Harte Schule

1. Dezember 2015: Ein Treffen mit dem Dirigenten Gabriel Feltz während der Proben zu Wolfgang Rihms „Hamletmaschine“ in Zürich

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Er hat das ja alles mitgekriegt, hautnah. Und alles war wieder da, als er diese Szene las: „Ich bin der Soldat im Panzerturm“, dazu jäh aufschwellendes Massengebrüll im Radio, und knappes Trommeln, wie Schüsse, Schläge. „Es war der 7. Oktober 89, ich kam vom Geburtstag meiner Schwester, die hat damals im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg gewohnt. Die Straßenbahn fuhr an dem Tag nicht, da merkte man schon, irgendwas stimmt nicht“, sagt Gabriel Feltz. „Ich kam auf eine große Kreuzung, und da lagen lauter einzelne Schuhe herum. Da war gerade eine Demonstration auseinandergeknüppelt worden.“ Am Rand standen noch die Sicherheitskräfte, bewaffnet, vor ihren gepanzerten LKWs.

Der Untergang der DDR, in der Feltz groß wurde, liegt 26 Jahre zurück, aber dieser Tag, an dem noch alles auf Messers Schneide stand, war mit der Hamletmaschine sofort wieder da, mit der Partitur, der Gewalttätigkeit darin, den vier Radios, aus denen die Masse faucht. Eine Woche, ehe er mit den Orchesterproben für dieses Stück in Zürich beginnt, treffen wir uns in Dortmund. Vom Theater inmitten der Stadt, in dem er Generalmusikdirektor ist, will er gleich in ein Lokal. Er hat Hunger und erledigt gern zweierlei zugleich, jetzt also Buletten und Interview, der Lärm im Laden stört ihn nicht, und seine Stimme ist dem mühelos gewachsen. Markant, tiefer Bariton.

Ein Machertyp ist der 44jährige, aber keiner, der sich die Welt zurechtsortiert hat. Auch der 18-jährige ist immer noch da, der fassungslos auf die Schuhe blickt, sich irgendwann wohl auch fragt, in was für einer Welt er Kapellmeister sein wird. Denn das wusste er sicher, schon früh, dass er das sein würde. Der da jetzt in Dortmund im Lärm sitzt, ist gut gelaunt und geerdet, macht sich aber viele Gedanken. Er sieht das Musiktheater Hamletmaschine, 1986 von Wolfgang Rihm vollendet, als „gesellschaftliches Spiegelbild“ mit aktuellem Potential. „Es hat ein extrem destruktives Element in dieser Aggressivität, klanglich, sprachlich, in dieser fragmentarischen Art und Weise.“

Das macht ihm aber auch zu schaffen. Gabriel Feltz ist Praktiker und keiner, der den Leuten aus Prinzip etwas um die Ohren haut. „Zürich ist kein Haus mit unbegrenzter Platzkapazität. Wir werden das Schlagzeug mit 30 verschiedenen Instrumenten in die Logen packen müssen, und wenn die Leute da das Maximum spielten, würde der Schalldruck sie künstlerisch töten. Also hoffe ich, dass ich dem Stück eine leichtere Komponente abgewinnen kann. Andererseits kann ich den Musikern mit schweren Eisenplatten und Vorschlaghämmern nicht sagen, benutzt die mal leiser.“

Den Umgang mit Orchester und Sängern hat Feltz von der Pike auf gelernt. Sein Vater, der Musikpädagoge Eberhard Feltz, hat den Fünfjährigen „zum Geigenspiel getriezt“ und dem Heranwachsenden von Wagner abgeraten. Logische Folge, dass Gabriel kein Geiger wurde und Wagner als „Genius“ verehrt. Zuerst kam aber Beethoven: „Mit acht Jahren hatte ich die Fünfte drin im Kopf und wie Furtwängler sie dirigierte, mit vierzehn hab ich in eine Taschenpartitur von Mahlers Dritter, für fünf Ostmark, schon reingeschrieben, was ich wie schlagen wollte, auch die Ritardandi. Als ich die Sinfonie zwanzig Jahre später aufnahm, habe ich manche dieser Sachen ganz genauso gemacht.“

Das klingt geradliniger, als es für den Studenten an der Hochschule für Musik Hanns Eisler nach dem Mauerfall zunächst lief. Er studierte da im selben Semester wie Sebastian Baumgarten, der Regisseur der Züricher Hamletmaschine. Ein Stipendium als Assistent an der Hamburgischen Staatsoper galt seinen Kommilitonen zwar als „glamourös“, bedeutete aber: „Mit wenig Geld in Hamburg klarkommen und alles machen. Korrepetition, szenische Proben, Vorsingen. Mit 23 können Sie gar nicht alle Stücke. Sie spielen vom Blatt, stochern rum, werden angebrüllt, wenn es nicht stimmt, und haben keine Zeit, sich einen Discount zu suchen, wo Sie billig einkaufen können. Harte Schule.“

Es folgte die sogenannte Ochsentour. Gastdirigenten nach Vorstellungen anquatschen, auf Stellensuche, mit schwangerer Frau. Erste Posten in Lübeck, Bremen, Gera / Altenburg. In Bremen dann dirigierte er ein Großwerk der Moderne: Luigi Nonos Intolleranza, von Johan Kresnik inszeniert. Auf die 147 Proben für seine preisgekrönte Einspielung des Werkes ist Feltz immer noch stolz, auch auf die zehn Jahre bei den Stuttgarter Philharmonikern, wo er mit gewagten Programmen das Publikum vergrößerte. In Dortmund muss er es mit neuen Klängen vorsichtiger angehen lassen, aber: „Wir sind als Dirigenten schrecklich museale Dinosaurier, wenn wir nicht moderne Musik dirigieren!“ Die misst er indessen auch an den alten Meistern.

Gerade darum beeindruckt ihn die Partitur des seinerzeit 35jährigen Wolfgang Rihm, auch wenn ihm ihre Eruptionen Kopfzerbrechen machen. „Die Behandlung der Streicher ist singulär. Man hat als Dirigent nach 25 Jahren eine gewisse Überheblichkeit und denkt, ich hab´alles gesehen, was Streicher können. Wie Wagner sie am Ende der Walküre teilt, wie Mahler es hier und Strauss dort tat. Und wenn dann jemand kommt und den Mut hat, substantiell Neues zu machen, und das kann – das hat schon eine besondere Qualität.“ Doch der erste Blick auf eine unbekannte Partitur ist bei ihm gar nicht so ein handwerklicher. „Ich gehe erstmal nur nach der Optik, so etwas kann ich nicht gleich innerlich hören.“

Er blättert also in der Partitur. Stellt zuerst fest: Handschrift. Das ist schlecht, weil Gedrucktes leichter zu entziffern ist und er sich die Spitzennoten mit Bleistift noch mal oben reinschreiben muss, damit es in den Proben zügig geht. Aber die Handschrift hilft auch, weil er hier „die Person Rihm“ erkennt: „Sehr klar, dominant, beherrschend im positiven Sinn, geerdet, das ist schon beeindruckend.“ An Mahler erinnern ihn Rihms penible Anweisungen, die bis zur Lichtregie gehen. Dann sucht er in den Noten, „was mein Herz und meinen Bauch bedient und gar nicht meinen Kopf!“ In die Aufnahme der Uraufführung hat er nur kurz reingehört. „Ich erschließe mir das lieber selbst.“

Dann strukturiert er. „Die Phrasen hängen eventuell so zusammen und so, da sind es vier plus vier Takte, da drei plus drei… das ist hilfreich, um der DNA des Stückes nahezukommen.“ Bei Mozart macht er das genauso. „Wie in der Reprise von KV 551 acht Takte eingefügt sind, die sowas von elementar toll sind – da sage ich dem Orchester, vergleichen Sie die Stellen, den Unterschied möchte ich hören!“ Für das Strukturieren hat er bei der Hamletmaschine vier Wochen gebraucht, „dann verdichtete sich so langsam, wie man was schlagen könnte.“ Das sei hier aber einfacher als in Zimmermanns Soldaten, die er an der Komischen Oper in Berlin dirigierte, in der umjubelten Produktion aus Zürich.

Mittlerweile ist Gabriel Feltz in Rihms Partitur auf der Suche, „wo ich Momente der Stille installieren kann, Schattierungen, Nachdenklichkeit.“ Ihn fasziniert, was Rihm „terrassenartige Stilwechsel“ nennt. Vom schlagenden Anfang zum ersten Händelfragment, dann zum Scherzo, später eine danse macabre, „in der es um den täglichen Mord geht. Die Schnelligkeit und die Form der Dissonanzen bewirken einen gewissen groove, also eigentlich muss das doch ein bisschen witzig sein, ja?“ Die vier Radios allerdings sind nicht witzig. Feltz imitiert im  Gaststättenlärm, wie da das Volksgebrüll herausfaucht. Unberechenbar. Noch etwas fällt ihm ein bei dieser Szene. „Das berühmte Bild aus Peking, wo dieser eine chinesische Student vor einer Kolonne von T 54 Panzern steht und sie zum Stoppen bringt. Das hat mich unendlich beeindruckt, bis heute.“ Feltz sagt nicht, für wie politisch und wirksam er Kunst neben solchen Ereignissen hält. Vielleicht genügt es, dass die in seinem Kopf sind, wenn er die Hamletmaschine in die Gegenwart steuert, in der Hoffnung, „dass wir die Leute erreichen.“ Aber jetzt muss er erstmal die Sache mit den Trillerpfeifen klären. Die sind dem Chor nämlich zu schrill.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 35 der Oper Zürich, Dezember 2015. Eine Interviewfassung des Gesprächs ging am 21. Januar 2016 bei VAN online. Foto: Gabi Mladenovic, Concerti

 

Das Leuchten ferner Worte

Wie Carl Orff in „Carmina Burana“ das Mittelalter zu uns holt

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Sie erinnern sich noch an den blinden Bibliothekar, der im Jahr 1327 sechs Mönche vergiftete? Der so lange sein Unwesen trieb, bis seine labyrinthische Bibliothek samt Abtei in Flammen aufging? So endet Umberto Ecos Roman Der Name der Rose, 1980 erschienen, 1986 verfilmt, ein Welterfolg. Der Bibliothekar war zum Mörder geworden, weil er die Klosterbrüder von der Lektüre eines Buches abhalten wollte, dessen positive Einstellung zum Lachen und zur Freude er für gefährlich hielt. Während es dieses Zweite Buch der Poetik von Aristoteles wohl nie gegeben hat, existierte zur selben Zeit, im späten Mittelalter, eine Handschrift von solcher Brisanz, voller Lebensfreude, Gesellschaftskritik, Ironie und Erotik, dass wohl mehr als sechs Mönche dafür ihr Leben riskiert hätten: Der Codex Buranus, verwahrt im Kloster Benediktbeuern, entstanden um 1230, zum Glück nicht verbrannt.

Diese Sammlung von mehr als 200 Texten und Liedern gilt als eine der wichtigsten Quellen für das europäische Mittelalter – eine Fundgrube für lateinische Lyrik, zugleich die früheste Sammlung mittelhochdeutscher Minnelieder, dazu mit vielen Melodien in Neumen – Notenzeichen ohne Linien – versehen. Der Codex Buranus beschäftigt zunehmend Wissenschaftler vieler historischer Fachrichtungen von der Handschriftenkunde bis zur Mediävistik, außerdem Musiker von Alter Musik bis hin zu Metal Bands. Und er verdankt seine Erschließung in den letzten 50 Jahren tatsächlich dem Werk, das aus gerade mal 23 Texten dieser Sammlung einen Welterfolg machte – Carmina Burana von Carl Orff.

So hieß auch das Buch, das der Komponist 1934 in einem Antiquariatskatalog entdeckt und gleich bestellt hatte. Carmina Burana – Lateinische und deutsche Lieder und Gedichte einer Handschrift des XIII. Jahrhunderts aus Benediktbeuern. Herausgegeben hatte sie 1847 der Münchner Bibliothekar Johann Andreas Schmeller. Die Handschrift war 1803 bei der Säkularisierung des Klosters entdeckt und in die Münchner Hofbibliothek gebracht worden. Sie passte bestens in die Zeit nach 1806, nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, als in den deutschen Ländern das Mittelalter in Mode kam, zum goldenen Zeitalter zurechtidealisiert. Mit bürgerlichem Anstand ließ sich die Handschrift voller Liebes- und Trinklieder und deftiger Satiren auf die Verderbtheit der Kirche allerdings weniger vereinbaren. Es war ein studentisches Publikum, das Schmellers Edition bis 1904 vier Auflagen bescherte. Und es war ein Publikum, das – wie Carl Orff selbst – Latein beherrschte.

„O Fortuna / velut luna / statu variabilis“

las Orff als erstes, „Oh Fortuna / wie der Mond wandelst du dich“. „Bild und Worte überfielen mich“, erinnert er sich. Am selben Tag noch, am 29. März 1934, habe er den ersten Chor entworfen und schon ein ganzes Bühnenwerk vor sich gesehen. Orffs Begeisterung für die Bildkraft und den Rhythmus dieser 800 Jahre alten Verse kam nicht von ungefähr. Seitdem er den Ersten Weltkrieg als Soldat knapp überlebt hatte, hatte er sich Musik der Epochen vor dem Barock zugewandt und mit 30 Jahren – damals eine Pioniertat – Claudio Monteverdis Oper L’Orfeo für das Mannheimer Nationaltheater bearbeitet. Auch mit der Musik des Mittelalters beschäftigte er sich. Parallel dazu entwickelte er seine Idee einer „elementaren Musik“: Einfache, kindgerechte Klangbausteine für die Arbeit an der „Ausbildungsstätte für freie und angewandte Bewegung“, die Orff mit der Musikpädagogin Dorothee Günther in München gründete.

Das alles kommt zusammen, als Orff die Welt der Carmina Burana zum Klingen bringt – und noch mehr. Früh schon hat er sich für Claude Debussy begeistert, von Schönbergs komplexer Kammersymphonie einen Klavierauszug hergestellt. Es ist also kein Gegenwartsflüchter, der hier ans Werk geht, sondern ein Komponist der Weimarer Republik – nach deren Ende. Wie der gleichaltrige Paul Hindemith, wie der jüngere „shooting star“ Kurt Weill, der schon 1933 vor den Nazis nach Frankreich fliehen musste, blickt er kritisch bis ironisch auf die Gesellschaft. Auch Brecht hat er schon vertont und entdeckt in den mittelalterlichen Texten wohl auch den „fernen Spiegel“, wie die Historikerin Barbara Tuchmann diese Epoche nannte.

Ein Thema ist ihm dabei besonders nahe: Die Erotik. Der Hit, den alle kennen, ist zwar “O Fortuna”, die Schicksalsmusik des Anfangs und des Endes, verwendet von Boxweltmeister Henry Maske genauso wie von Popstar Michael Jackson und bei der Fußball-WM 2006. Doch vor allem sind die Carmina Burana eine Feier der sinnlichen Liebe in all ihren Facetten, von allegorisch bis unverhüllt. Schon im Codex Buranus dominiert sie, mehr noch in Orffs Auswahl: 18 der 23 Texte erzählen von Erotik und Begehren. Nach “O Fortuna” folgen Frühling, Tanz und Sehnsucht; ein Mädchen erscheint, das sich für die Männer schminkt („Chramer, gip die Farve mir“); eine Apotheose des Begehrens gilt gar der „chünegin von Engellant“. Nach dem Absturz in eine versoffene Männerwelt rund um einen gottlosen Abt – vier Stücke umfasst der Teil “In Taberna” – eröffnet Orff den eigentlichen “Cours d´amour”, den Hof der Liebesabenteuer. Der Einsatz eines Kinderchores dort ist dadurch begründet, dass die Kinder den Liebesgott Amor verkörpern („Amor volat undique“), der seit der späten griechischen Antike meist als Kind mit Pfeil und Bogen dargestellt wird.

Ehe es dann zur Sache geht,

beklagt ein Bariton das eisige Herz der Ersehnten, dann übergibt Orff den knisternden Text „Stetit puella“ einer Sopranistin, um aus einer Männerfantasie eine selbstbestimmt attraktive Frau zu machen. Die 1920er haben Folgen, auch da, wo Orff den Blick ins Liebesnest („Si puer cum puella“) wie eine schnelle Nummer der Comedian Harmonists klingen lässt. Im selben Tempo singen gleich darauf Frauen und Männer „Veni, veni“, „Komm, komm…“ Die schwärmerischen Lobpreisungen von der Schönheit von Augen, Haaren, des Körpers sind gerade nicht in schmelzende Linien umgesetzt, sondern in ein sportliches, perkussives, akzentreiches Allegro. Das bringt – wie immer auch hier der lateinische Text – etwas Abstraktion hinein und steigert die Wirkung, die gleich danach der krasseste Stilwechsel des ganzen Werkes hat: Das betörende Sopransolo einer Frau, die sich entschließt, das „süße Joch“ auf sich zu nehmen („In trutina mentis“), könnte aus einer Oper von Giacomo Puccini stammen.

Das ist gewagt und genial plaziert. Denn an dieser Stelle kann die Klangwelt nicht mehr zerbrechen, die Orff neu geschaffen hat. Sie erschöpft sich ohnehin nicht darin, die markanten Blöcke und Repetitionen des Beginns zu immer neuen Mustern zu ordnen. Der Frühling beginnt wie ein Gemeindegesang, der Tanz lässt an eine Dorfkapelle denken, die mit Taktwechseln verblüfft, der surreale Klagegesang eines gebratenen Schwans verbindet Ironie mit Raffinesse: Fagott in höchstem Register, verknüpft mit gedämpften Trompeten und gezupften Cellosaiten, dann der Schwan selbst, ein Tenor in noch höherer, sozusagen verzweifelter Lage, während Bläser in Achteln den Bratspieß drehen und die Bratschen das Herdfeuer impressionistisch glühen lassen.

Kontrapunktik und thematische Entwicklung gibt es in den Carmina Burana nicht. Zusammengehalten werden all die Facetten – von mitreißender Motorik und kinderleichten musikalischen Themen über Karikaturen bis zur Elegie des Begehrens – durch die Anordnung der Texte und den Umgang mit ihrer Sprache. Sie wird zur Klangfarbe, zum Gestus, zum Rhythmus, wie in Ritualen einer Beschwörung. Dadurch beginnen die Worte aus der alten Handschrift zu leuchten. Das Publikum der (szenischen) Uraufführung am 8. Juni 1937 in Frankfurt am Main war begeistert, die Reaktionen der nationalsozialistischen Presse und Kulturpolitik gerieten ambivalent – genau wie Carl Orffs eigenes Verhalten und seine Haltung im „Dritten Reich“: Parteimitglied war er nie, aber in den Widerstand ging er nur gegenüber der Forderung, in den Carmina Burana verständliches Deutsch singen zu lassen statt Latein, Mittelhochdeutsch und sogar Altfranzösisch.

Wenn man sich fragt, warum die Carmina Burana seither so gut gealtert sind, nämlich gar nicht, hat Umberto Eco eine Antwort. „Müßig zu sagen“, meint er in der Nachschrift zum ,Namen der Rose‘, 1983, „dass alle Probleme des modernen Europa, wie wir sie heute kennen, im Mittelalter entstanden sind, von der kommunalen Demokratie bis zum Bankwesen, von den Städten bis zu den Nationalstaaten, von den neuen Technologien bis zu den Revolten der Armen: Das Mittelalter ist unsere Kindheit, in die wir immer wieder zurückkehren müssen, um unsere Anamnese zu machen.“ In Carl Orffs Musik macht sich diese Kindheit auf den Weg zu uns.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programmheft des Gürzenich Orchesters Köln zum Festkonzert am 7.9.2025 und ist hier in leicht erweiterter Fassung zu lesen. Die Abbildung ist dem Codex Buranus entnommen, Quelle: archive.org. Eine ausgezeichnete Einführung in Welt und Wirkung des Codex Buranus bietet das Buch Revisiting the Codex Buranus: Contents, Contexts, Compositions, Hrsg. Tristan E. Franklinos und Henry Hope, 2020

21. Juli 2024

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Den Namen Rachmaninow durfte man in Gegenwart von Nadia Boulanger nicht erwähnen. Die dramatische und tragische Geschichte dahinter hat mit Musikästhetik nichts zu tun. Sie würde das Format dieses Blogs sprengen, spielt aber eine Rolle im Salon Boulanger, einem musikalisch-literarischen Abend im Konzerthaus Berlin, am 19. November 2025, den ich für eine fantastische Besetzung konzipieren durfte. Das Trio Boulanger spielt Werke der Schwestern Lili und Nadia Boulanger, dazu Musik von Komponisten, die beiden (oder Nadia) nahestanden, wie Fauré, Debussy, Strawinsky, Piazolla. Verbunden ist das alles durch Texte, von Briefen und Tagebüchern über Gedichte und Zeitdokumente bis zu Dialogen, die von Christiane Paul und Ulrich Noethen gesprochen werden. Die Arbeit daran überschnitt sich teilweise mit der an einem anderen Projekt, das schon am kommenden Sonntag an die Öffentlichkeit kommt: ausgerechnet Sergej Rachmaninow! Seiner wunderbaren Rhapsodie über ein Thema von Paganini, 1934 für Klavier und Orchester in der nagelneuen Villa Senar in der Schweiz komponiert, ist die Folge der “Interpretationen” gewidmet, die am 27. Juli von 15.05 Uhr bis 17 Uhr von Deutschlandfunk Kultur gesendet wird: Letzter Lichtflug. Es sind da eine Menge spannender Funde zu machen, Jazz included. Und selbst Nadia Boulanger könnte diese Partitur gefallen haben… Nachtrag am 28. Juli: Die Sendung ist inzwischen online zu hören.