Von Einhörnern, die es ohne Menschen nicht gäbe

Alfred Brendel mit Beethovens drei letzten Klaviersonaten im Gewandhaus Leipzig [erschienen am 20. November 1995]

Er geht zum Flügel wie zu einem Schreibtisch, wo was Angefangenes wartet, ergeben und entschlossen. Dann sitzt er und ist mittendrin. Notengestöber in E-Dur – die Trias der letzten Klaviersonaten Beethovens hat kein großes Eingangsportal und bei Alfred Brendel auch keine Beethovenbüste, vor der er sich verneigen müßte. Die beiden arbeiten schon länger zusammen.

Brendel läßt die Läufe und Sprünge huschen wie schnelle Notizen, aber die sind sehr präzis und verweisen gemeinsam auf ein anderes, inneres Tempo. Das führt dann auch zum nächsten Satz, Prestissimo, nicht treibend, sondern öffnend. Unter den Sechsachtelwellen kurz vor Schluß eine Schwelle im Baß: der Halbtonschritt B-A leuchtet im Piano, als er dann lauter wird, sind wir schon fast drüben, im „Andante molto cantabile ed expressivo”.

Da beginnt der Flügel zu singen. Das bedeutet nicht, daß der Pianist vorführt, was Sänger auch können. Der Gesang ist für dieses seltsame, mit Hämmern und Saiten gefüllte schwere Gerät geschrieben, das hat sein eigenes Wesen. Wenn es einer mit diesen Noten und diesen Händen belebt, dann ist es, als träte ein Einhorn aus dem Wald, um Wünsche zu erfüllen.

Wobei uns Brendel und sein Flügel nichts vormachen und zurechtzaubern. Man hört in den Tönen auch, daß es ohne Menschen gar keine Einhörner gäbe. Und in den Variationen danach, daß Beethoven sich in und mit seinem Werk nicht abschließen will. Es sind alles Fenster, und Brendel entdeckt in der vierten Variation sogar die Vorwegnahme des Motivs aus „Der dritte Mann“ und präpariert es unaufdringlich heraus. Als danach das alte Thema wiederkommt, ist etwas anderes in seinem Ton. Es singt immer noch, aber hat sich entfernt.

Der Pianist läuft ihm, in der nächsten Sonate opus 110, nicht nach, sondern scheint abzuwarten. Die As-Dur-Sonate ist so mehr Entwurf und Plan, denn Ereignis. Selbst im feinsten Tränenschmelz, im „Es ist vollbracht“- ähnlichen Arioso, steckt noch eine Spur Konstruktion. Brendel spielt die umgebenden Fugen. als ärgere sich Beethoven darüber und stecke sich selbst in den kontrapunktischen Käfig, um an den Stäben zu rütteln: Also nicht souveräne Architektur, sondern dröhnende, ja prügelnde Bässe beim ersten Mal, schrill kreischender Diskant zum Schluß. Das aber keineswegs besinnungslos – gerade durchs Extreme wird klar, wie bewußt da vorgegangen wird.

Die letzte Sonate, opus 111 in c-Moll, scheint wie eine Synthese aus den vorigen. Formal schon deswegen, weil die latente Zweisätzigkeit (die ersten beiden Sätze jeweils als Vor- oder Umwelt des Variationensatzes) hier in reale umschlägt. Und auf einer ganz neuen Ebene treffen sich Ausdruck und Abstraktion. „Ich-Verlassenheit” hörte Thomas Mann hier heraus, eine Deutung, die Alfred Brendel mit solcher Konsequenz bestätigt, daß er den „Faustus“-Autor am Ende noch überholt. Nicht, daß er kühl spielte, im Gegenteil. Mit voller Wucht wirft er sich hinein – und wird abgewiesen.

Wenn Beethoven (50) trotzig ist, ist Brendel (64) es auch. Der eigentümlichen Sachlichkeit zwischen den Klüften des ersten Satzes setzt er seine eigene Dramatik entgegen. Ein Kampf, unentschieden. Und im zweiten Satz, wo Beethoven vermeintlich Abenteuer anbietet, glaubt er ihm nicht, anders als der Dichter. Das Arietta-Thema hat kein Schicksal, es führt ins Nichtfaßbare.

Daß sich Brendel bei den Zweiunddreißigsteltriolen zum ersten Mal technischen Grenzen nähert, ist fast beruhigend bei soviel Abstraktion. Zu ihr führt alles: Der Triller, der sich chromatisch von As bis D hochstuft, zeugt da nicht von einsam heroischen Mühen, sondern verwandelt, wie flüssige Luft gespielt, endgültig das Gebundene ins Absolute.

Dort gibt es nicht mehr viele Nachbarn. Einen ließ Brendel als Zugabe nach den Ovationen im randvollen Gewandhaus hören. Busonis Klavierfassung von Bachs Choralvorspiel „Nun komm der Heiden Heiland“. Da war es wieder, das Singen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 20.11.1995 in der Leipziger Volkszeitung auf Seite 9. Für die Edition auf dieser Website wurde die Orthographie des Originals (vor der Rechtschreibreform 1996) beibehalten. Die Unterzeile wurde geändert; sie lautete “Alfred Brendel zauberte im randvollen Gewandhaus”.