Am Anfang war das Lied

Von Kassel nach Wien: Gustav Mahlers Orchesterstück “Blumine”, seine „Wunderhorn“-Lieder und Franz Schuberts Sechste Sinfonie

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Am 23. Juni 1884 werden am Kasseler Hoftheater „Lebende Bilder“ zu Victor von Scheffels beliebtem Versepos Der Trompeter von Säckingen gezeigt. Die Musik dazu hat der junge Musikdirektor Gustav Mahler geschrieben, sieben Orchesterstücke. Das einzige Stück, das davon bleiben wird, ist ein Sommerabendtraum: Sechsachteltakt, über Streichertremoli und Harfenakkorden ein zärtliches Trompetenlied. Ein Idyll entsteht, von sanfter Spannung erfüllt. Man kann sich bei diesen Klängen zwei so behutsam wie bewegt einander näherkommende Liebende denken, und das hat Mahler wohl nicht nur mit Blick auf Scheffels Liebesdrama so angelegt. Der 23jährige entflammte in diesem Jahr für Johanna Richter, eine Sängerin. Diese Liebe wurde nicht erwidert. Doch die Sommerhoffnung des kleinen Orchesterstücks, das er Blumine nannte, nahm Mahler mit, bis in seine Erste Sinfonie, 1888 in Leipzig begonnen.

In deren ersten beiden Fassungen, die Mahler 1889 in Budapest und 1893 in Hamburg dirigierte, war Blumine der zweite Satz. So ganz passte er nicht zu den Extremen, Schärfen, Abgründen der Tondichtung Titan, wie die Erste Sinfonie da noch hieß. Im August 1894 – nach dem eher durchwachsenem Erfolg der Sinfonie in Weimar – nahm Mahler das schöne Andante heraus. Es fiel in einen langen Dornröschenschlaf, erst 1966 wurde es wiederentdeckt. Seitdem hat es einen Extraplatz im Kosmos der Mahler´schen Sinfonik, von der man in Blumine bereits viel findet: Farben von neuer Klarheit, nicht vermischt, sondern konturiert, eine Weitung des Raumes (etwa in einem Zwiegesang von Solo-Oboe und Kontrabässen), dazu eine Innigkeit, die das vermeintlich Triviale nicht scheut und etwas im besten Sinne Naives hat, etwas Zutrauliches.

Heiterkeit und tiefes Leid: Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“

Solche Qualitäten faszinierten Mahler auch an den Volksliedtexten der legendären Sammlung Des Knaben Wunderhorn, veröffentlicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Mehr als 700 Lieder hatten sie zusammengetragen, teils auch dichterisch bearbeitet. Manches daraus kannte Mahler schon, aber entscheidend für diesen Lesewütigen war die Gesamtausgabe, die er, mittlerweile 27 Jahre alt und Kapellmeister in Leipzig, im Herbst 1887 bei Carl und Marion von Weber fand.

Für die 30-jährige Marion entflammte er, und diesmal wurde die Passion erwidert. Es blieb gleichwohl eine von vielen, anders gesagt: „Bald gras ich am Neckar, bald gras ich am Rhein“. So hören wir es in einem der früheren Wunderhorn-Lieder, dem Rheinlegendchen. Mahler komponiert es strophenweise, aber ein Volkslied wird nicht daraus. Er folgt im Tonfall der Doppeldeutigkeit des Textes – „grasen“ für „verführen“, der Ring als Symbol für die „wahre Liebe“ hinter all den Amouren. Die Musik bleibt in der Schwebe, und sie ist leicht und licht instrumentiert: vier Holzbläser, ein Horn, Streicher, die Kontrabässe spielen nur piano oder pizzicato.

Jedes Lied von Mahler hat seinen eigenen Orchesterklang, der dem Komponisten meist schon bei der Klavierfassung vorschwebte. Im selben Sommer 1893 wie das Rheinlegendchen schrieb er Des Antonius von Padua Fischpredigt. Dieselben Blasinstrumente, nun mehrfach besetzt und mit viel Schlagwerk ergänzt, wieder ein Dreiachteltakt. Der ist hier der Motor eines beißend ironischen Stückes. All die Wassertiere vom Krebs bis zum Karpfen lauschen der Predigt gern, dann wird sie vergessen. In den chromatisch geschärften Sechzehntellinien der Klarinetten verbindet sich ohrenfällig der „Humor“ (von Mahler als Spielanweisung notiert) mit dem Fließenden des Wassers. Tatsächlich hat man die Fische nicht nur als Figuren einer Satire auf die selbstsüchtigen Menschen vor sich, sondern eben auch als reale Fische, so plastisch werden die Worte von Mahler mit einfachen Mitteln zum Leben gebracht.

Was er aus demselben Material ohne Worte im Scherzo der Zweiten Sinfonie macht, ist atemberaubend. Umso erstaunlicher, dass die Fischpredigt und der Sinfoniesatz parallel entstanden, im Sommer 1893. Die Verbindungen zwischen den Liedern und den Sinfonien zeigen die Kleinformate als autarkes Genre, in dem wir dem Komponisten besonders nahe kommen. Auch dann noch, als Mahler zum Direktor der Wiener Hofoper aufgestiegen ist und seine riesige Dritte Sinfonie vollendet hat.

Wo die schönen Trompeten blasen, im Juli 1898 komponiert, ist ohne die immense Erfahrung, die der 38-jährige Komponist jetzt hat, wohl kaum denkbar. Nicht, weil hier ein großes Orchester zu bändigen wäre! Nur sechs Holzbläser ohne Fagott, vier Hörner und zwei Trompeten gesellen sich zu den Streichern, die zunächst schweigen. Kammermusikalisch sparsam agieren die Bläser und setzen die Koordinaten für eine berührende Erzählung von Liebe und Tod. Die Ökonomie der Klänge, die Innigkeit und die stoische Schicksalsergebenheit – das hat schon etwas von einem Spätwerk. „Hier ist der Herzallerliebste dein, steh auf und lass mich zu dir ein“ – wenn zu diesen Worten erstmals alle Streicher einsetzen, glaubt man, das schönste Liebesgedicht aller Zeiten zu hören. Doch dann weisen die „schönen Trompeten“ den Weg zum Krieg – in den Tod.

Die frühesten Wunderhorn-Lieder hat Mahler im April 1892 als „Humoresken“ geschrieben. Wer hat dies Liedlein erdacht und Verlorene Mühe sind beide, bis hin zur Triangel, identisch instrumentiert und im Dreiachteltakt, den Mahler für das Spaßige bis Ironische bevorzugt. Landliebeleien mit Dialekt-Anklang: Einmal wird ein Mädchen ersehnt, einmal verschmäht. Das Liedlein hat etwas von Patchwork und Karikatur – die erste Silbe von „Heide“ etwa wird auf ein Melisma über elf Takte gestreckt, das an Figurationen einer Bach-Arie erinnert. In Verlorene Mühe schreibt Mahler ein Operettchen in drei Minuten.

Gleich nebenan finden wir das nackte Elend. Möglicherweise kurz nach den Humoresken entstand Das irdische Leben, und wer bei diesem Titel zuerst an pralle Daseinslust denkt, verliert mit den ersten Tönen schon den Boden unter den Füßen. Ist die erste Achtel Auftakt oder Taktbeginn? In welcher Tonart? Es gibt zunächst nur einen Tonvorrat ohne Basis, ebenso spärlich wie der Klang. Trockene Staccati der Flöten und Oboen, in den Streichern gedämpfte Pizzicati und motorische Sechzehntel, spinnradartig, tretmühlenhaft, wie das Leben armer Leute. „Mutter, ach Mutter, es hungert mich!“ „Warte nur…“ Zuerst muss das Korn geerntet werden, dann gedroschen, dann wird das Brot gebacken. Drängender wird die Klage des Kindes von Strophe zu Strophe, von Tag zu Tag. Die Mutter kann nicht hören, dass den Hungerrufen bald ein Warnsignal folgt, ein Trompetenton, zuerst gedämpft, dann gestoßen, und dass die immer laufenden Sechzehntel sich chromatisch verfärben. Sie macht es wie alle Eltern in Bedrängnis, wie schon der Vater im Erlkönig, wie unzählige Eltern bis heute: Sie versichert, dass gleich alles wieder gut sein wird. Und dann ist es zu spät.

Eine so existentielle Textvertonung lässt ans 17. Jahrhundert denken, wo zwischen Pest und Krieg das Elend des irdischen Lebens nur in Erwartung des Lebens im Jenseits, bei Gott auszuhalten war. Und Das himmlische Leben mit brotbackenden Engeln hat Mahler ja auch komponiert. Es war in einer frühen Fassung der Vierten Sinfonie die Antwort auf Das irdische Leben, das als zweiter Satz geplant war und später entfiel.

In unserem Programm öffnet sich der Himmel mit dem Lied Urlicht, am 19. Juli 1893 unabhängig von der Zweiten Sinfonie vollendet, in die Mahler diesen Gesang dann als vierten Satz einfügte. Auf dem Weg zu Gott erinnert da ein Leierkastenmotiv an die Mühen des Lebens, und tatsächlich muss erst noch ein widerstrebendes „Englein“ den Weg freigeben. Ist ihm der Neuzugang etwa nicht christlich genug? Wie gut, dass es einen Vorgesetzten hat. Und dass Gustav Mahler weiß, wo der zu finden ist.

Suche nach dem Ich – Franz Schuberts 6. Sinfonie

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Vom Erlkönig war eben schon die Rede. Ein erst 18-jähriger Hilfslehrer aus dem 9. Wiener Bezirk hatte die Ballade von Johann Wolfgang von Goethe 1815 an nur einem einzigen Tag in Töne gesetzt. Sehr früh schon hat sich Schubert als Komponist gefunden und ein ganzes Genre quasi neu erfunden, das Lied. Am Ende von Schuberts nur 31 Jahre währendem Leben waren mehr als 600 Lieder zusammengekommen. Sie hatten größten Einfluss auf Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy, später auch auf Hugo Wolf und Gustav Mahler. Es gäbe Mahlers Lieder nicht ohne die von Schubert. Als er 1828 starb, waren gut 170 seiner Lieder im Druck erschienen, von den Kammermusikwerken wenige, von der Orchestermusik keine einzige Note.

Der Weg zu den beiden Sinfonien, die heute zu den Gipfelwerken des 19. Jahrhunderts zählen, Unvollendete und Große C-Dur-Sinfonie, die Franz Schubert selbst nie gehört hat, verlief völlig anders als der von Schubert als Liedkomponist. Die sechs Sinfonien, die er im Alter von 16 bis 21 Jahren schrieb, hielt er selbst nicht für erwähnenswert, als er in seinem letzten Lebensjahr ein Verzeichnis seiner „fertigen Compositionen“ schrieb. Sie zeigen, so der Musikwissenschaftler Robert Winter in Grove’s Dictionary of Music and Musicians, „einen begabten Lehrling“, der „mit einem Schuss Rossini […] das erhabene Erbe von Haydn, Mozart und, in geringerem Maße, Beethoven“ fortschreibe. Angesichts dessen, was der Komponist im Lied im Lied in so jungem Alter und später dann als Sinfoniker erreichte, herrscht immer eine gewisse Verlegenheit, wenn es um seine ersten sechs Sinfonien geht. Wo ist da das Genie, wo ist überhaupt Schubert? Er sucht sich noch selbst.

Die Sechste Sinfonie führt uns in jenes Wien von 1817, in dem die „Klassik“ noch Moderne ist und Beethoven mit 47 Jahren an der Hammerklaviersonate arbeitet, während Gioachino Rossinis Italiana in Algieri und weitere seiner Opern – Rossini ist nur nur fünf Jahre vor Schubert geboren – Furore machen. Von Schuberts Liedern weiß nur ein kleiner Kreis von Freunden, keines ist gedruckt, und die Sinfonie, mit der der 20jährige im Oktober beginnt, wird auch wieder nur ein kleiner Kreis hören können, beim Hauskonzert eines Amateurorchesters. Dass Schubert das Stück groß besetzt, acht Holzbläser, vier Blechbläser, Pauke, und es selbst „Große Sinfonie in C“ nennt, zeigt schon, dass er andere, bedeutendere Aufführungsorte im Blick hat.

Stilmerkmale Rossinis hört man besonders im Finale der Sinfonie, Beethoven im Scherzo – es ist das erste Mal, dass Schubert ein „Scherzo“ schreibt, kein „Menuett“ –, Haydn im Andante, und der erste Satz scheint von allen drei Komponisten etwas zu enthalten. Hier entwickelt Schubert eine Einleitung mit dramatischen Verheißungen, der ein Allegro mit zwei geradezu harmlos munteren Themen folgt. Die Durchführung – den Konventionen entsprechend der Platz für die dramatische Entfaltung des Materials – hält er so kurz wie möglich, dafür gibt es am Ende eine furiose Beschleunigung à la Rossini. Auch wo es im folgenden F-Dur-Andante mit seinem zutraulichen Thema mal etwas „gefährlicher“ zu werden scheint – Fortissimo-Sechzehnteltriolen, As-Dur – währt das nur ein paar Takte und bleibt folgenlos wie ein Spuk.

Für den dritten Satz bedient sich Schubert beim Scherzo aus Beethovens Erster Sinfonie – sein Thema hat dieselbe Rhythmik, nur ohne Sturm und Drang. Dafür gibt es bald überraschende Ausblicke: Rotationen und Liegetöne der Holzbläser, die einfach so von F-Dur nach Fis-Dur rücken – eine Weite entsteht dabei wie in Schuberts später C-Dur-Sinfonie. Etwas Ähnliches passiert im letzten Satz, mitten im opera-buffa-Tonfall. Wieder lassen die Holzbläser aus einem Motiv eine „Fläche“ werden, von punktierten Rhythmen der Streicher unterstützt. Da ist der Horizont deutlich über Rossini hinaus erweitert.

Was aber hinter diesem Horizont liegen könnte, ist für Franz Schubert im Februar 1818, als er die Sinfonie beendet, nicht zu erkennen. Das Handwerk ist für ihn offensichtlich kein Problem. Aber was hat er zu sagen, was will er? In seinen Liedern kann er sich von den Texten führen lassen, für die große instrumentale Form aber fehlt ihm noch eine eigene „Erzählung“, auch ein Ersatz für das „Ich“, das ein Komponist wie Mahler in dem Maße hat, wie es Schubert gerade nicht zur Verfügung steht. Erst 1822 entwickelt es sich aus vielen abgebrochenen Anläufen zur Unvollendeten. In ihr kommen zwei Schuberts zusammen – einer, der sich früh gefunden hat, und einer, der sich lange suchen musste. Diese Suche können wir in seiner Sechsten Sinfonie aus nächster Nähe erleben.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich-Orchesters Köln am 29.6. und 1.7. 2025, mit der Mezzosopranistin Anna Lucia Richter und dem Dirigenten Thomas Guggeis. Illustrationen: Das Kasseler Hoftheater um 1900, Postkartenmotiv, im Original SW; Schuberts “Erlkönig”, Ausschnitt aus der Reinschrift von 16 Goethe-Liedern, die Schubert 1816 dem Dichter nach Weimar sandte und von diesem kommentarlos zurückerhielt. Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin

Von Einhörnern, die es ohne Menschen nicht gäbe

Alfred Brendel mit Beethovens drei letzten Klaviersonaten im Gewandhaus Leipzig [erschienen am 20. November 1995]

Er geht zum Flügel wie zu einem Schreibtisch, wo was Angefangenes wartet, ergeben und entschlossen. Dann sitzt er und ist mittendrin. Notengestöber in E-Dur – die Trias der letzten Klaviersonaten Beethovens hat kein großes Eingangsportal und bei Alfred Brendel auch keine Beethovenbüste, vor der er sich verneigen müßte. Die beiden arbeiten schon länger zusammen.

Brendel läßt die Läufe und Sprünge huschen wie schnelle Notizen, aber die sind sehr präzis und verweisen gemeinsam auf ein anderes, inneres Tempo. Das führt dann auch zum nächsten Satz, Prestissimo, nicht treibend, sondern öffnend. Unter den Sechsachtelwellen kurz vor Schluß eine Schwelle im Baß: der Halbtonschritt B-A leuchtet im Piano, als er dann lauter wird, sind wir schon fast drüben, im „Andante molto cantabile ed expressivo”.

Da beginnt der Flügel zu singen. Das bedeutet nicht, daß der Pianist vorführt, was Sänger auch können. Der Gesang ist für dieses seltsame, mit Hämmern und Saiten gefüllte schwere Gerät geschrieben, das hat sein eigenes Wesen. Wenn es einer mit diesen Noten und diesen Händen belebt, dann ist es, als träte ein Einhorn aus dem Wald, um Wünsche zu erfüllen.

Wobei uns Brendel und sein Flügel nichts vormachen und zurechtzaubern. Man hört in den Tönen auch, daß es ohne Menschen gar keine Einhörner gäbe. Und in den Variationen danach, daß Beethoven sich in und mit seinem Werk nicht abschließen will. Es sind alles Fenster, und Brendel entdeckt in der vierten Variation sogar die Vorwegnahme des Motivs aus „Der dritte Mann“ und präpariert es unaufdringlich heraus. Als danach das alte Thema wiederkommt, ist etwas anderes in seinem Ton. Es singt immer noch, aber hat sich entfernt.

Der Pianist läuft ihm, in der nächsten Sonate opus 110, nicht nach, sondern scheint abzuwarten. Die As-Dur-Sonate ist so mehr Entwurf und Plan, denn Ereignis. Selbst im feinsten Tränenschmelz, im „Es ist vollbracht“- ähnlichen Arioso, steckt noch eine Spur Konstruktion. Brendel spielt die umgebenden Fugen. als ärgere sich Beethoven darüber und stecke sich selbst in den kontrapunktischen Käfig, um an den Stäben zu rütteln: Also nicht souveräne Architektur, sondern dröhnende, ja prügelnde Bässe beim ersten Mal, schrill kreischender Diskant zum Schluß. Das aber keineswegs besinnungslos – gerade durchs Extreme wird klar, wie bewußt da vorgegangen wird.

Die letzte Sonate, opus 111 in c-Moll, scheint wie eine Synthese aus den vorigen. Formal schon deswegen, weil die latente Zweisätzigkeit (die ersten beiden Sätze jeweils als Vor- oder Umwelt des Variationensatzes) hier in reale umschlägt. Und auf einer ganz neuen Ebene treffen sich Ausdruck und Abstraktion. „Ich-Verlassenheit” hörte Thomas Mann hier heraus, eine Deutung, die Alfred Brendel mit solcher Konsequenz bestätigt, daß er den „Faustus“-Autor am Ende noch überholt. Nicht, daß er kühl spielte, im Gegenteil. Mit voller Wucht wirft er sich hinein – und wird abgewiesen.

Wenn Beethoven (50) trotzig ist, ist Brendel (64) es auch. Der eigentümlichen Sachlichkeit zwischen den Klüften des ersten Satzes setzt er seine eigene Dramatik entgegen. Ein Kampf, unentschieden. Und im zweiten Satz, wo Beethoven vermeintlich Abenteuer anbietet, glaubt er ihm nicht, anders als der Dichter. Das Arietta-Thema hat kein Schicksal, es führt ins Nichtfaßbare.

Daß sich Brendel bei den Zweiunddreißigsteltriolen zum ersten Mal technischen Grenzen nähert, ist fast beruhigend bei soviel Abstraktion. Zu ihr führt alles: Der Triller, der sich chromatisch von As bis D hochstuft, zeugt da nicht von einsam heroischen Mühen, sondern verwandelt, wie flüssige Luft gespielt, endgültig das Gebundene ins Absolute.

Dort gibt es nicht mehr viele Nachbarn. Einen ließ Brendel als Zugabe nach den Ovationen im randvollen Gewandhaus hören. Busonis Klavierfassung von Bachs Choralvorspiel „Nun komm der Heiden Heiland“. Da war es wieder, das Singen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 20.11.1995 in der Leipziger Volkszeitung auf Seite 9. Für die Edition auf dieser Website wurde die Orthographie des Originals (vor der Rechtschreibreform 1996) beibehalten. Die Unterzeile wurde geändert; sie lautete “Alfred Brendel zauberte im randvollen Gewandhaus”.

6. Juni 2025

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Vor 150 Jahren kam in Lübeck Thomas Mann zur Welt, bis heute einer der meistgelesenen Autoren deutscher Sprache. Das Magazin ZEIT Geschichte hat ihm schon im März eine Ausgabe gewidmet, für die ich gern Reklame mache, und zwar nicht nur, weil ich mir für dieses Heft über Manns letzten großen Roman Doktor Faustus Gedanken machen durfte. Unter den vielen sehenswerten Fotos und lesenswerten Texten im Magazin hat mich besonders Thomas Assheuers Beitrag über den “reaktionären Kanonendonner” beeindruckt, den Mann in seinen Schriften 1914-1918 intonierte. Allzu gemütlich sollte man es sich mit Thomas Mann nämlich nicht machen – eine höchst ambivalente Gestalt, an der man gleichwohl nicht vorbeikommt.

Sein Doktor Faustus hat eine Reihe von Komponisten inspiriert, und gerade jetzt wäre es an der Zeit, mal wieder Hans Werner Henzes wunderbares Drittes Violinkonzert von 1997 aufzuführen, Drei Porträts aus dem Roman “Dr. Faustus” von Thomas Mann. Der erste Satz gilt Esmeralda, jener Prostituierten, der Manns fiktiver Tonsetzer Adrian Leverkühn seine kreativen Höhenflüge und sogar die Erfindung der Zwölftonmusik verdankt (die sich in Wahrheit Thomas Mann von Schönbergs Schüler Adorno erklären ließ…). Hier geht es zur Aufnahme mit Peter Sheppard Skaerved und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken von 2006. Noch ein Hörtipp in eigener Sache: am Sonnabend, 7. Juni um 10 Uhr bin ich Studiogast beim Treffpunkt Klassik von SWR Kultur, mit Moderatorin Ines Pasz und einer Playlist, die Musik von Kurt Weill, Szymon Laks, Claudio Monteverdi, Johann Michael Bach, Younghi Pagh-Paan, Claude Debussy und Nadia Boulanger umfasst.

Und mehr als nur ein Tipp: Das VAN-Interview, in dem der Geiger Michael Barenboim über sein Engagement für die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen spricht, deren Opfer in Folge des Krieges inzwischen nach Zehntausenden zählen. “Ich finde es sehr seltsam, wenn Menschen, die eine sichere Anstellung und ein bequemes Leben haben, zu diesem Thema so vehement schweigen. Man muss sich klarmachen: Das ist das Verbrechen unserer Generation.”