“Dieses Risiko liebe ich unendlich”

März 2022: Ein Treffen mit Peter Rundel, der vom Geiger im Ensemble Modern zu einem der besten Dirigenten neuer Musik wurde und in Zürich die Uraufführung der Oper Girl with a Pearl Earring vorbereitet

Immer wieder ein Crescendo und Decrescendo, Rasseln und Rappeln von Rädern auf schmalspurigen Schienen und Weichen, Signaltöne dazu, voller Varianten. An dieser Ecke des Sechseläutenplatzes kreuzen und bündeln sich gleich fünf Tramlinien, so dass wir gleichsam im Klang des Transits sitzen, draußen vor der Brasserie. Das passt bei einem Musiker, der so viel unterwegs ist wie Peter Rundel, der in seinem Leben mehr als einmal das Gleis wechselte und dem nur ein Gleis sowieso zu wenig wäre. Der vor zwei Tagen noch in Porto war, um dort, wo er auch lebt, sein Ensemble für neue Musik zu leiten, und heute mit der Philharmonia Zürich zum ersten Mal die Partitur von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring erkundet hat.

Und der noch Geiger war, als wir uns, im vorigen Jahrhundert, knapp verpassten. Peter Rundel verliess die Musikhochschule Hannover gerade, als ich dort zu studieren anfing. Da hatte er allerdings schon einen weiten Weg vom Bodensee bis nach New York hinter sich. Hannover war die letzte Station, «ehe ich ins Ensemble Modern reingerutscht bin, und das hat meinen weiteren Lebensweg bestimmt.» Er blinzelt in die Spätnachmittagssonne, energisch, gespannt, nicht ungeduldig, obwohl in den dicken Partituren auf dem Schemel neben ihm noch viel Probenarbeit wartet, auch gleich nach unserem Treffen.

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Rundel gilt als einer der besten Dirigenten für neue Musik. Aber die war es gar nicht, die ihn als 25-Jährigen zum jungen Ensemble Modern brachte, sondern dessen Arbeitsweise. «Ich wollte alles, nur nicht ins Orchester», sagt er. «Das Orchester als sozialer Körper hat mich damals geängstigt mit den hierarchischen Strukturen. Kammermusik als Arbeitsweise war mein Ideal, und das habe ich beim Ensemble Modern in einer Form verwirklicht gefunden, die ich mir nicht erträumt hätte, in höchstem Masse freundschaftlich, professionell, engagiert. Viele dort waren wie ich Greenhorns, mit dem Anspruch, dieses Gebiet der neuen Musik nach und nach zu erobern. Dann gleich mit tollen Dirigenten, interessanten Komponisten zusammenzuarbeiten, das war so kreativ!»

Es weitete den Horizont so, dass er sich um die Dreißig herum fragte: «War’s das jetzt?» Er lacht. «Ich war quasi etabliert als Geiger und fühlte mich richtig wohl, auch mit der Musik, aber ich begann parallel, ein Dirigierstudium anzufangen. Ich bin ein Späteinsteiger, was das betrifft, und es wäre an meinen mangelnden Klavierkenntnissen fast gescheitert. Aber ich habe mich immer schon wahnsinnig gern mit Partituren beschäftigt.» Das geht auf eine keineswegs luxuriöse Kindheit zurück, auf seinen Vater, einen Bauernsohn am Bodensee, der sich selbst und seinen vier Kindern das Blockflötenspiel beibrachte «und mit einem autodidaktischen System, das etwas krude war, aber unheimlich effektiv, das Lesen von Musik. Das war ganz schnell da.»

Da setzte auch Rundels erster und wichtigster Dirigierlehrer an, Michael Gielen. «Das Dirigierhandwerk hat ihn überhaupt nicht interessiert. Was wir da gemacht haben, war Analyse. Wir sassen stundenlang über Partituren von Mozart, Schumann, Brahms. Seine Überzeugung war: ‹Wenn ihr nicht wisst, wie das gemacht ist, braucht ihr gar nicht erst den Taktstock zu heben.›» Zugleich hat ihn Gielen als Vollblutmusiker beeindruckt. «Der hat sich ans Klavier gesetzt, La bohème gespielt, alle Partien gesungen und, während er spielte, auch noch die Handlung erklärt!» Die Schlagtechnik, «der Umgang mit dem Körper, das Dirigieren von Charakteren», das nahm Rundel dann von Peter Eötvös mit, dem nächsten Lehrer. Inzwischen gibt er es selbst lehrend weiter. «Auf dem Streichinstrument gibt es ja unendlich viele Artikulationen von legato bis staccatissimo. Genauso wandelbar sollte ein Schlag sein.»

Wie wandelbar, das werde ich später bei der Orchesterprobe an der Kreuzstrasse erleben, auch wenn das noch ein frühes Stadium der Stückerkundung ist. Wie Rundel, sitzend, den ganzen schmalen Körper unter Spannung hat und diese Spannung in kleine, genaue, federnde Gesten umsetzt, bei denen es eben nicht egal ist, ob eine Hand nach innen gebogen wird oder einen knappen Kreis nach aussen beschreibt. Klingt die Partitur von Stefan Wirth denn so, wie er sie sich vorgestellt hat beim Lesen? «Ich habe so viel Erfahrung angehäuft! Es gibt ein ständiges Lernen durch die Praxis. Man stellt sich etwas vor, korrigiert das an der Realität, und das entwickelt sich immer weiter, sodass ich jetzt nicht wahnsinnig überrascht war. Aber natürlich gibt es Überraschungen, etwa dass Dinge schöner und interessanter klingen, als man sie sich vorgestellt hat.»

Wirth habe sich inspirieren lassen von der Idee der Farben, des Malens, der Schichtungen. «Er arbeitet viel mit Klangflächen, die sich in den grossen Tuttistellen überlagern, aber er denkt auch ganz stark polyrhythmisch. Ob das jetzt Glocken sind oder pizzicati – es gibt rhythmische Schichten, die in verschiedenen Tempi gleichzeitig ablaufen, vielleicht ein Bild für die vergehende Zeit. Und alles, was die Sänger singen, ist ganz nah am Sprachduktus komponiert… ja, man kann an Janáček denken.»

Wie die Philharmonia Zürich und andere Orchester heute an neue Partituren herangehen, das sei nicht zu vergleichen mit den Jahren seiner Anfänge als Dirigent. «Was mir da zum Teil für ein Wind entgegenwehte, auch in sehr guten Orchestern! Mittlerweile hat man Orchestermusiker, die versierter und offener sind. Nicht alle lieben die neue Musik, das erwarte ich auch gar nicht, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner, und die Philharmonia hier in Zürich hat schon viel Erfahrung mit den avanciertesten Spieltechniken.»

Und Peter Rundel seinerseits hat mit Opern, auch denen des Repertoires, weit mehr Erfahrung, als unter das Etikett «Neue-Musik-Dirigent» passt. Er liebt das Genre zutiefst, «wegen der Spontanität, die das Operngewerbe hat. Da kann immer alles passieren, dieses Risiko liebe ich unendlich, die Fragilität, die das hat. Die Gefährdetheit eines Sängers, der sich auf die Bühne stellt und ohne Noten und mit einer Stimme einen Charakter verkörpert, mit all dem, was es impliziert, auch das Scheitern. Dem Moment ausgeliefert, nichts, was festgehalten werden kann. Der Moment und die Vergänglichkeit, daher kommen diese Energie und diese Magie. Manchmal ist es ein Wunder.»

Vielleicht werden solche Wunder in diesen Tagen besonders gebraucht, in einer bedrohlichen Zeit. Schon einmal hat Peter Rundel erlebt, wie die Arbeit an einer Oper mit dem Weltgeschehen zusammenfiel, im September 2001, als er an der Deutschen Oper Berlin mit dem Regisseur Peter Konwitschny zusammen Luigi Nonos Intolleranza probte. «Nine eleven passierte währenddessen. Das hat die Arbeit tatsächlich verändert, wie jetzt ja auch. Wir haben gerade in Porto, in der Casa da Música, die Oper Kassandra von Michael Jarrell im Konzert gespielt – als wir das programmierten, haben wir uns nicht ausmalen können, dass das so eine unglaubliche Präsenz und Aktualität entwickelt, aufgrund dieses Krieges.»

Die Sonne ist hinter den Höhen östlich des Sees verschwunden, und in den paar Minuten bis zum Aufbruch erzählt Peter Rundel noch von der geheimnisvollen Geige, die sein Vater besass, ihrer traurigen Geschichte und ihrer Anziehungskraft. Vier Jahre musste er warten, bis seine Hände gross genug für sie waren (für eine Kindergeige fehlte das Geld), dann ging alles so schnell, dass er mit fünfzehn Jahren Schule und Elternhaus verliess, um in Köln Geige zu studieren, «die richtig harte Schule.» Mit achtzehn stellte er alles in Frage, brach alles ab, wollte Schauspieler werden, schlug sich in New York durch. «Dann wurde mir aber doch immer klarer, dass die Musik zu stark ist.» Er lacht. «Ich war ziemlich freigeistig unterwegs.» Das ist er eigentlich immer noch. Nur, dass er nichts mehr abbricht. Ausser beim Proben wie in Takt 440, wo die Kontrabässe im Violinschlüssel spielen…

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 91 der Oper Zürich, April 2022, sowie online.