“Ich sang alles, was die Leute wollten…”

Offenbach, Zemlinsky, Rameau – es gibt kaum einen vielseitigeren Sänger als den Südfranzosen Mathias Vidal. In Zürich verkörpert er die tragikomische Titelheldin von Rameaus Oper “Platée”

In dieser Probe ist er nicht die Hauptperson, und das passt ganz gut zu Mathias Vidal als dem, der er jenseits der Bühne ist. Extrem bescheiden. Wie intensiv er sein kann, stimmlich, szenisch, das wissen die Zuschauer und Kollegen seines gewaltigen Repertoires von Monteverdi bis zur Moderne, aber dieses Potenzial wird jetzt gerade nicht gebraucht. Er steht am Rand der Probebühne und wartet, bis La Folie, die funkelnde Sopranistin Mary Bevan, und die acht Tänzer ihn erreicht haben, umschlungen, ihm einen Hut aufgesetzt, ihn und seine Kollegin zu einem Tänzchen geführt haben, das vorn am Cembalo gespielt wird, während Emmanuelle Haïm mit Schwung dirigiert. Abbruch. Regisseurin Jetske Mijnssen tauscht sich mit dem Choreografen Kinsun Chan aus, Haïm überprüft selbst ein paar Takte am Cembalo, Mathias Vidal trinkt einen Schluck Tee.

Es ist eine von diesen Proben, bei denen aus wenigen Takten mehrere Baustellen werden, ineinander übergehend, in denen zwischen Konzept und Improvisation etwas so Komplexes zusammenwächst, dass man als Zaungast nicht gleich durchblickt und umso mehr die gut gelaunte Gelassenheit geniesst, mit der alle dabei sind. Und natürlich die Musik, diesen Rameau’schen Tonfall, der aus dem späten französischen Absolutismus schon in andere Zeiten vorzugreifen scheint, der noch etwas filigran Barockes hat und schon… ja, was? Als Mathias Vidal und Theo Hoffmann, der den sarkastischen Kleingott Momus spielt, einen knappen Dialog singen, schwebt ein Hauch Offenbach über die Szene, etwas Französisches jenseits der Revolution, von der Platée noch gut vier Jahrzehnte entfernt ist, die Komödie mit der Tenor singenden Sumpfnymphe.

«Gounod, Massenet, Bizet», sagt Mathias Vidal, als wir uns im Foyer darüber unterhalten. «In diese Richtung muss man Rameau singen. Es ist dieselbe Familie, dieselbe DNA. Das ist nicht Lully oder Charpentier, wir sind in der grossen französischen Oper.» Das gelte nicht zuletzt für seine Partie. «Für einige in Frankreich bin ich überhaupt nicht der Beste für dieses Repertoire. Sie wollen die Stimme sehr leicht für das ganze Barock, meine ist ihnen zu stark. Dabei habe ich keine Siegfriedstimme! Aber Rameau, das ist keine Kammermusik.»

«Haute-contre» habe nichts mit Countertenor zu tun, es bedeute bei Rameau einfach Tenor, so wie «dessus» die alte Bezeichnung für Sopran ist, «bas-dessus» für Mezzosopran, «taille» für Bariton und «basse-taille» für Bass. Allerdings: Bei Marc-Antoine Charpentier, 40 Jahre vor Rameau geboren, «liegt Haute-contre viel höher. Das kann ich nicht singen, unmöglich, da singe ich immer taille! Also, vorsichtig sein mit der französischen alten Musik!» Er lacht.

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Mathias Vidal ist zierlich, hat dunkle Locken, braune Augen, einen knappen Bart und entspricht optisch durchaus dem Klischee vom Südfranzosen, der er ist, vor knapp 46 Jahren an der Cote d’Azur im Hafenstädtchen Saint-Raphaël zur Welt gekommen als Sohn eines Amateursaxophonisten. Mehr erzählt er über seine Eltern nicht, und dass er selbst eine Familie und Kinder hat, findet er nicht unbedingt erwähnenswert. Er selbst begann als Siebenjähriger mit dem Klavierunterricht. Als er in Nizza studierte, 50 Kilometer nordöstlich von seiner Vaterstadt, interessierten ihn Musikwissenschaft, Chor- und Orchesterleitung und immer mehr der Gesang. Das fing an im Chor der Oper von Nizza. Im kleinen Gattières nördlich dieser Stadt sang Mathias mit 20 Jahren zum ersten Mal eine Rolle in Hoffmanns Erzählungen. Von da war es ein grosser Sprung ans Pariser Conservatoire, wo er Gesang bei Christiane Patard studierte.

«Ich lernte alles bei ihr, mit sehr guter italienischer Technik, die lehre ich nun selbst. Sie starb leider vor zwei Jahren, sonst wäre ich jede Woche in Paris. Man braucht immer einen Lehrer, wenn man Sänger ist.» Rameau war damals noch in weiter Ferne, aber nicht Emmanuelle Haïm, die um 16 Jahre Ältere, die als Lehrbeauftragte ihm und anderen Studentinnen und Studenten Musik von Claudio Monteverdi nahebrachte. «Bis ich 25 war, habe ich eigentlich nur Belcanto gesungen, italienische Oper. Das sind auch meine Wurzeln, eine meiner Grossmütter kommt aus Sizilien, und sie sang dauernd diese Arien… Nach dem Konservatorium sang ich zum ersten Mal französische Romantik. Keine Hauptrollen!»

Das war in Compiègne, jener nordfranzösischen Stadt, die außer ihrer historischen Bedeutung für Frankreich wie für Deutschland auch ein Théâtre Impérial aus der Zeit Napoléons III. hat, seit langem bekannt für seine Opernausgrabungen. Hier debütierte Mathias 2004 in Bizets noch nie aufgeführter Oper Noé, «und in derselben Saison sang ich Rossinis Barbier, Offenbachs La Périchole und ein bisschen frühe französische Musik mit Gérard Lesne, dem berühmten Counter. Ich sang alles, was die Leute wollten, ich dachte einfach, ah, da ist ein Job für dich!» Dieser bunte Start ins Bühnenleben scheint wegweisend bei einem, den man in Frankreich «éclectique» nennt, in vielen Genres zu Hause und nicht leicht zu etikettieren. Ist das ein Problem?

«Es wechselt von Haus zu Haus, wie man besetzt wird. Hier Rameau, da Operette…» Nein, das Hauptproblem ist ein anderes, und es gilt für alle französischen Sänger: «Wir haben tolle Musiker und nur 20 Operntheater, das ist nichts. In Deutschland gibt es 120. Warum? Theater in Nantes und anderen Grossstädten zeigen viel weniger Vorstellungen als zum Beispiel das in Oldenburg. Die festen Ensembles sind vor 40 Jahren verschwunden. Es gibt also nur Gastspiele. Wenn du in Frankreich auftrittst, geht es um das Leben, du hast nur einen Schuss! Wir versuchen diese musikferne Mentalität zu ändern, das geht nur langsam.» Umso lieber denkt er an den Erfolg, den eine Koproduktion der Theater von Lille und Rennes hatte, die 2017 Zemlinskys Einakter Der Zwerg auf die Bühne brachten. Es war der norwegische Talentscout Pål Christian Moe, der Mathias für die tragische Titelrolle empfahl.

Wer ihn im Mitschnitt erlebt, begreift sofort, warum das einschlug. Eine Stimme, die den Worten folgt, die fleht und nicht prunkt, eine Körpersprache, die zeigt, was dieser «Zwerg» vor allem ist – ein zutiefst verunsicherbares Wesen. «Ich war sehr glücklich mit diesem Charakter», meint er, «und mit der Atmosphäre dieser Musik, der Harmonik. Wir haben in Frankreich auch Werke aus dieser postromantischen Periode, aber die sind eleganter. Bei Zemlinsky ist es sehr real. Und auf Deutsch zu singen ist zwar nicht einfacher, aber klarer. Die Worte verbinden sich besser.»

Tatsächlich fiel ihm der Weg zu Zemlinsky leichter als der zu Rameau. «Ich war sehr langsam mit diesem Komponisten, und bei meiner ersten Produktion war ich improvable, denn es ist sehr schwer. Das Schwierige ist, die Ornamente und eine grosse Stimme zusammenzubringen. In der ersten Woche der Proben wird die Stimme erstmal klein, weil man alle Töne erwischen will. Man muss zu einer bestimmten Flexibilität finden.» Die Zürcher Platée ist die dritte, die Mathias auf der Bühne singt – nach Produktionen in Frankreich und Japan –, aber die erste, bei der die von den Göttern genasführte hässliche Nymphe eben keine ist, sondern ein männlicher Souffleur, der sich in einen Startänzer verliebt. Für ihn macht das keinen fundamentalen Unterschied. «Es sind dieselben Gefühle, dasselbe Spiel zwischen den Charakteren. Und die Figur ist sehr reichhaltig, naiv und anmassend, komisch, romantisch, tragisch.»

Ein Wunsch freilich bleibt offen. Ideal für Rameau und den Stimmumfang eines Haute-contre, meint er, sei ein Stimmton von 400 oder 405 Hertz statt 415 wie hier, «aber für Platée ist das okay, es ist eine Komödie!» Um was genau, frage ich ihn, geht es eigentlich in der komplexen Szene, die gerade geprobt wurde? «Platée wartet auf ihre Hochzeit mit Jupiter», sagt er in seinem sanften südfranzösischen Englisch. «She is enjoying moments. And… that’s it.»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 107 der Oper Zürich, auf deren Website er ebenfalls zu finden ist. Die Premiere von Platée fand am 10. Dezember 2023 statt.

Die Weite der nördlichen Zonen

Sinfonische Entgrenzungen von Esa-Pekka Salonen, Edvard Grieg und Jean Sibelius

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Für Helix braucht man inzwischen wohl eine Triggerwarnung. Eine über neun Minuten sich erstreckende Beschleunigung, mit der ein Crescendo des ganzen Orchesters (fünf Schlagzeuger eingeschlossen) verbunden ist, könnte Angstzustände auslösen. Doch bislang mündete das Stück, das Esa-Pekka Salonen 2005 schrieb, meist in den Jubel eines Publikums, das Freude am pannenfreien Heißlaufen eines großen Orchesters hat. Zu dessen Virtuosen gehört der 1958 geborene Finne als Dirigent und als Komponist. Einer, dem das Material garantiert nicht um die Ohren fliegt und der es auch nicht zerkratzt. Man findet bei Salonen keine Geräusche, sondern das Orchester etwa in jenem Zustand, in dem Strawinsky es mit seinem Le Sacre du printemps hinterließ. Das gilt auch für das rhythmische und harmonische Vokabular. In Helix wird es maximal verdichtet, dem Prinzip einer um einen Kegel gewickelten Spule folgend. Aber Salonen überlässt das Material nicht einfach nur sich selbst. Und er bringt es so behutsam in Gang, dass wir Zeit haben, uns innerlich anzuschnallen…

9. April 1870, Rom. Die Basilika Santa Francesca Romana unfern des Kolosseums wurde einst in den Ruinen eines Venustempels errichtet. Eine passendere Adresse konnte sich Franz Liszt nicht aussuchen, der hier eine komfortable Wohnung im Kloster hat. 58 Jahre alt ist er jetzt, seit vier Jahren Abbé mit niederen Weihen, stets in der Soutane und doch immer noch der funkelnde, gefeierte Virtuose des Lebens und der Kunst.  An diesem Samstag scharen sich junge Damen um ihn, „die Liszt gern mit Haut und Haaren gefressen hätten“. So beobachtet es ein junger Besucher aus Norwegen, dessen Partitur Liszt gerade auf den Chickering-Flügel in der großen Halle des Klosters gestellt hat: Edvard Grieg. Dann sind da noch Griegs Komponistenfreund August Winding, der hochbegabte Pianist und Dirigent Giovanni Sgambati und ein deutscher Bewunderer, der Liszt imitiert und selbst ein Abbékostüm angelegt hat.

Es ist eine schwankende Zeit, in der sich diese bunte kleine Gesellschaft im sakralen Ambiente versammelt. Noch, aber nicht mehr lange ist ganz Rom ein Kirchenstaat, Enklave im jungen Königreich Italien. Es herrscht jene Atmosphäre des Umbruchs, in der einer wie Liszt aufblüht. „Wollen Sie spielen?“, fragt er Grieg, der mit dem Manuskript seines a-Moll-Klavierkonzerts gekommen ist. „Ich kann nicht“, bekennt der 26-Jährige, das Stück müsse er erst noch üben. „Dann werde ich Ihnen zeigen, dass ich es auch nicht kann“, sagt Liszt und lächelt seltsam. Die Damen drängen sich näher um ihn und starren auf seine langen, schmalen Finger. Winding und Grieg, die beiden Norweger, sehen einander an, skeptisch. So etwas kann man nicht vom Blatt spielen, noch dazu aus dem Manuskript.

Liszt stürzt sich hinein in die Kaskaden des Anfangs, zunächst viel zu schnell. Aber dann beginnt er sich in der Musik umzusehen, die seine Hände mühelos aus der Partitur zaubern. Natürlich hat er gleich erkannt, dass die a-Moll-Kaskaden zu Begin denen von Robert Schumanns Klavierkonzert folgen – Grieg hat das schon als 15-jähriger Leipziger Student mit Clara Schumann am Klavier erlebt -, aber ganz andere Welten wachrufen. Kleine Sekunde und große Terz abwärts, das kommt aus der norwegischen Folklore, die Liszt nicht kennt, aber eine neue, starke Sprache erkennt er, so, wie er schon als 18-jähriger in Paris das Genie von Berlioz erkannte und in der Uraufführung Symphonie fantastique einfach aufschrie.

Das tut er jetzt nicht, aber immer wieder kommentiert er beglückt, während er spielt. Es mögen die gnomenhaften Punktierungen im Klavier sein, später das herrliche E im Horn über fis-Moll, dann ein paar harmonische Tricks, die simpel sind und doch taufrisch wirken, wie nie vorher gehört. Ohne die Anstrengung, das Zielgerichtete der Deutschen um Schumann und Brahms, freier, unter sehr weitem Himmel, auch fern von Rom. Mit Norwegen im Sinn hat Grieg sein Klavierkonzert in Søllerød nahe Kopenhagen begonnen und in Oslo vollendet.

Kurz vor Schluss springt Liszt auf und brüllt “Famos!”

Im Adagio ist Liszt sogar noch begeisterter. Er spielt das sanfte, sarabandenhafte Thema – so dürfen wir es uns vorstellen – wie die Erzählung einer großen Liebe, und seine Ornamente sind wie Zärtlichkeiten. Ohne Pause geht es danach ins Finale, in dem besonders die Norweger in der Klosterhalle nur staunen können. So, wie Liszt nach dem heftigen norwegischen Männertanz die völlig überraschende Idylle, das schwebende Thema der Flöte erscheinen lässt, sieht man hier, dem schmutzigen Tiber nahe, einen klaren endlosen Fjord vor sich. Wie Liszt später im Presto die Betonungsänderungen, die Hemiolen greift, als hätte er sie selbst dorthin gesetzt, aus zwei schnellen Dreiertakten einen langsamen machend – und wie er dann aufspringt. Ja, er springt auf, vier Takte vor Schluss, und seine Anbeterinnen treten erschrocken zurück vom Flügel.

Gerade hat er noch mit der linken Hand eine rasende Skala aufwärts genommen und mit der rechten Trompeten und Posaunen erschallen lassen. Die machen aus dem idyllischen Flötenthema ein Maestoso wie für den Circus Maximus, und aus dem Gis, dem Leitton für a-Moll, ist ein G geworden, gegen alle Schulregeln. Liszt brüllt das Thema geradezu, während er mit erhobenem Arm und hochgewachsen, wie er ist, durch die Halle schreitet. „G, g, nicht Gis! Famos!“ ruft er. Diese Szene wird später in keinem Text über das Werk fehlen, aber genau wie Griegs Konzert wird sie durch Wiederholung nicht schwächer… Liszt setzt sich wieder hin und spielt die letzten 18 Takte noch mal richtig. Nimmt die Noten, gibt sie dem Komponisten und sagt, leise und bewegt: „Fahren Sie so fort, Sie haben das Zeug dazu.“

Auch für Jean Sibelius wird Franz Liszt wichtig, aber auf andere Weise. Liszt ist schon seit fünf Jahren in Bayreuth begraben, als dort im Sommer 1894 der 28-jährige Finne, überwältigt von Tristan, Parsifal und Die Meistersinger, in eine Krise gerät und sich von eigenen Opernplänen verabschiedet. „In Wirklichkeit bin ich ein Tonmaler und Dichter“, schreibt Sibelius seiner Frau Aino. „Ich stehe der Meinung von Liszt über die Musik am nächsten…“ Das ist allerdings eher eine Bestätigung des Wegs, auf den sich Sibelius mit Kullervo längst begeben hat, einer Komposition der Heldensage aus dem finnischen Nationalepos Kalevala. Die Uraufführung 1892 in Helsinki ist sofort als „Geburtsstunde der finnischen Musik“ gefeiert worden, und das sagt schon einiges über das Spannungsfeld, in dem sich Jean Sibelius bewegt.

Da ist der kulturelle und politische Einfluss Schwedens einerseits und Russlands andererseits, eine komplexe Geschichte, keineswegs nur eine der Unterdrückung, die zum Erwachen eines finnischen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert führt. Es gibt eine unter schwedischer Herrschaft etablierte europäische Kultur, es gibt seit 1809 ein russisches Großfürstentum Finnland mit schwedischen Gesetzen, und mit dem wirtschaftlichen Erfolg Finnlands wächst der Wunsch nach Autonomie, die Suche nach eigener Identität. Für diese spielen die überlieferten Tonformeln eine große Rolle, mit denen die Verse aus der Kalevala zu rezitieren sind, gebildet aus einem melancholischen Fünfklang in Moll. Hunderte dieser Formeln sind im 19. Jahrhundert in Finnland aus der mündlichen Überlieferung transkribiert worden, und sie inspirieren Sibelius.

Doch nicht weniger beeindruckt ihn in Wien 1890 eine Aufführung von Bruckners Dritter Sinfonie. Bruckner, Wagner, Liszt, dazu noch Tschaikowsky – das sind die Zeitgenossen, die Sibelius anregen. Tschaikowsky in der Körperhaftigkeit des Orchesterklangs, Liszt als komponierender Erzähler, Wagner als Faszinator, zu dem jeder eine eigene Position finden muss, Bruckner als Outsider, der das Arbeiten an Sinfonien in ein neues Universum geführt hat. All diese Einflüsse treffen sich mit Sibelius´ „finnischem“ Ton in seiner Zweiten Sinfonie so offen wie vorher und nachher nicht, ein Werk übrigens, dessen Entstehungsgeschichte 1901 auf einer Italienreise beginnt, nicht in Finnland.

Wie nach und nach ein Thema erscheint

Eigentlich zeigt jeder Satz eine andere Position inmitten der Strömungen, der erste wohl die am meisten ausbalancierte. Wie sanft uns die Streicher entgegenkommen, mit welcher Selbstverständlichkeit sich alles entfaltet – das hat etwas vom Erleben einer Landschaft. Wenn man sich das Material näher ansieht, kommt hinter dem Naturhaften eine geniale Themendisposition zum Vorschein, besonders beim nachhaltigsten Thema. In voller Größe erscheint es erst nach zwei Dritteln des ersten Satzes. Es ist uns aber vorher schon nach und nach bekannt geworden, wie ein Berg, den man auf kurvigem Weg zunächst in Auschnitten oder umrisshaft durch das Laub der Bäume schimmern sah. Den ersten Teil dieses Themas spielen die Holzbläser schon früh: Ein über dreieinhalb Takte gehendes C, von dem eine kleine Wellenbewegung aus Achteln in eine Quinte nach unten mündet.

Es ist da noch umhüllt von Blechbläsertönen und dem Bogenvibrato der Streicher, mit dem der Satz begann. Zusammen mit den Streichern ist es wenig später deutlicher zu hören. Dann folgen 14 Takte gespannter Ungewissheit, die Oboe spielt das Thema allein auf weiter Flur, das Fagott spinnt es fort bis zu einem sehr auffälligen, fast dramatischen Sprung nach oben, im „Teufelsintervall“ einer verminderten Quinte. Immer wieder kommen Details ins Spiel, die wir schon kennen und bereits wieder vergessen haben, und tragen bei zu der eigentümlichen Vertrautheit im Neuen, das sich entwickelt. Nach vielen Andeutungen und Anläufen ist es dann pures Glück, das Thema komplett zu erleben, mit Paukenwirbel und acht Takte lang.

Bis dahin hat Sibelius ein anderes Thema, sein bis dahin etwa zehntes, aus Vorstufen entwickelt und so exzessiv gesteigert, dass man sich fragen konnte, wohin das noch führen soll. Voilà: zum vollen Bergblick! Ungefähr zehn Themen (je nach dem, wo man die Grenze zwischen Motiv und Thema ziehen möchte, was bei Sibelius nicht viel Sinn hat) – das liest sich komplex. Aber alles ist so unangestrengt aufeinander bezogen, derartig aus einer Vision heraus entwickelt, dass wir uns immer gut aufgehoben fühlen. Dazu noch gibt es unverhoffte Harmonien, die in die Zeit vor der Diatonik führen, Durakkorde wie aus der Renaissance, reines Blau, reines Grün…

Im zweiten Satz wächst ein Motiv, ein Thema aus dem anderen so hervor, dass wir uns nicht mehr auf einem klar sichtbaren Weg befinden, sondern in einer Wildnis. Sibelius kann ohne Vorwarnung Gefahren hervorbrechen lassen, etwa Violinen wie angreifende Hornissenschwärme – aber anders als etwa bei Mahler führt so etwas nie zu Katastrophe oder Durchbruch. Stattdessen, beispielsweise, in ein Bruckner-Idyll, Triolen der Streicher zum Viervierteltakt der Bläser, die auch hier und da mal den Tristanakkord spielen. Anspielungsreiche Anarchie, zusammengehalten von einem Thema in der Melancholie der Kalevala-Formeln.

Dann, im dritten Satz, wieder eine andere Perspektive, die man eine der kosmopolitischen Raffinesse nennen könnte: Sibelius liefert ein (von ihm nicht so genanntes) Sechsachtel-Scherzo, das Tschaikowsky in einer siebten Sinfonie hätte schreiben können: spritzig, elegant, drängend, mit einem Mittelteil, in dem sich Tschaikowsky und Sibelius gleichsam an der Grenze ihrer Heimatländer im einsamen finnischen Südosten treffen. Das Thema beginnt mit einem achtmal wiederholten b in der Oboe, halb Ruf, halb Naturlaut, bevor sehnsüchtiges Melos daraus wird. Dieser B-Teil ändert nicht nur die Reprise des schnellen A-Teils, in dem nun Schatten zu hören sind, er führt am Ende auch ins Finale.

Was dann passiert, ist nicht sehr subtil, aber eben auch ein Aspekt dieser Sinfonie. Das Finale beginnt schon, wie es enden wird. Man kann dem triumphalen Thema zugute halten, dass es aus den Kontrasten im dritten Satz hervorgeht, und man kann auch nicht behaupten, dass neben dieser Pracht kein Gras mehr wachse. Es gibt noch andere Themen und Motive, auch nachdenkliche. Aber sie taugen nur zum Atemholen, nicht für Unwägbarkeiten und Überraschungen. Dass nun „alles gut“ ist, steht außer Frage. Was etwas überrascht. Denn ein Kampf, dem ein derartiger Triumph folgen könnte, hat den Komponisten vorher nicht interessiert – dieses Finale ist wohl auch die vom finnischen Publikum erwartete Botschaft auf dem Weg zur Autonomie der Nation. Bei der Uraufführung am 8. März 1902 im ausverkauften Saal der Universität von Helsinki bricht Begeisterung aus, der 36jährige Sibelius erhält Lorbeerkränze. Nimmt man aber die mutmaßliche politische Botschaft weg, bleibt doch etwas Neues. In der additiven Struktur des Finales ist auch die pure Lust am Material zu erleben – gut hundert Jahre, bevor sie bei Jean Sibelius´ Landsmann Esa-Pekka Salonen und Helix ins Zentrum rückt.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Programm des Gürzenich Orchesters Köln, das die Werke unter der Leitung von Tarmo Peltokoski – mit dem Solisten Jan Lisiecki am Klavier – am 4. und 5. Februar 2024 in der Kölner Philharmonie spielt. Illustration: Edvard Munch, Landschaft mit Fjord (1906), Bühnenbildentwurf für Henrik Ibsens Gespenster (3. Akt, letzte Szene), Öl auf Leinwand, Munch Museum Oslo

Klang und Körper

Vier Schlüsselszenen aus der jahrhundertelangen Beziehung zwischen Musik und Tanz – von J.S.Bach bis zu György Ligeti

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Was Bach vom Sonnenkönig übernahm

Als die Leipziger am Karfreitag 1727 die neue »große Passion« hörten, die ihr Thomaskantor geschrieben hatte, die Passio Secundum Matthaeum, konnten sie sich noch wundern über die neue Musik, und vielleicht freute es sie in all dem Neuen auch, hie und da eine Tanzform wiederzuerkennen: eine Gigue in der wütenden Chorfuge »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?«, ein Menuett in der Arie »Ach, nun ist mein Jesus hin«, eine Sarabande im Schlusschor »Wir setzen uns mit Tränen nieder« … Zumindest das gehobene Bürgertum kannte diese ursprünglich französischen Tänze nebst ihren Bewegungen sehr gut – sie wurden längst nicht mehr nur an den Höfen getanzt.

Bach und Tanz? Das liegt für uns so nahe wie fern. Nahe, weil wir gerade bei diesem Komponisten immer wieder auf die Namen von Tänzen stoßen, in Suiten und Partiten höchsten Ranges: Allemande, Bourrée, Courante, Gavotte … In weite Ferne entrückt aber ist uns das Universum der Formen und Bewegungen hinter diesen Namen, das einst nicht nur den Leipzigern (mit immerhin einem Dutzend Tanzmeistern auf 30.000 Einwohner) nahe war. »Ganz bewusst«, schreibt der Bach-Experte Christoph Wolff, habe Bach für die Matthäuspassion »Elemente aus allen gängigen Gattungen der geistlichen und weltlichen Musik« herangezogen. Dieses Sakralwerk überbot alles Dagewesene an Vielfalt. Dass wir dabei nicht an höfische Tänze denken, liegt auch daran, dass Bachrezeption und Bachforschung in diesem Punkt deutlich verkniffener sind, als es die Lutheraner des frühen 18. Jahrhunderts waren.

Gegen die »wahre Tantz-Kunst« hatten sie im Gegensatz zu Calvinisten und Pietisten nichts einzuwenden. Es war der Leipziger Tanzmeister Johann Pasch, der mit seiner »Beschreibung wahrer Tantz-Kunst« 1707 die Kunst aus Versailles »ins deutsche protestantische Bürgertum vermittelte« (Silke Leopold), und in Leipzig erschien 1717 Gottfried Tauberts »Rechtschaffener Tantzmeister« mit der Übersetzung eines bahnbrechenden Werks aus Frankreich: 1700 hatte Raoul-Auger Feuillet die Tanznotation publiziert, die am Hof des Sonnenkönigs entwickelt worden war. Ganz gleich, wie viele Städte Louis XIV. hatte niederbrennen lassen, seine Hofkultur war maßgeblich für ganz Europa, und mit Feuillets »Choréographie« eroberte die für ihn zentrale Kunst auch das Bürgertum.

Es ist ein Vokabular von Bewegungen, dessen Differenziertheit einem Unkundigen den Atem verschlägt. Was da an Positionen, Fußstellungen und Schrittfolgen aufgezeichnet ist, nimmt sich aus wie eine grafische Partitur neben den Tönen. Kniebeugen, Erheben auf die Fußballen, Drehen, Gleiten, Springen, Armbewegungen, für alles gibt es Hieroglyphen. Bach dürfte all das schon früh kennengelernt haben. Als 15-jähriger Lüneburger Stipendiat hatte er, so Wolff, über den Ballettmeister Thomas de la Selle vermutlich Zugang zum herzoglichen Schloss und konnte dort »aus erster Hand genuin französische Musik hören und sich in französischen Aufführungsmanieren bilden«, zur selben Zeit, als er von Georg Böhm in die Komposition stilisierter Tänze eingeführt wurde. Später befreundet sich Bach mit zwei bedeutenden Tanzmeistern in Sachsen, Jean-Baptiste Volumier und Pantaleon Hebenstreit.

Es ist unwahrscheinlich, dass er bei den Bällen, die die Leipziger Bürger und ihre Tanzmeister veranstalteten, nur am Rande stand und zusah. Ganz sicher aber hatte er bei den hunderten von Tänzen, die er explizit oder implizit komponierte, eine Körpersprache vor sich, die heute nur noch Experten kennen – und die doch für die Europäer mehrerer Generationen zum Leben gehörte. Allein im »Wohltemperierten Klavier« haben Meredith Little und Natalie Jenne (»Dance and the Music of J. S. Bach«, 1991) zwölf Tänze gefunden. »Wenn man die Übung im Komponieren charakteristischer Tänze vernachlässigt«, schrieb Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger 1777, »wird man nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht zu einer guten Melodie kommen. Vor allem ist es unmöglich, eine Fuge zu schreiben oder zu spielen, wenn man nicht jede Art von Rhythmus kennt.«

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Ein Sprengsatz aus Tänzen: Mozart macht Party

1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution. Ein vermögender Adliger, immer auf der Jagd nach Affären, lädt zur Party in sein Schloss, Leute von Stand und eine Hochzeitsgesellschaft von Bauern. »Viva la libertà!«, ruft er, dann lässt er von drei verschiedenen Kapellen drei Tänze gleichzeitig spielen. Menuett für den Adel, Kontretanz für die Bauern, unter die er sich mischt, weil er sich so an die Braut heranmachen kann. Eine dritte Kapelle spielt einen »Deutschen«, die Vorform des Walzers, ein für die Zeit unanständiger und daher sehr beliebter Tanz mit enger Berührung – und ausgerechnet zu dem nötigt der Diener des Gastgebers den Bräutigam, um ihn abzulenken. Unnötig zu sagen, dass sich unter den Menuett tanzenden Maskierten zwei Damen befinden, die mit dem Hausherrn auch schon Erfahrungen gemacht haben und ihn endlich aus dem Verkehr ziehen wollen. Unnötig deshalb, weil Sie natürlich schon Mozarts Oper »Don Giovanni« erkannt haben, erster Akt, erstes Finale, Szene 20.

Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte siedeln die Geschichte im Sevilla des 17. Jahrhunderts an, aber die Oper ist vom ersten Wort bis zum letzten Ton auf der Höhe des Tages, und das betrifft auch die Tänze. Von all den Hoftänzen, mit denen – dank Feuillets Tanzschrift – Versailles in ganz Europa präsent war, ist im späten 18. Jahrhundert der jüngste geblieben, das Menuett, in den 1650ern von Louis XIV. entwickelt, einfachster Tanz, aber doch kompliziert genug mit vier Schritten auf sechs Zählzeiten, nobler Haltung, absoluter Kontrolle. Die Beherrschung des Menuetts wurde zum bürgerlichen Bildungsnachweis und seine einfache musikalische Struktur ein Einstieg ins Komponieren. Mozart dachte sich sein erstes Menuett mit fünf Jahren aus, und Silke Leopold (»Tanz und Macht im Ancien Régime«, 2007) schließt aus dem Thema, dass er da auch schon wusste, wie man es tanzte.

Er wurde ein sehr guter Tänzer und verließ 1777 enttäuscht einen Ball, »dann es ware, unter 50 viell Frauenzimmer, eine einzige welche auf dem tact Tanzte«. Da ließ es schon nach mit der Finesse, und zur Zeit des »Don Giovanni« war das Menuett so angekratzt wie die Ordnung der Stände, für die es in dieser Oper noch steht. Derweil wurde der Kontretanz – Frauen und Männer einander gegenüber, einfache Bewegungen – zum Modetanz, bald auch der »Deutsche«, bei dem sich die Geschlechter tanzend so nahe kamen wie nie zuvor. Alle drei stapelt Mozart beim Fest aufeinander. Das Menuett im 3/4tel-Takt beginnt, es kommt die »Contradanza« im 2/4tel-Takt dazu und schließlich die »Balla la Teitsch«, der »Deutsche«, im 3/8tel-Takt – ein Chaos der Betonungen und Motive, das dem Beziehungswirrwarr entspricht, in das alle verwickelt sind. Die Party wird im Zeitraffer – 63 Takte Tanz, keine zwei Minuten – zur Weißglut gebracht und bricht mit dem entsetzten Schrei Zerlinas ab, die vom Gastgeber gewaltsam ins Abseits gezerrt wird.

Es ist nicht das erste Mal in der Musikgeschichte, dass unterschiedliche Ebenen von Aktionen und Gefühlen zugleich erklingen – aber hier riskiert es ein Komponist, die Struktur daran zerbrechen zu lassen. Der Dreivierteltakt des Menuetts als Grundgerüst kann die Verdichtung und Irregularität kaum noch tragen. Mozart geht mit dem Takt, »der doch stets die letzte, unantastbare Kategorie darstellt, so um (…), als ob sich Taktarten so kombinieren ließen wie Stimmen oder Motive«, stellt Stefan Kunze fest (»Mozarts Opern«, 1984). Freilich tut er das mit einem unfassbaren Schwung, die Energie des Ganzen springt uns mühelos an, und die Tänze, aus denen Mozart seinen Sprengsatz baut, wirken nach 236 Jahren wie taufrische Gegenwart. Zwei Jahre nach der Uraufführung begann die feudale Ordnung in Europa zu zerbrechen.

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Walzer von innen: Berlioz, Tschaikowsky, Mahler

Es gibt bei Gustav Mahler 23 Walzertakte, die könnte man herauslösen und damit Leute hereinlegen, vielleicht sogar solche, die seine Fünfte Sinfonie schon mal gehört haben. »Das ist aber ein schöner Walzer«, würden sie sagen und hätten recht. Nichts stört diesen sanften Schwung der Streicher, dem leise gezupfte Töne das Metrum geben. Hie und da sekundiert eine Oboe, ein Fagott, von Brechung keine Spur, das bisschen Kontrapunktik ist nicht der Rede wert. Und all das mitten in einem Satz, der der polyphonste in Mahlers Fünfter Sinfonie ist, das längste Scherzo aller Zeiten, Mahlers erstes vollkommen kontrapunktisch durchgearbeitetes Werk.

Dieses Scherzo ist seinerseits eine Art kosmischer Walzer voller Aufbrüche und Abgründe, die gerade deswegen so deutlich werden, weil der Tanzrhythmus alles zusammenhält, auch dort, wo er in wilden Fugati und apokalyptischen Bläserschreien untergeht oder mit Paukenschlägen untanzbar gemacht wird. Und mittendrin – formal eine Art »Trio I« – Walzer pur und schön, wie ein Rückblick oder eine Liebeserklärung oder beides, vor jenem letzten Takt abgebrochen, den man nach einer ordentlichen Periode erwartet. Hier kommt der Walzer noch einmal so zu sich, dass man förmlich seine Sinnlichkeit spürt, die Nähe, die er in aller Öffentlichkeit möglich macht. Wie ein Séparée hat Mahler ihn in die riesige Partitur gesetzt, intim instrumentiert. Und so – aber eben nur so, nicht herausgelöst – ist es eine der erotischsten Passagen, die er je schrieb.

Walzer sind in Sinfonien so selten, wie sie in anderen Genres häufig sind. In Mode kam der Tanz, der einfach auszuführen war, schon in den 1790ern, und die meisten Komponisten des 19. Jahrhunderts – nicht nur die für den Vergnügungsmarkt schreibenden – griffen in Instrumentalwerken den populären Dreier auf, von Beethoven, Schubert, Webern über Chopin, Liszt, Brahms bis hin zu Saint-Saëns. Natürlich sind auch Ballette, Operetten, Opern voller Walzer, selbst in Richard Wagners »Parsifal« wird gewalzert, von den Blumenmädchen. Wagner bewunderte Johann Strauß (den Älteren) ebenso, wie Hector Berlioz das tat – der widmete Strauß und seinem Orchester eine fulminante Besprechung, als die Wiener Musiker 1837 erstmals in Paris gastierten.

Da hatte Berlioz selbst den Walzer schon explizit in eine Sinfonie eingebaut, als erster. Unter dem Blickwinkel »absoluter Musik« gehörten Allerweltsklänge nicht in Sinfonien, Sonaten, Streichquartette. Das Menuett – letzter Rest der französischen Hofkultur, als dritter Satz in die Sinfonie gewandert – war zum Scherzo geworden und wusste nichts mehr vom Tanzen. Nur die ABA-Form war geblieben, als mitunter qualvolle Pflichtübung, auf die Mozart schon in seiner Prager Sinfonie verzichtet hatte.

Berlioz setzte sich in seiner erzählerisch konzipierten »Symphonie fantastique« als 27-Jähriger über diese eher deutschen Dogmen hinweg und führte die idée fixe ein, das Thema einer ersehnten Frau, die in unterschiedlichen Umgebungen und Gestaltungen auftaucht, bis hin zum dämonischen Hexensabbath. Im zweiten Satz, »Un bal«, wird die Angebetete noch in heiteren Situationen imaginiert, für die das Gewirbel eines Balls steht – mit eben der Musik, zu der damals, 1830, vornehmlich getanzt wurde. Berlioz blendet von diesem Walzer (der ihn als Kenner des Genres ausweist) zur Erscheinung der Ersehnten, verbindet beide Ebenen raffiniert, trennt sie wieder … Wie bei Mahler, der dieses Werk oft und gern dirigierte, gewinnt das Walzerglück seine tiefere Bedeutung durch das Drama (bei Mahler eher: den »Roman«) der ganzen Sinfonie.

Etwas anders ist es bei Peter Tschaikowsky, der nach einer schönen »Valse« in seiner Fünften Sinfonie (und Walzern in seinen Bühnenwerken) ein letztes Mal auf diesen Tanz zurückkommt, als er die »Pathetique« schreibt, seine Sechste Sinfonie, mit einem Programm, »das für jedermann stets ein Rätsel bleiben soll«. Ein Schlüssel zu diesem Rätsel liegt vielleicht im zweiten Satz, einem Walzer im Fünfvierteltakt, mit einem derartig organischen Thema, dass man nie finden kann, es seien zwei Viertel zu viel im Takt – es bleibt ein sanftes Kreisen. Ein ungetrübtes nicht, man hört auch Schatten, die sich im Trio vertiefen. Tschaikowsky schrieb nicht nur Ballette, er tanzte selbst, und sein geheimer Pas de deux mit dem Kollegen Camille Saint-Saëns 1875 in Moskau ist nicht nur in der LGTB-Community legendär. Es mag schon sein, dass er im Fünf-Viertel-Walzer souverän ein Abweichen von der gesellschaftlichen Norm aufs Podium brachte, das im Uraufführungsjahr 1893 nicht ohne Gefahr gelebt werden konnte. So gehört, ist dieser Walzer seiner Zeit um etliche Jahrzehnte voraus.

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György Ligeti und die Autonomie der Volkstänze

1949 begibt sich György Ligeti, 26 Jahre alt, Absolvent der Budapester Musikakademie, in seine rumänische Heimat (in der seine Eltern zur großen ungarischen Ethnie gehörten), um Volksmusik aufzuzeichnen, Tänze und Lieder – so, wie das mehr als drei Jahrzehnte zuvor auch der von ihm verehrte Béla Bartók getan hat Es sind Exkursionen des neu gegründeten Bukarester Folklore-Instituts, an denen er teilnimmt. Von den Wachsrollen und Schallplatten dieses Instituts schreibt sich Ligeti weitere Themen herunter – und aus all dem wird ein wunderbares Stück, mit dem man jeden Kenner der Musik des 20. Jahrhunderts verwirren kann, das »Concert Românesc« für kleines Orchester. Vier miteinander verbundene Sätze, 15 Minuten, von denen – zunächst – niemand vermuten würde, dass sie von Ligeti stammen.

Die folkloristischen Quellen von Melodik, Rhythmik, Harmonik (uns vertraut durch die lange so genannte »Zigeunermusik« der Sinti und Roma) sind offenkundig, mehr noch, die Wehmut der Lieder, die Rasanz der Tänze werden geradezu herausgestellt, und doch wird schnell klar, dass es hier nicht um ein back to the roots wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts geht. Die Virtuosität der Instrumentierung, verblüffende Farben, imitatorische Verdichtungen zeigen einen auch zu Witzen aufgelegten Geist, der Bartók schon hinter sich hat.

Am Ende spielt eine Sologeige in schwindelnder Höhe rasende Neunachtelketten, einen verselbstständigten Rest des Tanzes zuvor, und das Orchester versucht sie mit einzelnen Hieben gleichsam zu erschlagen wie eine lästige Mücke. Das gelingt nur scheinbar – die kinetische Energie der siebenbürgischen Tanzweise schießt über den Schlussstrich hinaus. Ligetis Gestaltungslust macht die Musikantenweisen keineswegs zu Souvenirs, sie erschließt ihr Potenzial. »Das ›Concert Românesc‹«, schrieb der Komponist später, »spiegelt meine tiefe Liebe zur rumänischen Volksmusik und zur rumänischsprachigen Kultur schlechthin wieder.« So gesehen, ist sein Werk vielleicht das letzte Exempel einer künstlerischen »Aneignung« kollektiv tradierter Tanzmusik am Ende einer mehrhundertjährigen Geschichte solcher Adaptionen, die den Hintergrund, auch den politischen, für Györgi Ligetis Bekenntnis zu Rumänien bildet.

Diesen Hintergrund beleuchtet ein Blick auf die Polonaise, die sich im 17. Jahrhundert aus dem polnischen Volkstanz polonez – sechs Achtel, auf der zweiten Achtel zwei Sechzehntel – zu einem Tanz der gehobenen Klassen entwickelt und am Ende des Jahrhunderts schon so europäisiert ist, dass sie selbst in Polen den französischen Namen trägt.

Es folgt eine zweigleisige Geschichte: Zum einen verselbstständigt sich eine musikalische Form, J. S. Bach, Telemann, Couperin bauen Polonaisen in ihre Suiten ein, in der Generation danach weist vor allem Wilhelm Friedemann Bach schon auf die Romantik voraus. Aus einem Modeartikel im Dreivierteltakt wird bei Bachs ältestem Sohn ein intimes Tagebuch. Persönlicher lässt sich nicht komponieren. Einsame Träumereien am Cembalo schreibt Friedemann, mit denen er schon an die Seite Frédéric Chopins gerät. Es ist kein Wunder, dass diese zwölf Stücke in zwölf Tonarten die ersten aus seiner Feder sind, die im 19. Jahrhundert gedruckt werden; schon vorher kursieren sie in Abschriften.

Zugleich, das andere Gleis, wird die Polonaise in dem Maße renationalisiert, in dem eine autarke polnische Nation von europäischen Großmächten verhindert wird. Eine Folge davon ist Chopins Pariser Exil, in dem beides zusammenkommt: die Polonaise in extrem individualisierter Form, als kompositorisches Labor, und daneben als Ausdruck polnischer Identität (wie auch die Mazurka). Die Zeit der »Nationalkomponisten« bricht nun an in Nationen, die um ihre Autonomie ringen. Eine Musik, in der »die tschechische Seele ihren Widerhall finden würde«, erträumt sich Bedřich Smetana und realisiert sie mit böhmischen Bauerntänzen im Zyklus »Mein Vaterland«. Vergleichbare Tendenzen gibt es vom Finnen Jean Sibelius bis zum Spanier Isaac Albéniz.

Und eben in Ungarn von Bartók und Kodály bis hin zu György Ligeti, der mit seinem »Concert Românesc« keineswegs auf das Wohlwollen der kommunistischen, letztlich stalinistischen Kulturpolitik stieß. 1950 wurden in Ungarn selbst wichtige Werke von Bartók als »bourgeois« aus Rundfunksendungen ausgeschlossen. Ligeti hatte angenommen, die insgesamt moderate Musiksprache seines Konzerts werde als »Camouflage« den Maßgaben des Sozialistischen Realismus standhalten. Aber nach nur einer Probe wurde 1951 das Stück verboten mit Hinweis auf Dissonanzen – »z. B. fis innerhalb von B-Dur«, wie er schreibt. Möglich auch, dass zwei Jahre vor dem Tod Stalins allein schon die Verwendung rumänischer und ungarischer Volksmusik von bedenklichen Autonomiegelüsten zeugte.

Die brachen sich 1956 in Budapest bekanntlich Bahn und wurden von der Sowjetunion blutig niedergeschlagen. Das »Concert Românesc« wurde erst 1971 uraufgeführt, 1996 fand es nach einer Überarbeitung durch den Komponisten den Weg ins Repertoire. In jeder Hinsicht zeigt dieses Stück aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, dass in jedem Volkstanz weit mehr steckt als nur ein harmloses Vergnügen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im Elbphilharmonie Magazin I / 2024, S.8-13. Die Illustrationen sind Raoul-Auger Feuillets Buch “Choreographie ou L’art de decrire la danse”, Paris 1700, entnommen.