Die britische Komponistin Laura Rossi erzählt von ihrer Arbeit für das Ballett “Atonement” in Zürich – und dem Weg dorthin
Rare Situation, eine Geschichte in Tönen zu hören, die man noch nicht gelesen hat. Ich weiß nur in Grundzügen, worum es in Ian McEwans Roman Abbitte von 2001 geht, als ich im Probensaal am Kreuzplatz sitze und der Philharmonia Zürich lausche. Der Dirigent Jonathan Lo steuert die Musikerinnen und Musiker erstmals durch den zweiten Teil des Balletts, das nach dem Buch entsteht, und die Partitur klingt schon so klar, dass sich wie von selbst Bilder einstellen – nicht nur, wenn Militärtrommeln auf die Soldaten der britischen Armee schließen lassen, die 1940 aus Dünkirchen evakuiert werden. Verdichtungen, Entspannungen, großangelegte rhythmische Patterns, Registerwechsel, undurchdringliche Cluster, idyllische Linien… Man hört, dass es um Konflikte, Begegnungen, um Liebe geht. Und dass es, last but not least, eine Filmkomponistin ist, die da ein paar Meter hinter dem Dirigenten in ihrer grossen Partitur mitliest und immer wieder fröhlich ins Orchester schaut.
Laura Rossi ist für zwei Tage aus London nach Zürich gekommen, um hier Details mit Jonathan Lo und Cathy Marston klären zu können, der Choreografin, die dieses Projekt ersann und sich ausdrücklich Laura Rossi als Komponistin wünschte. «Was sie darauf brachte, war Battle of the Somme», meint Laura, als wir nach der Probe zusammensitzen. Blendend gelaunt und rasend schnell sprechend, fasst sie mit «footage, 74 minutes» erstmal nur sehr knapp zusammen, was es mit ihrem besonderen Kinohit auf sich hat. Im Vereinigten Königreich kennt praktisch jeder den dokumentarischen Stummfilm von einer der grauenhaftesten Schlachten des Ersten Weltkriegs, zu der im Juni 1916 zwei britische Kameramänner an die Somme im Norden Frankreichs geschickt wurden. Über hundert französische und britische Divisionen und fünfzig deutsche Divisionen standen einander gegenüber. Schon am ersten Tag verloren mehr als 19.000 Briten das Leben, unter ihnen viele Freiwillige.
Laura hat zu diesen blutigen Ereignissen eine familiäre Beziehung, denn ihr Urgrossonkel Fred hat sie mit grossem Glück überlebt. «Er gehörte als 20-jähriger Bahrenträger zur 29. Division, die auch im Film vorkommt, und hat ein Kriegstagebuch geführt. Er starb, als ich zehn Jahre alt war.» Obwohl im Stummfilm, vor der Schlacht und in ihren ersten neun Tagen aufgenommen, auch Granattrichter und Tote zu sehen sind – neben fröhlich winkenden jungen Männern, die in der Sommersonne zur Front marschieren –, durfte er schon im selben Jahr im UK gezeigt werden und hielt den Rekord an den Kinokassen, bis ihm Star Wars 1977 den Rang ablief. 2016, hundert Jahre nach der Schlacht, bekam Laura Rossi den Auftrag, eine neue Musik zum Film zu schreiben, live vor der Leinwand aufzuführen, was dann hundert Orchester, Profis wie Amateure, mit grösstem Erfolg taten. Mit der Folge, dass Cathy Marston die besondere Sensibilität auffiel, mit der das komponiert ist.
«Atonement ist meine erste Ballettmusik, und ich möchte unbedingt eine weitere schreiben», meint Laura, die ungern auf die Stummfilme, Spielfilme und TV-Serien festgelegt wird, für die sie arbeitet. Genauso wichtig ist ihr, was sie «concert music» nennt, eigenständige Musik. Für das Ballett zu schreiben ist gewissermaßen ein Weg zwischen beidem und «auf jeden Fall schwieriger als Kino, weil die Musik alles trägt». Wie ist sie da herangegangen? «Ich habe McEwans Buch gleich ein paar Mal gelesen, um da tief hineinzukommen, und dann gab es eine Menge von Zoom-Meetings mit Cathy, sie in Zürich, ich in London. Bei ihr ist Briony, die Hauptfigur, als Erwachsene keine Schriftstellerin, sondern Choreografin, aber die Charaktere bleiben dieselben.» Briony ist, im Jahr 1935, als Dreizehnjährige als erste am Tatort gewesen, als ihre Cousine vergewaltigt wurde, und hat wider besseres Wissen jenen Robbie bezichtigt, den ihre ältere Schwester Cecilia liebt.
«Ich muss an die Emotionen herankommen, ehe ich die Musik schreibe, und dafür mache ich auch Zeichnungen, mit Bleistift, auch bei concert music, und dann gehe ich ganz altmodisch mit Notenpapier ans Klavier.» Gibt es bestimmte Muster, auf die sie dann zurückgreift? «Nein. Ich versuche immer, frei zu sein, mich nur von der Geschichte und den Charakteren inspirieren zu lassen. Mit jedem Projekt fängt man ganz von vorn an. Ich habe Versuche, die ich niemandem zeigen würde.» Sie lacht. Entwürfe zu verschiedenen Szenen hat sie, in digitale Orchesterklänge umgesetzt, an Cathy Marston geschickt, und in der Diskussion wuchs nach und nach zusammen, was nun die Philharmonia Zürich spielt. Wobei den Rollen auch Soloinstrumente zugeordnet sind – für Briony das Klavier, für Cecilia die Geige, für Robbie das Cello. Zwei dieser Instrumente beherrscht Laura selbst, Klavier und Geige, dazu Bassgitarre.
Damit kam sie überhaupt zur Musik – abgesehen davon, dass ihr italienischer Vater ein Profipianist war und ihre englische Mutter als Amateursängerin auf der Bühne stand. Als Bassistin und Pianistin spielte Laura, in Birmingham geboren und in der Grafschaft Devon aufgewachsen, schon zu Schulzeiten in einer Big Band mit, für die sie auch komponierte, als Geigerin sammelte sie Erfahrung in einem Jugendorchester. Da lag es nahe, an der Universität von Liverpool eine Mischung aus Pop, Jazz und Klassik zu studieren. Weil der Kurs nicht zustande kam, stieg sie ganz in die Klassik ein, Komposition und Orchestrierung inklusive, und leckte Blut, als es auch um Filmmusik ging. Am London College of Music hat sie das Fach bis zum Master Degree studiert; mit Shakespeare stieg sie in die Praxis ein: Für sieben frühe Stummfilme zu seinen Stücken, Silent Shakespeare, schrieb sie Musik für Klavier, Gitarre und Streichquartett. Man hört da mit Debussy auch einen der Komponisten heraus, von denen sie besonders viel über das Orchestrieren lernte: Bernstein und Strawinsky, aber auch Jazzarrangeure wie Count Basie und Nelson Riddle. Und sie bewundert Ennio Morricone. «Er hat eine einzigartige Fähigkeit, alle Emotionen einer Szene in seiner Musik direkt zusammenzuführen, da kann die Musik sogar für sich stehen.» Gibt es Standards, an die sich Filmkomponisten heute halten müssen? «Nein, es ist eine besonders gute Zeit, es gibt nicht den einen Trend. Es gibt grosse Orchesterpartituren, experimentelle kleine Besetzungen, elektronische Partituren, Pop und Jazz…» Künstliche Intelligenz als Konkurrenz fürchtet sie nicht. «Das wird sich auf Hintergrundmusik beschränken und es die Leute eher mehr schätzen lassen, wenn sie das Menschliche eines echten Komponisten fühlen, die Einzigartigkeit einer großen Filmpartitur.»
Natürlich kommt es vor, dass TV-Regisseure enge Vorgaben machen. Aber für die Polizeiserie Redemption auf ITV konnte die Komponistin sogar einen Song verwenden, den ihre jetzt 16 Jahre alte Tochter Marcella schrieb. Derzeit arbeitet Laura an einem Stück für einen riesigen Kinderchor – 1000 Stimmen! – und zwei Orchester des Londoner Stadtteils Ealing, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Kinderbuchautor Michael Rosen hat den Text geschrieben, in der Royal Albert Hall wird das Werk demnächst uraufgeführt. Und der Erste Weltkrieg lässt sie weiterhin nicht los: Nach der Musik zu Battle of the Somme und einer weiteren zum 1917er Stummfilm zur Schlacht an der Ancre ist jetzt die Schlacht von Arras an der Reihe, wieder ein Auftrag des Imperial War Museum in London.
In Atonement prägt der Krieg nur zeitweise das Geschehen. Da ist der Komponistin vor allem das private Drama nahegegangen. Was mit einem unschuldigen Sommertag beginnt, «ganz einfache Klaviermusik», führt bald «zu den dunkelsten Stellen, zur Vergewaltigung», und am Ende des Buchs wie des Balletts ist Briony – «wie meine Grossmutter», sagt Laura – eine alte, demente Frau, deren Erinnerungen sich verwirren. Welche komplexen Klänge sie dafür fand, das sei hier nicht verraten. Nur die Maxime der Komponistin: «Ich möchte dem Publikum helfen zu verstehen, was passiert.»
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 111 der Oper Zürich, April 2024, und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. “Atonement” hatte am 28. April Premiere in der Oper Zürich, in Anwesenheit des Autors Ian McEwan. Das Foto von Laura Rossi ist der Website der Komponistin entnommen.
“I want to help the audience understand what is happening”
British composer Laura Rossi talks about her work for the ballet ‘Atonement’ in Zurich – and how she got there
It’s a rare situation to hear a story in sound that you haven’t yet read. I only know the outline of what Ian McEwan’s 2001 novel Atonement is about as I sit in the rehearsal hall at Kreuzplatz and listen to the Philharmonia Zürich. Jonathan Lo steers the musicians through the second part of the ballet, which is based on the book, for the first time, and the score sounds so clear that images come to mind as if by magic – not only when military drums suggest the soldiers of the British army being evacuated from Dunkirk in 1940. Condensations, relaxations, large-scale rhythmic patterns, changes of register, impenetrable clusters, idyllic lines…
You can hear that it’s about conflicts, encounters and love. And that, last but not least, it is a film composer who is reading along in her large score a few metres behind the conductor and keeps looking happily into the orchestra. Laura Rossi travelled from London to Zurich for two days to clarify details with Jonathan Lo and Cathy Marston, the choreographer who conceived this project and expressly wanted Laura Rossi to be the composer. “What brought her to me was Battle of the Somme,” says Laura when we sit down together after the rehearsal. In a dazzling mood and speaking at breakneck speed, with “footage, 74 minutes” she summarises very succinctly what her special cinema hit is all about.
In the UK, practically everyone knows the silent documentary film about one of the most horrific battles of the First World War, which two British cameramen were sent to the Somme in the north of France to film in June 1916. Over a hundred French and British divisions and fifty German divisions faced each other. On the very first day, more than 19,000 British soldiers lost their lives, including many volunteers. Laura has a family connection to these bloody events, as her great-granduncle Fred was very lucky to have survived them. “As a 20-year-old stretcher-bearer, he belonged to the 29th Division, which also appears in the film, and kept a war diary. He died when I was ten years old.”
Although the silent film, shot before the battle and in its first nine days, also features shells and dead bodies – alongside cheerfully waving young men marching to the front in the summer sun – it was allowed to be shown in the UK in the same year and from then on held the record at the box office until Star Wars overtook it in 1977. In 2016, one hundred years after the battle, Laura Rossi was commissioned to write a new score for the film to be performed live in front of the screen, which a hundred orchestras, both professional and amateur, did with great success. As a result, Cathy Marston was struck by the special sensitivity with which the music was composed.
“Atonement is my first ballet score, and I really want to write another one,” says Laura, who is reluctant to be pinned down to the silent films, movies and TV series she works for. Just as important to her is what she calls “concert music”, autonomous music. In a way, writing for ballet is a path between the two and “definitely more difficult than a film score because the music carries everything.” How did she approach it? “I read McEwan’s book a few times to get deep into it, and then there were a lot of Zoom meetings with Cathy, she in Zurich, me in London. With her, Briony, the main character, is not a writer as an adult, she is a choreographer, but the characters remain the same.”
As a thirteen-year-old in 1935, Briony was the first on the scene when her cousin was raped and, against her better judgement, she accused the Robbie that her older sister Cecilia loves. He is released from prison after enlisting as a soldier – whether he survives remains to be seen. “I have to get to the emotions before I write the music, and for that I also make drawings, in pencil, even for concert music, and then I go to the piano the old-fashioned way with music paper.” Are there certain patterns that she then falls back on? “No. I always try to be free, to be inspired only by the story and the characters. With every project, you start from scratch. I have experiments that I wouldn’t show anyone.” She laughs. She sent drafts of various scenes, converted into digital orchestral sounds, to Cathy Marston, and the discussions gradually resulted in what the Philharmonia Zurich now plays. The roles are also assigned solo instruments – the piano for Briony, the violin for Cecilia and the cello for Robbie. Laura masters two of these instruments herself, piano and violin, plus bass guitar.
That’s how she got into music in the first place – apart from the fact that her Italian father was a professional pianist and her English mother was an amateur singer on stage. Born in Birmingham and raised in the county of Devon, Laura played bass and piano in a big band at school, for which she also composed, and gained experience as a violinist in a youth orchestra. It was therefore an obvious choice to study a mixture of pop, jazz and classical music at the University of Liverpool. Because the course didn’t materialise, she went all-in on classical music, including composition and orchestration, and licked blood when it came to film music. At the London College of Music, she studied the subject up to a Master’s degree; with Shakespeare, Laura got into the practice: She wrote music for piano, guitar and string quartet for seven early silent films based on his plays, Silent Shakespeare.
You can also hear Debussy in it, one of the composers from whom she learnt a great deal about orchestration: Bernstein and Stravinsky, but also jazz arrangers such as Count Basie and Nelson Riddle. And she admires Ennio Morricone. “He has a unique ability to bring all the emotions of a scene together directly in his music, so the music can even stand on its own.” Are there standards that film composers have to adhere to today? “No, it’s a great time to be a film composer, there’s no one trend. There are big orchestral scores, experimental chamber scores, electronic scores, pop and jazz…” She is not afraid of artificial intelligence as competition. “It will be limited to background music and will make people appreciate it even more when they feel the human element of a real composer, the uniqueness of a really great film score.”
Of course, it happens that TV directors set tight guidelines. But for the police series Redemption on ITV, the composer was even free to use a song written by her now 16-year-old daughter Marcella. Currently Laura is working on a piece for a huge children’s choir – 1000 voices! – and two orchestras in the London borough of Ealing, where she lives with her family. Children’s author Michael Rosen has written the text and the work will soon be premiered at the Royal Albert Hall. And the First World War is still on her mind: after the music for Battle of the Somme and another for the 1917 silent film about the Battle of the Ancre, it is now the turn of the Battle of Arras, another commission from the Imperial War Museum in London.
In Atonement, the war only occasionally characterises the events. Primarily the private drama got close to her heart while composing. What begins with an innocent summer’s day, “very simple piano music”, soon leads “to the darkest parts, to the rape scene”, and at the end of both the book and the ballet, Briony is an old woman with dementia whose memories become confused – “like my grandmother”, says Laura. The complex sounds she found for this shall not be revealed here. Only the composer’s maxim: “I want to help the audience understand what is happening.”
English version by deepl, revised by the author