Deutsche Dämonen

Im Künstlerroman “Doktor Faustus” verfolgt Thomas Mann auch den Weg einer Nation vom Kulturvolk zum “Blutstaat”

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Der Hautarzt kommt ihm im Treppenhaus entgegen, klein, mit Hornbrille und Glatze, rötlichem Haar an den Schläfen „und einem nur unter den Nasenlöchern stehengelassenen Schnurrbärtchen, wie es damals in den oberen Klassen Mode geworden war und später zum Attribut einer welthistorischen Maske werden sollte.“ Es ist das Jahr 1906, der Schauplatz Leipzig, der junge Hitler im fernen Linz weiß noch gar nichts von dem Bärtchen, das er mal tragen wird. Aber mit dem Hautarzt stimmt etwas nicht, den der Romanheld Adrian Leverkühn da aufsucht, um eine „lokale Erkrankung“ weiterbehandeln zu lassen. Dieser Mann wird nämlich von zwei Männern an ihm vorbeigeführt, in Handschellen. „Ein andermal!“ sagt er noch zum Patienten. „Ein andermal“, das hallt nach, in vielfacher Hinsicht, im Echoraum des Doktor Faustus.

Es ist der letzte in jedem Sinne große Roman von Thomas Mann, groß an Umfang wie an Bedeutung, verfasst im Exil an der Westküste der USA und so komplex, dass selbst der Hauptplot auf schwankendem Boden steht. Der erzählt, wie der Titel ahnen lässt, von einem Teufelspakt. Der hochbegabte Tonsetzer Adrian Leverkühn, 1885 als Bauersohn nahe der Saale geboren, infiziert sich bei einer Prostituierten wissentlich mit der Syphilis und bekommt später Besuch vom Teufel, der ihm erklärt, der Krankheitsverlauf werde kreative Höhenflüge mit sich bringen, die allerdings zu bezahlen sind: mit Verzicht auf Liebe und begrenzter Schaffensfrist. Leverkühn wird zum bahnbrechenden Komponisten, bis er 1930 zusammenbricht und noch zehn Jahre dahindämmert.

Mit dieser Geschichte wird auch die deutsche Geschichte der Jahre bis 1930 erzählt, und die führt in den Abgrund. Die Parallele vom individuellen Teufelspakt hier und einem kollektiven da wird vom Autor gar nicht behauptet, stellt sich aber von selbst ein, weil Leverkühns Geschichte von einem fiktiven Biografen erzählt wird, der selbst mitten im deutschen Abgrund sitzt, im „Dritten Reich“ des Jahres 1943.

Der Biograf heißt Serenus Zeitblom und greift zeitgleich mit dem Autor in Los Angeles zur Feder. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, so lautet der Untertitel, und dieser Freund ist ein Altphilologe, wohnhaft im oberbayerischen Freising. Einer, der zwar wie Thomas Mann schreibt, aber doch ein ganz anderer und acht Jahre jünger ist, vorzeitig im Ruhestand, bei Beginn seiner Niederschrift 60 Jahre alt und nicht von vornherein ein Antinazi. Im September 1943 schwärmt Zeitblom sogar noch von „einem neuen Torpedo von fabelhaften Eigenschaften, das der deutschen Technik zu konstruieren gelungen ist“ und glaubt der Propanda. Viel mehr als Skepsis gegenüber „unserem Führer und seinen Paladinen“ bringt er anfangs nicht auf, und die Verfolgung der Juden wird von ihm zunächst zur „Behandlung der Judenfrage“ marginalisiert.

Am Ende ist der fiktive Biograf von Deutschland entsetzt

Im Verlauf seiner Niederschrift, die Zeitblom kurz vor Kriegsende abschließt, ändern sich sein Vorgehen und seine Einsichten, wobei er im ganzen Buch, ziemlich avanciert nicht nur für einen deutschen Altphilologen, die eigene Gegenwart, die letzten zwei Weltkriegsjahre, in die Erzählung einbindet. Sein Entsetzen über den deutschen „Blutstaat“ setzt ihn am Ende ganz dem Autor an die Seite, der seinerseits in den USA bis zum Januar 1947 an seinen 47 Kapiteln, rund 700 Seiten, arbeitet. 1945 hält Mann den Vortrag Deutschland und die Deutschen mit der Erwägung, dass das „Dämonische“ politisch wie musikalisch in den Deutschen stecke. Sie wirkt als Erklärung für das „Dritte Reich“ so schlicht wie schräg, und auch dem Doktor Faustus wird sie nicht gerecht.

Denn da wird zwar viel suggeriert, aber genau gelesen ist nicht mal sicher, ob sich der erkrankte Leverkühn den Teufel nicht selbst ausgedacht hat, dessen Worte er aufzeichnet und die sein Freund und Biograph später mitteilt, während schon Bomben fallen. Dieser Teufel erörtert die Krise der zeitgenössischen Musik ganz so wie Manns Berater im Exil, Theodor W. Adorno – „Die historische Bewegung des Materials hat sich gegen das geschlossene Werk gekehrt“ -, dann wieder altertümelt er frech: „Bist aber auch ein attraktiver Fall, das bekenne ich frei. Von früh an hatten wir ein Aug auf dich, auf deinen geschwinden, hoffährtigen Kopf, dein trefflich ingenium und memoriam…“ Er hat auch selbst den Leipziger Hautarzt aus dem Weg geräumt, der Adrian behandeln sollte und der seinerseits schon ein Teufelszeichen trägt…

Zeitblom nimmt das diabolische Gespräch für bare Münze – eine wilde Mischung, in der Thomas Mann auch seine persönliche Musikphilosophie unterbringt. Unter seinem Zentralgestirn Richard Wagner kreist sie von jeher um Zweideutigkeit, Dämonie, Todesnähe der Musik, die er als besonders „deutsche“ Kunst sieht. Von Wagner übernimmt Mann auch die Technik der Leitmotive, mit denen die Musik wie die Prosa immer mehr verrät, als die Protagonisten selbst wissen. Ein Rätselspiel der Andeutungen. Realitätsgesättigt sind dagegen die Milieus und Personen, die wir auf Adrian Leverkühns Wegen kennenlernen.

Seine Jugendstadt Kaisersaschern ist ein an die Saale versetztes Lübeck, wo man die Atmosphäre des späten 19. Jahrhunderts förmlich schmecken kann, eine Zeit, die ins nächste Jahrhundert viel weiter hineinragt, als uns sonst bewusst ist. Nach Studien in Halle und Leipzig zieht der Komponist 1910 nach München, „das München der späten Regentschaft, nur vier Jahre noch vom Kriege entfernt, dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemütskrankheit verwandeln und eine trübe Groteske nach der anderen darin zeitigen sollten“. Wie dort in den 1920ern die Lage abschüssig wird, zeigt sich an Personen, die mit ironischer Schärfe gezeichnet sind, oft nach realen Vorbildern – etwa Sixtus Kridwiß, Gastgeber eines präfaschistischen Zirkels, dessen „Scho` enorm wischtisch“ so einprägsam ist wie die meisten der rund 60 buntschillernden Charaktere.

Einen moderneren Roman hat Mann nie geschrieben

Die Inkubationszeit der deutschen Barbarisierung verläuft also chronologisch parallel zu Leverkühns Höhenjahren vor seinem Kollaps anno 1930. Das fasziniert auch ohne Gleichsetzung von genialem Hochmut und nationalem Größenwahn. Der Roman lässt vieles offen, auch die Grenzen zwischen Epochenpanorama, Milieustudie, Künstlerroman, Musikessay, fingiertem Making-of mit Apokalypse in Echtzeit. „Je pluraler der Text ist, desto weniger ist er geschrieben, ehe ich ihn lese“ – was Roland Barthes 1970 über Balzac schrieb, das scheint Doktor Faustus in einer Weise vorauszusetzen, die den Roman zum wohl modernsten Werk aus Manns Werkstatt macht.

Und dank der Leitmotive zum musikalischsten. Der Knabe Adrian etwa hat einen Schmetterling „von durchsichtiger Nacktheit“ bewundert, Hetaera esmeralda. So nennt später der Student auch die Prostituierte Esmeralda, bei der er sich infiziert, obwohl sie ihn warnt. Aus diesem Namen gewinnt er die Tonfolge h-e-a-e-es, die ihn auf einen neuen Gedanken bringt. „Man müsste,“ erklärt er 1910, „von hier aus weitergehen und aus den zwölf Stufen des temperierten Halbton-Alphabets größere Wörter bilden…“ Kurz gesagt, Leverkühn erfindet die Zwölftonmusik elf Jahre vor Arnold Schönberg, Thomas Mann Exilnachbarn in Los Angeles! Der sah, als er 1947 die Erstausgabe las, seine Erfindung als Teufelswerk missbraucht und beendete die Freundschaft.

Dabei hätte diesem Analytiker gefallen können, was da motivisch zu entdecken ist. Der Mann, der im neunzehnten von 47 Kapiteln in Handschellen abgeführt wird – ist er wirklich nur ein Leipziger Hautarzt mit neumodischer Barttracht?  Nicht nur das „Schnurrbärtchen“, das spätere Hitlersche, trägt er, auch rötliches Haar an den Schläfen. Genau wie der Teufel später, ob nun halluziniert oder nicht… Vielleicht steht der einfach für die Verführbarkeit der Menschen? Dann hält er mehr sicher bereit als nur diese eine „welthistorische Maske“, dieses ominöse Bärtchen. Wie vieldeutig wird da „ein andermal!“ Und wie aktuell.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Magazin ZEIT Geschichte “Thomas Mann”, erschienen im März 2025. Für die Edition auf dieser Website hat der Autor Zwischenzeilen ergänzt. Foto: Thomas Mann 1932 in seiner Münchner Villa, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15883

Felix, tust du nichts?

Die letzten beiden Jahre von Felix Mendelssohn Bartholdy waren von extremer Produktivität geprägt. Im Oratorium „Elias“ kulminiert ein Leben unter Hochdruck. Ein Blick zurück auf die Jahre 1846 und 1847

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„Ich bin zuweilen in meinem Zimmer hoch in die Höhe gesprungen, wenn mir’s gar so gut zu werden schien“, schreibt Felix Mendelssohn Bartholdy am Freitag, dem 15. Mai 1846, höchst zufrieden mit der Arbeit am Elias. Er sitzt in seinem Arbeitszimmer am Tisch, Blick nach Süden, draußen hört er die kleine Elisabeth krähen. Sie stört ihn nicht, er kann auch „unter Kinderlärm“ gut arbeiten. Vor acht Monaten ist sie zur Welt gekommen, das fünfte Kind des Gewandhausdirektors und seiner Frau Cécile. Platz genug haben sie hier in Leipzig, in der Beletage der Königsstraße 3, eine Viertelstunde vom Bahnhof entfernt. Acht Zimmer, Küche, Musiksalon, ein 23 Meter langer Korridor mit breiten Nadelholzdielen, alles in schlichtem Klassizismus dekoriert.

Es sind ein paar entspannte Minuten in einem Leben unter Hochdruck. Schon eine Woche später schickt Mendelssohn den fertigen ersten Teil des Oratoriums nach London, dann bricht er auf nach Aachen, um das Niederrheinische Musikfest zu leiten und bei der Gelegenheit die Sängerin zu treffen, der er an diesem Freitag noch mehr mitteilt. „Wenn ich heut blos schriebe, wie mir zu Muth ist, so schrieb ich in den ganzen Brief nichts als blos: Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen! Denn eigentlich denke ich in diesem Augenblicke doch gar nichts anders. Und wie ich mich darauf freue…“ Er möchte mit ihr eine Rheinfahrt machen, „und ich will Ihnen sagen, wie die Burgen heißen.“

Er plant auch schon eine Oper mit ihr in der Hauptrolle, Lore Ley. Spätestens am 4. Dezember 1845 ist ein Funke übergesprungen zwischen der 25jährigen Jenny Lind, der europaweit gefeierten „schwedischen Nachtigall“, und dem 36-jährigen Komponisten, Dirigenten, Pianisten. Es war das Debüt der Sopranistin im Leipziger Gewandhaus, ein Triumph. Die Billets kosteten doppelt so viel wie sonst, an zwei Abenden. Lind wurde von Mendelssohn am Flügel begleitet. Am Schluss aber begleitete sie sich zu einem schwedischen Nationallied selbst und verzauberte alle mit einem lang ausgehaltenen hohen fis im Pianissimo. Mendelssohn hat dieses fis dann obsessiv für die Sopranarie „Höre Israel“ übernommen, mit der der zweite Teil seines neuen Oratoriums Elias beginnt. Nach ihrem Gastspiel ist er mit Jenny Lind in der Eisenbahn ein Stück in Richtung Berlin gefahren, bis nach Dessau. Dort lebt der Theologe Julius Schubring, mit dem Mendelssohn sich über das Libretto des Elias berät.

Das Wunderkind ist früh auf dem Olymp angekommen

In Dessau hat aber gewissermaßen auch alles begonnen, mit Moses, dem Großvater von Felix. Ärmsten Verhältnissen enstammte er, im jüdischen Ghetto der Stadt war er aufgewachsen. Der 14-Jährige sprach neben Hebräisch und Jiddisch kaum Deutsch, als er 1743 nach Berlin aufbrach, seinem Rabbi folgend. Geradezu im Zeitraffer wurde aus diesem Jungen eine Schlüsselfigur der deutschen Aufklärung. Moses Mendelssohn lernte außer Deutsch auch Latein, Französisch, Englisch, wurde zuerst Hauslehrer, dann Geschäftsmann, dann Mitbegründer einer deutschen Literaturkritik, befreundet mit Kant, Herder, Lessing, Wegbereiter der jüdischen Emanzipation und „Schutzjude“ mit dem Recht auf Grundbesitz, Wohnungswechsel und Ausübung eines Gewerbes. Diese Privilegien gingen an seine sechs Kinder über, also auch an Abraham Mendelsohn, der als Bankier eine Bankierstochter heiratete, Lea Itzig, vielsprachig, hochmusikalisch.

Ihre Großtante hat das Klavierspielen noch bei Bachs Sohn Friedemann gelernt und in ihrem Wiener Salon Mozart empfangen. Auf so einem Level bewegt man sich da. Zwei der wohlhabendsten und kultiviertesten jüdischen Familien verbinden sich in der Ehe von Abraham und Lea. Doch die Gleichstellung der Juden, 1812 in Preußen verkündet, wird 1815 widerrufen. So lassen die Mendelssohns ihre vier Kinder taufen und konvertieren später selbst. Und sie lassen ihren Kindern Privatunterricht von einer Qualität und Spannweite angedeihen, als rechneten sie mit Universalgenies. Ausgeruht wird nie, aufgestanden um fünf Uhr morgens, um das Pensum zu schaffen. „Felix, tust du nichts?“ fragt Lea ihren Sohn, wenn er mit einem Freund plaudert.

Es erweist sich, dass Felix und seine ältere Schwester Fanny sprachlich und musikalisch wahnwitzig begabt sind. Dichterfürst Goethe persönlich testet mit Musikern in Weimar, ob der zwölfjährige Mendelssohn mit dem Wunderkind Mozart mithalten kann, und findet ihn sogar noch erstaunlicher. Felix ist früh auf dem Olymp angekommen – und trägt seither die volle Beweislast für den Triumph seiner Familie über alle Diskriminierungen. Mit 17 schreibt er die schwerelos geniale Musik zum Sommernachtstraum, mit 20 realisiert er die epochemachende Wiederaufführung der Matthäuspassion.

Lange ist das jetzt her, im Sommer 1846. In fünfzehn, sechzehn Jahren kann viel passieren. Die Pariser Julirevolution 1830 hat das Gesicht Europas ebenso verändert wie die Eisenbahn. Man kann das Schienennetz in Mendelssohns Briefen kilometerweise wachsen sehen, seit 1837 das erste Teilstück zwischen Leipzig und Dresden eröffnet wurde. Als er mit seinem Violinkonzert fertig wird, im September 1844, zeichnet er ein Biedermeiersofa, auf dem er und seine Frau Tee trinken, während sich Gouvernanten um die Kinder kümmern – und unten auf demselben Blatt fährt die Eisenbahn, Modell Saxonia, die erste deutsche Dampflok, präzise dargestellt. Mendelssohn ist der einzige Komponist neben Hector Berlioz, dem die Züge mit maximal 40 Stundenkilometern nicht schnell genug sind. Kein Wunder bei seinem Terminkalender. Seit 1835 ist er Direktor der Leipziger Gewandhauskonzerte, parallel dirigiert er dann in Berlin, 1843 wird das Leipziger Konservatorium eröffnet, das auf Mendelssohns Initiative entstanden ist und von ihm geleitet wird, mit Stipendien für mittellose Hochbegabte. Er kümmert sich um bessere Bedingungen für Orchestermusiker; er leitet die Uraufführung der neu entdeckten, letzten Schubert-Sinfonie; er ist innovativ an allen Ecken. Ein goldenes Dutzend Jahre, das die Leipziger später mit einem Mendelssohn-Denkmal vor dem Gewandhaus würdigen. 1936 wird es von den Nazis abgeräumt. Der Antisemitismus ist Staatsdoktrin geworden, auf den schon Mendelssohn selbst immer wieder stieß – außer im Vereinigten Königreich.

Zehnmal reist er dorthin, erstmals 1829. Man liebt ihn in Großbritannien, er wird dort wie ein Popstar gefeiert. Er schreibt und spricht Englisch so fließend wie Französisch. London hat schon den 20-jährigen tief beeindruckt: „Es ist entsetzlich! Es ist toll! Ich bin confus und verdreht! London ist das grandioseste und complicierteste Ungeheuer, das die Welt trägt. […] Seht die Läden mit den Manns hohen Inschriften, und die stage coaches, auf denen die Menschen sich aufthürmen, […] und wie die Menschen gebraucht werden, um Ankündigungszettel herumzutragen, auf denen man uns die graziösen Kunststücke gebildeter Katzen verheißt, und die Bettler, und die Mohren, und die dicken John Bulls mit ihren dünnen, schönen zwei Töchtern an den Armen.“

Eine innige Nähe zu den alten Meistern Bach und Händel

In London verfasst er 1837 auch einen ersten Textentwurf zum Elias, lange bevor es einen Auftrag gibt. Fast 70 Sakralwerke hat Mendelssohn komponiert. Mit den Meistern des Barock so vertraut, wie es zu dieser Zeit überhaupt nur möglich ist, hat schon der 16-Jährige in seinem Oktett den Messias von Händel zitiert; im Finale der Reformationssinfonie des 20-jährigen wird Luthers Choral Ein feste Burg ist unser Gott kontrapunktischen Eskapaden unterworfen, die selbst Bach hätten aufhorchen lassen. Die innige Nähe zu alten Meistern ist in die Musiksprache Mendelssohns integriert. Das Disparate und Desperate stellt er dabei ungern aus – „Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider“, heißt es im Elias.

Da ist Berlioz ganz anders, der Freund und Antipode, mit dem sich Mendelssohn, wenn auch skeptisch, auseinandersetzt. 1831 verurteilt er die Symphonie fantastique in einem Brief noch als „Grunzen, Schreien, Kreischen“, doch zwölf Jahre später darf Berlioz das Werk mit dem Gewandhausorchester aufführen, wo Mendelssohn am Klavier die Harfenpartie übernimmt. Im Februar 1846 hat er den Leipzigern wieder einen Avantgardisten zugemutet und Richard Wagners Tannhäuser-Ouvertüre dirigiert. Der einzige Hörer, dem sie gefiel, war offenbar der dänische Autor Hans Christian Andersen, Mendelssohns Gast.Mendelssohn Zimmer

Donnerstag, 23. Juli 1846. Inzwischen sind es nur noch vier Wochen bis zur Uraufführung des Elias in Birmingham, und Mendelssohn ist noch nicht fertig. Er lebe seit der Rückkehr vom Rhein so arbeitsam „wie ein Hamster“, schreibt an Jenny Lind. „Da ich von Mitte des nächsten Monats an bis zum September wieder ein wenig in der Welt herumschweifen werde, so könnte es ja sein daß wir uns irgendwo um eine Woche, oder um einen Tag, oder um eine Meile fehl gingen. Und das könnte mich sehr verdrießen. Denn wenn’s nicht gerade sein muß, daß es mit unserm nächsten Wiederzusammentreffen bis zum Frühjahr dauert, so wäre mir’s schon ganz recht.“ Aber so lange wird es doch dauern.

Auf den letzten Metern schreibt er noch die Ouvertüre für den Elias. Eigentlich wollte er keine, das Werk soll mit dem Fluch des Elias beginnen. Aber sein englischer Übersetzer William Bartholomew hat ihn auf die Idee gebracht, den Orchestertreibsatz nach dem Rezitativ zu bringen. Es wird eine raffinierte Fuge, deren Thema den Tritonus, das Intervall des Fluchs, enthält. Er hat sie nach der Niederschrift im Kopf; bei der ersten Durchspielprobe am 19. August in London spielt er sie aus dem Gedächtnis, ehe er sich mit den Primadonnen plagt: Die eine möchte „Höre Israel“ einen Ganzton tiefer singen (was würde da aus dem Jenny-fis!), die andere überrascht mit Extratrillern. Mit den Solisten, etlichen Orchestermitgliedern, Choristen und einem Presseteam steigt Mendelssohn am 23. August in den Sonderzug nach Birmingham. Elias ist das Hauptevent des Festivals dort, man erwartet ein Epochenereignis, es wird auch eines.

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Der Schluss der Uraufführung von „Elias“ geht in rasendem Beifall unter

Am Mittwoch, 26. August, versammeln sich in der Stadthalle 125 Orchestermusiker, 271 Chorsängerinnen und Chorsänger, die Solisten und ein Publikum von 2000 Menschen, darunter Prominenz aus Politik, Adel und Kirche. Gejubelt wird schon zu Beginn, acht Nummern müssen wiederholt werden, das Ende des Schlusschors geht in rasendem Beifall unter. Es ist, der Uraufführung von Mahlers Achter vergleichbar, der größte Erfolg, den Mendelssohn je mit einem neuen Werk erlebt hat. Und wie dort kommt auch hier eine lebenslange Auseinandersetzung mit Religion -  fünfzehn Jahre nach der von Mendelssohn verworfenen Reformationssinfonie – zu einer Lösung jenseits der Dogmen. Mehr noch: Das Drama Elias ist auch die große Oper, die Mendelssohn nie schrieb.

„Noch niemals ist ein Stück von mir bei der ersten Aufführung so vortrefflich gegangen und von den Musikern und den Zuhörern so begeistert aufgenommen worden“, schreibt er an den jüngeren Bruder Paul in Berlin. An Fanny, die ältere Schwester, hat er kurz vor der Reise einen weit wichtigeren Brief geschrieben. Einen Monat lang hat sie darauf warten müssen. Fanny war vierzehn, als ihr der Vater erklärte, für sie werde die Musik „stets nur Zierde“ sein, nie Beruf. Jetzt aber, 40 Jahre alt und Mutter eines 16jährigen Sohnes, hat sie den Bruder um sein Einverständnis gebeten, dass sie sechs Lieder als opus 1 unter ihrem Namen drucken lässt. Der 37-jährige erteilt ihr den „Handwerksegen“. Die beiden treffen sich im Dezember 1846 in Berlin, wo Felix seiner Schwester Teile des Elias vorspielt. Inzwischen hat er mit der Überarbeitung seines Oratoriums begonnen, dazu kommen seine Verpflichtungen am Gewandhaus mit fünf Programmen bis zum März – einschließlich der Uraufführung der Zweiten Sinfonie des fast gleichaltrigen Freundes Robert Schumann. Nach dem letzten Konzert am 18. März teilt Mendelssohn mit, dass er die Leitung der Konzerte niederzulegen wünscht. „Ich denke jetzt oft an Ihre Fragen auf dem Rheinischen Dampfboot“, hat er schon im Oktober an Jenny Lind geschrieben, „ob ich nicht wieder von Leipzig fortgehen würde, und daß Sie wünschten ich möchte nicht immer in Leipzig bleiben & c. & c. – Sie haben wohl Recht gehabt… “

Derweil ist die politische Lage angespannt, die Hungersnot in Deutschland führt zu Unruhen. „Du wirst dieselbe Verstimmung und dieselbe Unzufriedenheit überall, durch ganz Deutschland verbreitet finden“, schreibt Mendelssohn Anfang 1847 seinem Schwager, der einen Wegzug aus Berlin erwägt. „Die Besserung der allgemeinen Krankheit kann nur durch ganz andre Dinge, oder durch eine sehr starke Crisis kommen. Auch ein drittes kann kommen, und ist in Deutschland leider nicht das unwahrscheinlichste: es kann alles beim Alten bleiben.“ Die Märzrevolution 1848 wird Mendelssohn nicht mehr erleben, aber er scheint schon zu wissen, wie sie ausgeht.

Drei Tage Fahrt bis Köln, ein weiterer per Bahn bis Oostende, fünf Stunden auf dem Liniendampfschiff nach Dover, fast noch mal so viele Schienenstunden bis London. Als Mendelssohn dort am 12. April eintrifft, fällt einem Freund sein ungewöhnlich müder Gesichtsausdruck auf. Aber ein gewaltiges Programm steht bevor – sechs Aufführungen des Elias in London, Manchester, Birmingham, ein zusätzliches Konzert, bei dem der Musiker Beethovens viertes Klavierkonzert spielt (natürlich aus dem Gedächtnis) und seine Schottische Sinfonie sowie die Sommernachtstraum-Musik dirigiert – und Jenny Lind wiedersieht, die ebenso dabei ist wie Queen Victoria und Prince Albert. Sie singt in London die Hauptrolle in Meyerbeers Robert le Diable. Natürlich geht er hin, obwohl er diesen blockbuster als „Dekorationsmalerei“ verachtet. Alles andere steht wohl in den Briefen, die nach Jennys Tod 1887 ihr Ehemann entdeckt – und verbrennt.

Der Tod seiner Schwester Fanny ist der größte Schmerz seines Lebens

Vielleicht aber hört man etwas von dieser Passion auch noch im letzten bedeutenden Werk, das Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt und dessen Auslöser der wohl größte Schmerz seines Leben ist. Fanny Hensel, die seit Monaten wie im Rausch komponierte, zuletzt ein Klaviertrio in d-Moll, hat bei der Probe zu einer ihrer Sonntagsmusiken einen Schlaganfall erlitten, am 14. Mai ist sie gestorben, zwei Tage später erfährt es ihr Bruder, der auf der Rückreise von London in Frankfurt Station macht. Er flieht vor dem Schmerz in einen mehrmonatigen Urlaub mit der Familie in die Schweiz, wo er im August das f-Moll-Streichquartett schreibt. Es zeigt einen so anderen, subjektiven, rücksichtslosen Komponisten, als hätte er uns bis dahin etwas verschwiegen.

Seine Tonsprache erreicht eine Zerrissenheit und Intensität, die die neue Dringlichkeit des Elias noch übertrifft. Das ist nicht nur ein Requiem für Fanny. Diesen Mann zerreißt vieles. Den letzten seiner Briefe muss Cécile für ihn schreiben, am 1. November 1847 an einen Wiener Veranstalter: „Mein Mann [ist] in diesem Augenblick noch bettlägerig, mit schrecklichen Schmerzen geplagt.“ Drei Tage zuvor hat Mendelssohn einen Schlaganfall erlitten, dem nächsten erliegt er am 4. November. Lebenslange Anspannung, unlebbare Liebe, größter Verlust geraten da ineinander, in keinem Klang mehr aufzulösen.

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das  MAG 123, Mai 2025, die letzte Ausgabe des Magazins der Oper Zürich zum Ende der dreizehnjährigen Intendanz von Andreas Homoki. Am 9. Juni 2025 findet die Premiere von Mendelssohns Oratorium Elias statt, inszeniert von Andreas Homoki, dirigiert von Gianandrea Noseda, Solisten u.a.: Christian Gerhaher, Julia Kleiter, Wiebke Lehmkuhl. Illustrationen: William Turner, Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844, National Gallery, London, Quelle: Wikipedia; Mendelssohns Arbeitszimmer (nach seinem Tod) in Leipzig, Aquarell von Ferdinand Schiertz, Quelle: Mendelssohn-Haus Leipzig;Birmingham Town Hall, 1845, Quelle: Wikipedia

28. Mai 2025

>[Nachtrag vom 20. August 2025: Das bislang hier verlinkte Porträt von Bianca Castafiore ist ab heute, leicht bearbeitet, für eine Zeitlang nur bei VAN zu lesen.] Bianca Castafiore, die neben Maria Callas wohl berühmteste Opernsängerin des 20. Jahrhunderts, ist die 33. Diva, die ich für die Oper Zürich getroffen habe, wenn man davon absieht, dass die meisten Sopranistinnen von heute keine Diven sein möchten und mit dem Begriff allenfalls spielen wie Marlies Petersen, die ihr in Griechenland selbst produziertes Olivenöl “Diva Oil” nennt. Mit La Castafiore endet die Serie Volker Hagedorn trifft…, die 2015 mit einem Besuch bei Waltraud Meier begann. Zusammen mit einigen Porträts noch vor dem Start dieser Serie sind es 99 Künstler*innen, die der “Hofporträtist” des Hauses treffen durfte, wobei für einen erkrankten Sänger auch schon mal Claudio Monteverdi als Interviewpartner einsprang. Die größte Gruppe – eben die Sopranistinnen – wird gefolgt von 19 Dirigent*innen, 12 Tenören, 6 Baritonen, 4 Countern… aber auch Tänzerinnen, Geiger, Bühnenbildner sind dabei und Komponist*innen. Noch längst nicht alle habe ich unter “Begegnungen” auch auf dieser Website versammelt. Aus mehreren Treffen wurden auch Interviews für das Magazin VAN.
Nun endet nach dreizehn Jahren die Intendanz von Andreas Homoki in Zürich, der ich, wie dem Chefdramaturgen und Magazinmacher Claus Spahn, unschätzbare Begegnungen mit wunderbaren und extrem unterschiedlichen Menschen und Künstlern verdanke, ganz gleich, ob sie zu den Großen unserer Zeit gehören oder am Beginn ihres Weges sind – beziehungsweise waren: Als ich vor neun Jahren in Frankfurt Lise Davidsen traf, sagte sie mit Blick auf Wagners Brünnhilde noch: “Bis dahin habe ich viel zu lernen.” Inzwischen hat die New Yorker MET Davidsens Debüt in dieser Rolle angekündigt… Letzte Produktion in Zürich vor dem Antritt des neuen Leitungsteams um Matthias Schultz ist Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium Elias von 1846, von Homoki inszeniert. Ich bin für das MAG dem Komponisten in seine beiden letzten Jahre gefolgt, von Leipzig bis London, in deren Zentrum nicht nur dieses Werk steht, sondern auch eine unlebbare große Liebe.
Eines der bedeutendsten, vielleicht auch bahnbrechenden Werke unserer Jahre war jetzt in Hannover zu erleben. Eindrücke von Georg Friedrich Haas´ Mikrotonwunder 11.000 Saiten sind bei VAN zu lesen: Vögel, Lava, Pollock und Titanen.