6. Juni 2025

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Vor 150 Jahren kam in Lübeck Thomas Mann zur Welt, bis heute einer der meistgelesenen Autoren deutscher Sprache. Das Magazin ZEIT Geschichte hat ihm schon im März eine Ausgabe gewidmet, für die ich gern Reklame mache, und zwar nicht nur, weil ich mir für dieses Heft über Manns letzten großen Roman Doktor Faustus Gedanken machen durfte. Unter den vielen sehenswerten Fotos und lesenswerten Texten im Magazin hat mich besonders Thomas Assheuers Beitrag über den “reaktionären Kanonendonner” beeindruckt, den Mann in seinen Schriften 1914-1918 intonierte. Allzu gemütlich sollte man es sich mit Thomas Mann nämlich nicht machen – eine höchst ambivalente Gestalt, an der man gleichwohl nicht vorbeikommt.

Sein Doktor Faustus hat eine Reihe von Komponisten inspiriert, und gerade jetzt wäre es an der Zeit, mal wieder Hans Werner Henzes wunderbares Drittes Violinkonzert von 1997 aufzuführen, Drei Porträts aus dem Roman “Dr. Faustus” von Thomas Mann. Der erste Satz gilt Esmeralda, jener Prostituierten, der Manns fiktiver Tonsetzer Adrian Leverkühn seine kreativen Höhenflüge und sogar die Erfindung der Zwölftonmusik verdankt (die sich in Wahrheit Thomas Mann von Schönbergs Schüler Adorno erklären ließ…). Hier geht es zur Aufnahme mit Peter Sheppard Skaerved und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken von 2006. Noch ein Hörtipp in eigener Sache: am Sonnabend, 7. Juni um 10 Uhr bin ich Studiogast beim Treffpunkt Klassik von SWR Kultur, mit Moderatorin Ines Pasz und einer Playlist, die Musik von Kurt Weill, Szymon Laks, Claudio Monteverdi, Johann Michael Bach, Younghi Pagh-Paan, Claude Debussy und Nadia Boulanger umfasst.

Und mehr als nur ein Tipp: Das VAN-Interview, in dem der Geiger Michael Barenboim über sein Engagement für die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen spricht, deren Opfer in Folge des Krieges inzwischen nach Zehntausenden zählen. “Ich finde es sehr seltsam, wenn Menschen, die eine sichere Anstellung und ein bequemes Leben haben, zu diesem Thema so vehement schweigen. Man muss sich klarmachen: Das ist das Verbrechen unserer Generation.”

Deutsche Dämonen

Im Künstlerroman “Doktor Faustus” verfolgt Thomas Mann auch den Weg einer Nation vom Kulturvolk zum “Blutstaat”

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Der Hautarzt kommt ihm im Treppenhaus entgegen, klein, mit Hornbrille und Glatze, rötlichem Haar an den Schläfen „und einem nur unter den Nasenlöchern stehengelassenen Schnurrbärtchen, wie es damals in den oberen Klassen Mode geworden war und später zum Attribut einer welthistorischen Maske werden sollte.“ Es ist das Jahr 1906, der Schauplatz Leipzig, der junge Hitler im fernen Linz weiß noch gar nichts von dem Bärtchen, das er mal tragen wird. Aber mit dem Hautarzt stimmt etwas nicht, den der Romanheld Adrian Leverkühn da aufsucht, um eine „lokale Erkrankung“ weiterbehandeln zu lassen. Dieser Mann wird nämlich von zwei Männern an ihm vorbeigeführt, in Handschellen. „Ein andermal!“ sagt er noch zum Patienten. „Ein andermal“, das hallt nach, in vielfacher Hinsicht, im Echoraum des Doktor Faustus.

Es ist der letzte in jedem Sinne große Roman von Thomas Mann, groß an Umfang wie an Bedeutung, verfasst im Exil an der Westküste der USA und so komplex, dass selbst der Hauptplot auf schwankendem Boden steht. Der erzählt, wie der Titel ahnen lässt, von einem Teufelspakt. Der hochbegabte Tonsetzer Adrian Leverkühn, 1885 als Bauersohn nahe der Saale geboren, infiziert sich bei einer Prostituierten wissentlich mit der Syphilis und bekommt später Besuch vom Teufel, der ihm erklärt, der Krankheitsverlauf werde kreative Höhenflüge mit sich bringen, die allerdings zu bezahlen sind: mit Verzicht auf Liebe und begrenzter Schaffensfrist. Leverkühn wird zum bahnbrechenden Komponisten, bis er 1930 zusammenbricht und noch zehn Jahre dahindämmert.

Mit dieser Geschichte wird auch die deutsche Geschichte der Jahre bis 1930 erzählt, und die führt in den Abgrund. Die Parallele vom individuellen Teufelspakt hier und einem kollektiven da wird vom Autor gar nicht behauptet, stellt sich aber von selbst ein, weil Leverkühns Geschichte von einem fiktiven Biografen erzählt wird, der selbst mitten im deutschen Abgrund sitzt, im „Dritten Reich“ des Jahres 1943.

Der Biograf heißt Serenus Zeitblom und greift zeitgleich mit dem Autor in Los Angeles zur Feder. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, so lautet der Untertitel, und dieser Freund ist ein Altphilologe, wohnhaft im oberbayerischen Freising. Einer, der zwar wie Thomas Mann schreibt, aber doch ein ganz anderer und acht Jahre jünger ist, vorzeitig im Ruhestand, bei Beginn seiner Niederschrift 60 Jahre alt und nicht von vornherein ein Antinazi. Im September 1943 schwärmt Zeitblom sogar noch von „einem neuen Torpedo von fabelhaften Eigenschaften, das der deutschen Technik zu konstruieren gelungen ist“ und glaubt der Propanda. Viel mehr als Skepsis gegenüber „unserem Führer und seinen Paladinen“ bringt er anfangs nicht auf, und die Verfolgung der Juden wird von ihm zunächst zur „Behandlung der Judenfrage“ marginalisiert.

Am Ende ist der fiktive Biograf von Deutschland entsetzt

Im Verlauf seiner Niederschrift, die Zeitblom kurz vor Kriegsende abschließt, ändern sich sein Vorgehen und seine Einsichten, wobei er im ganzen Buch, ziemlich avanciert nicht nur für einen deutschen Altphilologen, die eigene Gegenwart, die letzten zwei Weltkriegsjahre, in die Erzählung einbindet. Sein Entsetzen über den deutschen „Blutstaat“ setzt ihn am Ende ganz dem Autor an die Seite, der seinerseits in den USA bis zum Januar 1947 an seinen 47 Kapiteln, rund 700 Seiten, arbeitet. 1945 hält Mann den Vortrag Deutschland und die Deutschen mit der Erwägung, dass das „Dämonische“ politisch wie musikalisch in den Deutschen stecke. Sie wirkt als Erklärung für das „Dritte Reich“ so schlicht wie schräg, und auch dem Doktor Faustus wird sie nicht gerecht.

Denn da wird zwar viel suggeriert, aber genau gelesen ist nicht mal sicher, ob sich der erkrankte Leverkühn den Teufel nicht selbst ausgedacht hat, dessen Worte er aufzeichnet und die sein Freund und Biograph später mitteilt, während schon Bomben fallen. Dieser Teufel erörtert die Krise der zeitgenössischen Musik ganz so wie Manns Berater im Exil, Theodor W. Adorno – „Die historische Bewegung des Materials hat sich gegen das geschlossene Werk gekehrt“ -, dann wieder altertümelt er frech: „Bist aber auch ein attraktiver Fall, das bekenne ich frei. Von früh an hatten wir ein Aug auf dich, auf deinen geschwinden, hoffährtigen Kopf, dein trefflich ingenium und memoriam…“ Er hat auch selbst den Leipziger Hautarzt aus dem Weg geräumt, der Adrian behandeln sollte und der seinerseits schon ein Teufelszeichen trägt…

Zeitblom nimmt das diabolische Gespräch für bare Münze – eine wilde Mischung, in der Thomas Mann auch seine persönliche Musikphilosophie unterbringt. Unter seinem Zentralgestirn Richard Wagner kreist sie von jeher um Zweideutigkeit, Dämonie, Todesnähe der Musik, die er als besonders „deutsche“ Kunst sieht. Von Wagner übernimmt Mann auch die Technik der Leitmotive, mit denen die Musik wie die Prosa immer mehr verrät, als die Protagonisten selbst wissen. Ein Rätselspiel der Andeutungen. Realitätsgesättigt sind dagegen die Milieus und Personen, die wir auf Adrian Leverkühns Wegen kennenlernen.

Seine Jugendstadt Kaisersaschern ist ein an die Saale versetztes Lübeck, wo man die Atmosphäre des späten 19. Jahrhunderts förmlich schmecken kann, eine Zeit, die ins nächste Jahrhundert viel weiter hineinragt, als uns sonst bewusst ist. Nach Studien in Halle und Leipzig zieht der Komponist 1910 nach München, „das München der späten Regentschaft, nur vier Jahre noch vom Kriege entfernt, dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemütskrankheit verwandeln und eine trübe Groteske nach der anderen darin zeitigen sollten“. Wie dort in den 1920ern die Lage abschüssig wird, zeigt sich an Personen, die mit ironischer Schärfe gezeichnet sind, oft nach realen Vorbildern – etwa Sixtus Kridwiß, Gastgeber eines präfaschistischen Zirkels, dessen „Scho` enorm wischtisch“ so einprägsam ist wie die meisten der rund 60 buntschillernden Charaktere.

Einen moderneren Roman hat Mann nie geschrieben

Die Inkubationszeit der deutschen Barbarisierung verläuft also chronologisch parallel zu Leverkühns Höhenjahren vor seinem Kollaps anno 1930. Das fasziniert auch ohne Gleichsetzung von genialem Hochmut und nationalem Größenwahn. Der Roman lässt vieles offen, auch die Grenzen zwischen Epochenpanorama, Milieustudie, Künstlerroman, Musikessay, fingiertem Making-of mit Apokalypse in Echtzeit. „Je pluraler der Text ist, desto weniger ist er geschrieben, ehe ich ihn lese“ – was Roland Barthes 1970 über Balzac schrieb, das scheint Doktor Faustus in einer Weise vorauszusetzen, die den Roman zum wohl modernsten Werk aus Manns Werkstatt macht.

Und dank der Leitmotive zum musikalischsten. Der Knabe Adrian etwa hat einen Schmetterling „von durchsichtiger Nacktheit“ bewundert, Hetaera esmeralda. So nennt später der Student auch die Prostituierte Esmeralda, bei der er sich infiziert, obwohl sie ihn warnt. Aus diesem Namen gewinnt er die Tonfolge h-e-a-e-es, die ihn auf einen neuen Gedanken bringt. „Man müsste,“ erklärt er 1910, „von hier aus weitergehen und aus den zwölf Stufen des temperierten Halbton-Alphabets größere Wörter bilden…“ Kurz gesagt, Leverkühn erfindet die Zwölftonmusik elf Jahre vor Arnold Schönberg, Thomas Mann Exilnachbarn in Los Angeles! Der sah, als er 1947 die Erstausgabe las, seine Erfindung als Teufelswerk missbraucht und beendete die Freundschaft.

Dabei hätte diesem Analytiker gefallen können, was da motivisch zu entdecken ist. Der Mann, der im neunzehnten von 47 Kapiteln in Handschellen abgeführt wird – ist er wirklich nur ein Leipziger Hautarzt mit neumodischer Barttracht?  Nicht nur das „Schnurrbärtchen“, das spätere Hitlersche, trägt er, auch rötliches Haar an den Schläfen. Genau wie der Teufel später, ob nun halluziniert oder nicht… Vielleicht steht der einfach für die Verführbarkeit der Menschen? Dann hält er mehr sicher bereit als nur diese eine „welthistorische Maske“, dieses ominöse Bärtchen. Wie vieldeutig wird da „ein andermal!“ Und wie aktuell.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Magazin ZEIT Geschichte “Thomas Mann”, erschienen im März 2025. Für die Edition auf dieser Website hat der Autor Zwischenzeilen ergänzt. Foto: Thomas Mann 1932 in seiner Münchner Villa, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15883

“Das war wohl vor Ihrer Zeit, junger Mann…“

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Eine sommerliche Begegnung mit Bianca Castafiore, der neben Maria Callas wohl berühmtesten Sopranistin des 20. Jahrhunderts

Es gibt keine Klingel, eine Überwachungskamera sehe ich auch nicht. Alte, hohe Bäume rechts und links in der Sonne, hinten das Schloss, wie man es von vielen Bildern kennt. Siebzehntes Jahrhundert, zwei Flügel, verbunden durch den turmartigen Mittelbau… Als ich die Stufen hochsteige, öffnet sich das Portal, und kurz rechne ich damit, dass mir gleich Nestor gegenübersteht, der Butler mit der gestreiften Weste. Es ist aber eine Dame im schlichten beigen Kostüm, die Haare hochgesteckt, ein bisschen an Simone de Beauvoir erinnernd. „Bonjour, Sie wollen zu Madame …“, sagt sie, ohne sich vorzustellen, und geht mir voran in die Eingangshalle. Vor der Marmortreppe biegt sie nach links ab.

Ein sonniger Saal, Porträts, Skulpturen, ockerfarbene Wände, Sessel mit orangefarbenen Polstern. „Ich sage Madame, dass Sie da sind. Sie können sich in der Zwischenzeit ja ein paar Fragen überlegen“, sagt sie trocken. Als könne es jemand wagen, sich nicht gründlich auf eine Begegnung mit Bianca Castafiore vorzubereiten, neben Maria Callas die berühmteste Sopranistin des 20. Jahrhunderts, knapp 30 Jahre vor ihr geboren. Ein Asteroid heißt nach ihr, ein Platz in Amsterdam, sie wurde in Bühnenwerken, TV-Serien, einem Film von Spielberg gewürdigt. Sie hat ihre Kollegin inzwischen um 48 Jahre überlebt. „No questions concerning her age“, hat mir ihre Londoner Agentin eingeschärft.

„Bienvenue, benvenuto a Moulinsart!“ Der ganze Saal ändert sofort sein Gravitationsfeld. Sie ist etwas kleiner, als ich erwartet hatte, spricht auch tiefer, mindestens eine Dezime unterhalb ihrer Singstimme, und sieht jünger aus – auch wenn mir schon klar war, dass man ihr die 130 Jahre nicht ansehen würde. Sagen wir, so um die fünfzig, in einem Sommerkleid aus den 1960ern, vielleicht eine Idee zu tailliert geschnitten für diese Figur, aber so eine Frau macht sich ja alles passend. Schwarzer Stoff, mit weißen Rosen und violetten Blättern bedruckt. Natürlich weiße Rosen! „Castafiore“ heißt keusche Blume. Sie ist derartig präsent, dass sie das Bild verblassen lässt, das ich in mir trage, aus den acht Bänden Tim und Struppi, in denen sie vorkommt. Aber es passt schon. Die Adlernase, das ondulierte Blond, das auf dem Dekolletée ruhende Amulett…

Sie steuert gleich auf das barocke Porträt über drei Dreimastermodellen zu, Frantz Ritter von Hadoque, um 1670. „Karpock, wie er leibt und lebt, finden Sie nicht, Herr…“ Ich murmele meinen Namen, ehe ich frage: „Wie haben Sie ihn denn kennengelernt? Ich meine, den Kapitän, nicht seinen Vorfahren.“ „Nun ja, sein Vorfahr, der…“ , sie lacht kurz. „Zuerst hörte Harrock mich, wie ich später erfuhr. Das muss 1944 in Brüssel gewesen sein. Er verglich meine Stimme mit einem Hurrikan. Charmant, nicht wahr?“ Sie sagt das ohne Ironie, fast gerührt, als habe Haddock auf ihren Gesang nicht jederzeit mit Fluchtreflexen reagiert. Auf jene Juwelenarie aus dem <em>Faust</em> von Gounod, die sie… „Wissen Sie noch, Signora, wann Sie diese Arie zum ersten Mal sangen?“ Sie hat in einem Sessel Platz genommen, nun darf auch ich mich setzen, an ein Marmortischchen.

„Dopo la prima guerra mondiale, a Piacenza“. Sie wechselt wieder in ihr erstaunlich gutes Englisch. „It was my debut in that century…1921.“ „Darf ich fragen, wie sie dorthin kamen? Wie kamen sie überhaupt zur Musik?“ „Wissen Sie, das mich das noch keiner gefragt hat? Aber erwarten Sie nichts Aufregendes, junger Mann!“ Ein Städtchen in Südtitalien, einfache Verhältnisse, die bande musicale, die Amateurblasorchester, die oft auch beliebte Nummern aus Verdis Opern spielen. Ein kleines Mädchen, das davon berührt ist, dann im Kirchenchor singt, ein Lehrer, dem die Stimme des Mädchens auffällt, der erste Ausflug nach Napoli, Teatro San Carlo… Es wird doch eine längere Geschichte.

„Madame?“ Die Dame im beigen Kostüm schaut herein. Die vereinbarte Stunde sei um, sagt sie mir. “Non, non, Irma, ça va”, sagt die Signora. „Bringen Sie uns einen Tee.“ Ob Irma immer noch die Irma ist, die ich als Zofe Luise aus den Comics kenne? Dann hätte sie sich sehr geändert. Nach dem Debüt an der Scala brauche ich die Sängerin gar nicht erst zu fragen. 1926, Liù in Puccinis <em>Turandot</em>, eingesprungen für Maria Zamboni, „sie sang die Uraufführung, wie Sie sicher wissen. Toscanini hat uns auf Händen getragen! Welcher Dirigent tut das heute noch?“ Von da an war Bianca Castafiore im italienischen Fach so gefragt wie für die französische Oper. Und was blieb davon übrig im Comic? Immer nur die Juwelenarie, auch im Radio. Aus Röhrenempfängern und Transistorradios, 1939 in Watisdah, 1958 in Tibet, im Zelt der Sherpas. „Die Castafiore! Hier? Potzblitz! Will sie uns überallhin verfolgen?“

Irma erscheint, um das Teegeschirr abzuräumen, und tippt auf ihre Armbanduhr, die Signora hebt begütigend die Hand und stimmt ein Liedchen an. „La pendule fait tic-tac tic-tic“, schnelle Noten, kein bisschen schrill, mezzopiano, „les oiseaux du lac pic-pac pic-pic“, ein Chanson, „kennen Sie es?“ „Um ehrlich zu sein…“ „Mais boum, quand notre cœur fait boum, le monde entier fait boum… das war wohl vor Ihrer Zeit, junger Mann.“ Jetzt singt sie dieselbe Weise mit anderem Text. „Boum, quand vot´moteur fait boum…“ „Macht dein Auto Bumm!“, entfährt es mir.<em> Im Reiche des Schwarzen Goldes</em>! Da hört man es im Radio, wie dann natürlich auch „Mich zu sehn, so schön…“. Nun gibt sie mir Nachhilfe. Man habe <a href=”https://www.youtube.com/watch?v=yLBFeoikELo”>diesem Chanson</a> 1938 gar nicht ausweichen können in Frankreich und Belgien, „ein Liebeslied von Charles Trenet, aber Sie können sich denken… ,Die ganze Welt macht bumm‘, in dieser Lage! Wir hatten alle Angst vor dem Krieg. Und als er begonnen hatte, der Krieg, erschien diese Tintin-Geschichte, in Fortsetzungen.“ Sie kennt das also alles bestens.

Dann weiß sie auch, welche Bestürzung ihr Gesang nicht nur beim Kapitän auslöste, der ihr gleichwohl dieses Schloss für immer überlassen hat. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt sie: „Monsieur Hergé musste ja vieles ändern. Natürlich hat mich mein guter Kapitän Bartock auch mit Verdi und Puccini gehört. Er reiste mir nach! Und natürlich habe ich nie in Szohôd gesungen, das es nicht gibt…“ „Oberst Sponsz!“ „Jaja… das war in… einer anderen Diktatur.“ „Aber, wenn ich das so sagen darf, Berührungsängste hatten Sie nie, politisch?“ „Nein, das dürfen Sie nicht so sagen“, sagt Irma, die wie auf ein Stichwort hin wieder erschienen ist. „Madame hat die Nähe zu den Mächtigen oft genutzt, um deren Widersachern zu helfen. Sie wurde sogar einmal inhaftiert.“ Das war 1976, in San Theodoros. Sie kam frei. Aber danach trat sie nie wieder auf.

Bianca Castafiore blickt lächelnd vor sich hin, fast bewegungslos, wie zum Bild erstarrt, die Hände mit Ringsteinen in vier Farben über dem Schoß gefaltet, während Irma fortfährt: „Sie ist in diesen bandes dessinées nicht zufällig zu einer Zeit aufgetaucht, in der die Frauen begannen, ihre Stimme zu erheben. Der Preis dafür war, dass diese Stimme…“ „Boum, le monde entier fait boum“, singt die Diva da erneut, versonnen, leise, bricht ab und erklärt: „Eine gute technische Basis ist alles. Damit kann eine Sängerin sehr alt werden.“ Ich hatte sie noch nach der Oper <em>Die Sache Makropulos</em> fragen wollen, in der die Sängerin Emilia Marty mithilfe eines Elixiers dreihundert Jahre alt wird. Aber ich bin sicher, dass die Castafiore mit Janáček nichts anfangen kann, zuwenig bel canto…

Mir ist ein bisschen schwindlig, als ich das schöne Schloss verlasse, am späten Nachmittag. Und im Zug nach Brüssel frage ich mich, ob mir vielleicht ein paar Dinge durcheinandergeraten sind, Dichtung und Wahrheit, Comics und Musik, feministische Essays, die zweiunddreißig Sopranistinnen, die ich schon für die Oper Zürich traf. Aber die Dreiunddreißigste – schlägt nicht gerade in ihr das Herz der Oper? Alles ist dort möglich, und nie vergeht die Zeit, das sonderbar´ Ding. Ja, nach der Marschallin hätte ich sie auch noch fragen können…

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Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien als letzter Beitrag der Reihe Volker Hagedorn trifft… im MAG 123, Mai 2025, der letzten Ausgabe des Magazins der Oper Zürich zum Ende der dreizehnjährigen Intendanz von Andreas Homoki. Das Foto versammelt jene neun Bände der Comicreihe Tim und Struppi, in denen Bianca Castafiore auftritt, gehört oder erwähnt wird, in chronologischer Folge von 1939 (Vorabdruck von König Ottokars Szepter) bis 1976.