5. März 2022

> Es ist nicht einfach, in der jetzigen Situation der Welt mit guter Energie die Projekte weiter zu betreiben, die zum eigenen Metier gehören. Es hat aber keinen Sinn, gelähmt vor Sorge nicht für sie einzustehen. Noch weniger, wenn es bei so einem Projekt um existentielle Erfahrungen des Ausgeliefertseins, der allgegenwärtigen Lebensgefährdung von Menschen anderer, früherer Zeiten geht wie denen des 17. Jahrhunderts. Mit der Pest in Erfurt befasst sich am kommenden Sonntag das Freiburger Ensemble Context im dritten Teil der Serie Bachs Welt – eine Lesung mit Musik der Vorfahren J.S. Bachs, am 13. März um 18 Uhr, Auferstehungskirche in Freiburg-Littenweiler.

pestzettel

Die letzte große Pestepidemie in Thüringen, vom Juni 1682 bis zum Dezember 1683, ließ von 16.300 Einwohnern der Stadt Erfurt nur etwa 6000 am Leben. Mit Vordrucken wie dem hier gezeigten wollte das Collegium Sanitatis Übertreibungen hinsichtlich der Sterbezahlen entgegentreten – aber die waren so hoch, dass keiner dieser Zettel ausgefüllt wurde. Mehr als 40 Prozent der Opfer waren Kinder, darunter fünf Kinder der Familie Bach, die insgesamt elf Angehörige verlor in dieser Zeit. Die Menschen der Epoche, stets mitten im Leben vom Tod umfangen, Krankheiten, Kriegen, früher Sterblichkeit ausgesetzt, waren tief gläubig. Ihre Sakralmusik findet für die Gewissheit eines besseren Lebens nach dem Tod Töne von berührender Innigkeit: „Ach wie sehnlich wart ich auf dich, o komm und hole mich“ – so wird die Sehnsucht nach Jesus in einer Strophenarie von Johann Michael Bach formuliert, einem der Stücke, die das Ensemble Context im Rahmen der Lesung aufführen wird.

Dieses Ensemble ist vielleicht das erste, das eines Buches wegen ins Leben gerufen wurde. Die Geigerin Bettina Van Roosebeke, Mitglied des renommierten Balthasar-Neumann-Ensembles, entwickelte nach Lektüre von Bachs Welt den Plan, Bachs Vorfahren – und am Ende auch dem jungen Johann Sebastian – mit deren Musik (und der weiterer Zeitgenossen) und Texten aus dem Buch durch das ganze 17. Jahrhundert zu folgen. Für die mit mir als Autor zusammen konzipierte Reihe von vier Veranstaltungen rief sie exzellente Sänger und Instrumentalisten zusammen.

Annika Kirschke schrieb am 18. Januar 2022 in der Badischen Zeitung: „Es wird mit Leichtigkeit virtuos, präzise, mit Leidenschaft musiziert. Die Auswahl der Stücke ist bezaubernd, die Texte sind wunderbar.“ Da freilich ging es weder um die Pest noch, wie im ersten Teil, um den Krieg, sondern um eine Hochzeit als großes Bach´sches Familientreffen – Kirschke verglich den Abend mit einer Zeitreise und einem Serienformat zugleich: „Es ist alles drin, was eine gute Serie bieten muss: ein Clan, Leidenschaft, Zeitgeschichte, Sex and Crime.“

Einige der Hochzeitsgäste von 1679 findet man drei Jahre später in Erfurt (und am kommenden Sonntag in Freiburg) in weitaus weniger fröhlichen Umständen. Man begreift dabei erst recht, welcher Not ein Chorlied wie „Es ist nun aus mit meinem Leben“ von Johann Christoph Bach entgegengeschrieben ist, einem Cousin von Johann Sebastian Bachs Vater Ambrosius.

Mein Buch „Flammen – Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918“ entstand in anderen Welt als der, in der es im April erscheinen wird. Bei der Arbeit an den letzten beiden Kapiteln, die vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis in die Ostertage 1918 führen, tröstete mich oft der Gedanke, dass in Europa solches Grauen, Töten, Sterben nicht mehr zu befürchten sei.

Was tröstlich bleibt, ist, dass damals selbst in völlig polarisierter Situation nicht alle den Verstand verloren – etwa Maurice Ravel. “Patriot” war er durchaus. Gleich nach Kriegsbeginn hatte der 39jährige zur Armee gewollt, war als zu klein abgewiesen worden und ließ sich stattdessen freiwillig als militärischer LKW-Fahrer bei Verdun einsetzen. Als aber 1916 (in dem Jahr entstand das Foto von Ravel mit Helm) die „Liga zur Verteidigung der französischen Musik“ ein Aufführungsverbot zeitgenössischer Musik aus Deutschland und Österreich forderte, antwortete der Komponist: „Es bedeutet mir wenig, dass Herr Schönberg, zum Beispiel, österreichischer Nationalität ist. Er ist darum nicht weniger ein Musiker von hohem Verdienst (…).“ Die musikalische Kunst Frankreichs habe von den Anregungen ausländischer Zeitgenossen stets profitiert.

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Es gibt Anlass, an Ravels in jeder Hinsicht offene Worte zu denken. Im Jahr 2022 sieht sich der ZEIT-Autor Florian Zinnecker (Feuilleton vom 2. März) zur Frage veranlasst: „Soll es ein Moratorium für russische Musik geben?“ Darauf hat ihm Wladimir Jurowski geantwortet, der als in Moskau aufgewachsener Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin gerade Tschaikowskys Fünfte dirigiert hatte: „Das wäre für mich der Beginn eines neuen Weltkriegs. Xenophobie scheint immer die einfachste Lösung zu sein – und die schlechteste. Kauft nicht beim Juden, kauft nicht beim Deutschen, schmeißt die Franzosen raus. Wir kennen das alles. Wir haben das alles durch.“ Ich wünsche mir sehr, dass alle das „durch“ haben.