Ein komponierter Familienroman: Aribert Reimanns neue Oper “L’invisible” bricht das Schweigen gegenüber dem Tod und wird in Berlin zum Triumph
Nirgendwo ist das Schweigen, das Beschweigen so schlimm wie in einer Familie. Die Bande sind zu eng für den Ausbruch, die Abhängigkeiten und Rituale zu stark. Doch was man beschweigt, das ereignet sich erst recht. Der Tod gewinnt im Schweigen an Macht, der “Eindringling”, wie ihn Maurice Maeterlinck in seinem kleinen Drama L’intruse nennt. Da leidet eine Wöchnerin, deren Neugeborenes nicht schreit, als sei ihm das Schweigen schon mitgegeben. Die junge Frau leidet hinter verschlossener Tür, bis hin zum Tod, ohne die Familie. Die meiden die Kranke, sitzen steif am gedeckten, leeren Tisch, der Vater mit verschränkten Armen, zwei Mädchen wie Püppchen, eine größere Schwester beunruhigt, ein Onkel, der sich bis zum Zynismus sorglos gibt …
So sitzen sie in der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne, während sechs Kontrabässe mit Schlägen des Bogenholzes und harschem Zupfen das Schweigen zerreißen, während die Celli knapp und stoßweise zu atmen beginnen und ein alter Mann blind nach einem Stuhl tastet, der Vater der weggesperrten Mutter. Der Einzige, der seine Sorge äußert, der Einzige, der größere Linien singt: “Man weiß nicht, was passieren wird …” Er stört im tableau vivant der fahlen Farben, mit dem die jüngste, die neunte Oper von Aribert Reimann beginnt: L’invisible, gefügt aus drei kurzen Dramen des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck: L’intruse (“Der Eindringling”), Interieur und La mort de Tintagiles werden verbunden zu einem Familienroman im Schatten des Todes, der den 1936 geborenen Komponisten seit frühester Zeit begleitet.
Am Ende des Abends wird ein Kind sterben, einer unfassbaren Macht ausgeliefert. Vielleicht ist dieses Kind so alt wie der geliebte große Bruder des Komponisten im Jahre 1944, Dietrich Reimann, dem die Partitur gewidmet ist. Er lag in Berlin mit Scharlach im Krankenhaus, als dieses von einer Bombe getroffen wurde. Reimanns Kriegserlebnisse, Feuer, Angst, Flucht, wirken in vielen seiner Opern nach, zuletzt in den Flammen seiner 2010 an der Wiener Staatsoper uraufgeführten Medea. Aber über Traumabewältigung ging das immer weit hinaus. Zum meistgespielten deutschen Opernkomponisten nicht nur seiner Generation wurde Aribert Reimann auch, weil die Intensität seiner Fragen an Leben und Tod sein Handwerk schärfte, seine Musiksprache – und weil er seine Themen nie an Aktualitäten band.
Die ersten Schreie in L’intruse stößt das Baby aus, nachdem seine Mutter gestorben ist. Zwölf Holzbläser brechen mit einem eng gesetzten Cluster die Erstarrung der Familie, die bis hierhin nur von Streichern begleitet wurde. Dieser schrille, schmerzvolle Bläserakkord war das Erste, was Reimann innerlich hörte, als er den Text las und sein Libretto daraus schuf, im flämischen Französisch des Autors, einer so einfachen wie magischen Sprache, erdig und poetisch. “Je vois l’avenue jusqu’aux bois de cyprès” (“Ich sehe die Straße bis zum Zypressenwald”), solche kurzen Sätze kommen Reimanns vokalen Linien entgegen, pausendurchsetzten, stets gespannten Fieberkurven des Ungesagten. Die Zypressen bedeuten Tod, und Ursule, die sie sieht, teilt als Einzige die Angst des blinden Alten.
Die fantastisch klare, bewegte Sopranistin Rachel Harnisch, der nobel drangvolle Bassbariton von Stephen Bronk und weitere Solisten des überragend gut besetzten Ensembles sind auch als Gestalten der weiteren Kapitel zu erleben. Dass ihre Rollen miteinander verwandt sind oder gar verschiedene Aspekte ein und derselben Person zeigen, ist in Reimanns Libretto angelegt und wird von dem jungen russischen Regisseur Vasily Barkhatov zumindest in der ersten Hälfte wörtlich genommen. Mit halb realistischer, halb symbolhafter Genauigkeit inszeniert er das vor der nüchternen Villenfassade des Bühnenbildners Zinovy Margolin. Der beklemmenden Familienaufstellung folgt mit Interieur ein Blick von außen ins Wohnzimmer – halbwegs dieselbe Familie, Jahre später, man schmückt den Weihnachtsbaum und weiß nicht, dass eine Tochter ertrunken ist.
Das aber weiß der “Fremde”, der sie aus dem Fluss gezogen hat, nun vorm Fenster steht und zögert, die schreckliche Nachricht zu überbringen. Es übersteigt seine Kraft so, wie es einmal die Holzbläser tun, aus der Tiefe nach oben geschichtet. Zur Bassklarinette kommen Kontrabassklarinette und Kontrafagott, in nächster Stufe Englischhorn und Heckelphon – eine jener Passagen, die weit ausstrahlen. Hier wird das Material autark und gewinnt seine eigene Schönheit oder auch Schicksalhaftigkeit. Denn von der erzählt die Musik unablässig. Nach den harschen, vertikal ausgerichteten Streichern von L’intruse sind es in Interieur ausschließlich Holzbläser, die um die Ertrunkene ins Fließen geraten.Stets wechselt der Duktus. Die Instrumente können Mitwisser sein, Antreiber, Kommentatoren oder der dunkle Fluss, in den ein Mädchen stieg.
Das Orchester der Deutschen Oper Berlin ist unter der Leitung von Donald Runnicles der Arbeit des Komponisten ebenbürtig, sowohl in seiner Intensität wie in der Rücksicht auf die Stimmen: Immer sind sie frei genug, um im Bedrückenden zur Schönheit des Ausdrucks zu finden wie der Tenor Thomas Blondelle. Aus dem zynischen “Onkel” des Beginns ist nun ein “Fremder” mit anrührend zarter Stimme geworden, aus dem Großvater der Alte an seiner Seite. Der hat zwei Töchter, die am Ende zusehen, wie die Botschaft überbracht wird, und einen so überirdisch schönen Kanon singen, als hätte hier Claudio Monteverdi die Hand des Komponisten geführt – einer der wenigen Momente von Trost neben den Gesängen unsichtbarer Countertenöre, deren Interludien die Stücke miteinander verbinden.
Am Ende werden sie sichtbar – aber als Todesengel, als Dienerinnen einer schicksalsgleichen Königin in La mort de Tintagiles. Tintagiles, aus der Sicht von Regisseur Barkhatov im ersten Stück zur Welt gekommen, hat als Knabe das zweite Stück am Weihnachtstisch verschlafen und wird nun selbst zum Opfer. Die Königin ist eine alte, übermächtige Gestalt, die man nicht sieht und die den Jungen, wie alle potenziellen Erben, töten will. Hier verlässt die Inszenierung das bürgerliche Ambiente und macht die Villa zum Spital, in dem der Junge – eine mit Salvador Macedo berührend besetzte Sprechrolle – totgepflegt wird, obwohl seine großen Schwestern ihn zu beschützen suchen. Das Krankenhaus als Tatort bezieht sich auf den Widmungsträger der Partitur, rückt aber die Familie und das Drama der Verdrängung aus dem Blick.
Dabei singt Ygraine (wiederum die grandiose Rachel Harnisch) als Schwester des Knaben selbst, die Königin sei “die Mutter unserer Mutter”. Da könnte sich, ganz ohne Spital, im Wohnzimmer die Perspektive auf Verhängnisse von geradezu antikischer Wucht richten. Sie wird indessen zugebaut, bis am Ende Replikate des toten Knaben auf der ganzen Bühne verteilt sind – erhängt, als Unfallopfer oder in einer Wanne à la Marat, während die Todesengel in ostasiatisch inspirierten Müllsackkostümen von Olga Shaishmelashvili herumhuschen. Tieferes weiß die Musik, in der nun alle Instrumente, auch Blechbläser, zum Einsatz kommen – nie zugleich, sondern gestaffelt und gesteigert. Unter den Gesangslinien werden rohe Akzente gesetzt, wird Bläsergestein geschmirgelt, und ein großer Nonensprung der Geigen ist die grausame Antwort auf den Ruf “Gib ihn zurück!”.
Hier knüpft Aribert Reimann an seine großen Opern an, die Blöcke, die Jagden, die sich aufbäumenden Linien. Damit aber auch, wie in Lear, Troades oder Medea, an Fragen nach dem Zustandekommen des “Schicksals”. Aus der magischen Intimität der Maeterlinckschen Texte wird nicht zuletzt eine Anklage des Verschweigens, des Zögerns, ängstlichen Abwartens. “Es ist vielleicht Zeit, sich zu wehren”, sagt hilflos ein Verbündeter des Jungen. Auch dieses verheerende “vielleicht” stellt Reimann in seiner Partitur zur Rede, nicht verurteilend, aber so genau wie möglich. Und dieses Gelähmtsein hat etwas ziemlich Aktuelles. Das alles geht einem nach. Am Ende mag man kaum glauben, dass es nur 90 Minuten waren, so vieles hat sich verbunden. Das Publikum im ausverkauften Haus feiert den 81-jährigen Komponisten wie einen Popstar.
Dieser Text entstand für die ZEIT und erschien dort am 12. Oktober 2017 in einer redaktionell um 780 Zeichen ausgedehnten Fassung, auch auf ZEIT online zu lesen. Er ist urheberrechtlich geschützt. Das Foto von Bernd Uhlig zeigt Stephen Bronk als den Alten in “Interieur”.