4. Februar 2022

> Seit einer Woche online: Arnold Schönbergs Zweites Streichquartett op. 10, so der nüchterne Titel einer Ausgabe der „Interpretationen“ auf Deutschlandfunk Kultur, die zuerst am 23. Januar 2022 gesendet wurde und mitten ins Aufregende führt, ins Leben von Menschen und Tönen, ins Jahr 1908 und in die Jahre vieler der Aufnahmen, die bis heute von diesem außergewöhnlichen Werk gemacht wurden. Ein Kammermusikensemble, zu dem eine Sängerin  kommt – so etwas hatte es bis dahin nicht… oh doch! Gleich mehr dazu! Außergewöhnlich ist aber an diesem opus 10 fast alles, und unter dramatischeren Umständen hat selten ein Werk seinen Weg in die Welt begonnen – einem Ehedrama folgte ein Suizid, und die Uraufführung wurde von Protestrufen verwüstet.
gerstl schönberg 1906

Die zweistündige Sendung verbindet Zeitdokumente mit zehn Aufnahmen aus acht Jahrzehnten, beginnend mit dem Kolisch Quartett, das 1936 in Hollywood alle vier Streichquartette Arnold Schönbergs aufnahm, in Anwesenheit des Komponisten, bis hin zum Kuss-Quartett 2015. Einen  besonderen Höhepunkt liefern das La Salle Quartet und Sopranistin Margaret Price – „ich fühle luft von anderem planeten…“ – im Mondlandungsmonat Juli 1969. Was die Innovativität des Stücks betrifft, gilt der Spruch „Cherchez la femme“ ganz anders, als es in der Rezeption dieses opus 10 bislang üblich war: Dass Arnold Schönberg hier die Tonalität hinter sich gelassen haben soll, weil seine Frau ihn betrog, ist ein doppelter Schwachsinn. Dass er aber eine Kammermusikbesetzung mit einer Stimme und Lyrik verband, könnte mit Ethel Smyth zu  tun haben. Ihre Four Songs für Stimme, Violine, Viola, Violoncello, Flöte, Harfe und Schlagzeug wurden im Februar 1908 in der britischen Botschaft in Wien aufgeführt, von einem Ensemble um denselben Geiger Arnold Rosé, dem Schönberg im selben Jahr sein opus 10 anvertraute. Wie schön, dass auch diese Songs in der Reihe der „Interpretationen“ noch abrufbar sind! Das diskographische Porträt von Ethel Smyth ist hier zu finden, und um die Four Songs (deretwegen die Times damals Ethel Smyth der „ultramodernen französischen Schule“ zurechnete) geht es ab Minute 59.

Spuren zwischen diesen und vielen anderen Werken und Menschen jener Zeit werden auch verfolgt in meinem Buch Flammen – Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918, das jetzt seine zweite Revision hinter sich hat und auf dem Weg in die Druckerei ist. Erscheinungstermin: 12. April 2022. Mehr dazu auf der Website des Rowohlt Verlags – wobei zu ergänzen ist, dass die 448 Seiten auch 24 Abbildungen enthalten. Darunter das Porträt – siehe oben – von Arnold Schönberg, das Richard Gerstl 1906 in Schönbergs Wiener Wohnung malte, jener geniale junge Künstler, in den sich 1908 Mathilde Schönberg verliebte, während ihr Mann sein 2. Streichquartett vollendete. Es war übrigens weder das erste noch das letzte opus 10, das neue Wege erschloss: Auch Debussys und Hindemiths Streichquartette mit, zufällig, dieser Werknummer haben es in sich!