“Sterne können wie Schnee aussehen”

Vor dem Züricher “Nussknacker”: Eine Begegnung mit der israelischen Kostümbildnerin Buki Shiff und ihrem roten Zauberbuch

Sie geht gern zum Strand, „aber nur abends, wenn die Sonne nicht brennt.“ Die Mittelmeersonne ist das einzige, was sie zu Hause stört, „ich hasse das Wetter in Israel! Und ich liebe den Regen und den Schnee, wenn ich in Europa bin. Dauernd werde ich deswegen ausgelacht.“ Buki Shiff muss selbst darüber lachen. Es käme ihr nicht in den Sinn, wegen des Wetters aus Tel Aviv wegzuziehen, sie geht, so Mitte Fünfzig, nicht mal gern auf Reisen, aber nun ist sie hier in Zürich und wirkt ziemlich zufrieden, obwohl es ein erschreckend sonniger Septembertag ist. Immerhin durfte sie sogar Schneeflocken entwerfen, die anders aussehen werden als alle Schneeflocken, die man je in Tschaikowskys Nußknacker tanzen sah. Wie, das verbirgt der große rote Aktenordner, den die Kostümbildnerin auf den Kantinentisch legt.

Es ist ein Zauberbuch zum Eintauchen. Zeichnungen, Collagen, Fotos, Schnipsel, Fundstücke, angeheftete Stoffmuster, Figuren über Figuren, überall unlesbare Bleistiftnotizen. „Wundern Sie sich nicht über diese komischen Zeichen, das ist hebräisch“, sagt sie auf Englisch. Das rote Buch enthält all die Entwürfe, die in der Schneiderei nebenan schon fast alle realisiert wurden, und noch mehr – die Bilder, die sie inspirierten, Fotos von den Anproben, Skizzen der Etappen, „zum Beispiel hier, das Kleid der Königin, das war zuerst länger.“ Es ist ein nach unten sich konisch vergrößerndes Barockgewand, in schwarz und weiß halb gezeichnet, halb aus Mustern collagiert. Einmal reicht es bis zum Boden, dann lässt es, ganz unbarock, die Hackenschuhe sehen. „Ich musste es kürzen, weil sie sonst nicht gut darin hätte tanzen können.“

Woher hätte Buki Shiff das auch wissen sollen? Es ist das erste Ballett in ihrer mehr als dreißigjährigen Laufbahn. „Ich sagte Christian Spuck, ich habe so etwas nie gemacht, und er antwortete, das spielt keine Rolle.“ Wichtiger war ihm die weitgespannte Fantasie, mit der Buki Shiff international berühmt geworden ist, vor allem mit Kostümen für die großen europäischen Opernhäuser. „Mit Tänzern ist es total anders. Natürlich stehen auch Sänger schon lange nicht mehr nur herum, aber beim Ballett muss jedes Kostüm einem Körper angepasst werden, der sich die ganze Zeit bewegt. Man nimmt andere Stoffe, leichtere, weichere.“ Und kürzt auch mal ein Kleid. „Ich finde es immer noch sehr schön!“ Für sie muss und soll es sowieso nicht historisch korrekt sein. „Es hat nur das Flair einer Epoche. Es sind immer ein paar moderne Details dabei.“

Spätes neunzehntes Jahrhundert wählte sie für die Welt der Familie mit den Kindern Fritz und Marie, ihren Eltern, Cousins und Tanten, „fast eher nach Queen Victoria, edwardianischer Stil. Farbenreich und sehr realistisch.“ Die Welt des Königspalasts, in die sich Marie hineinträumt, mitsamt Ministern und Gouvernanten, „das ist eine Art Barock in Schwarz, Weiß und Silber, extravagant.“ Und dann gibt es die Fantasiewelt der Mäuse, Husaren, Blumen, Schneeflocken, Clowns, da geht es entfesselt zu. Die Mäusekönigin hat Oberarme, die halb wie enorme Muskeln, halb wie Flügel aussehen, abgeguckt von einem krassen Kleid irgendwo im Internet „sie muss ja ein bisschen grausam sein, und ich fand dieses Foto und dachte, das ist es.“

Freilich hatte sie zuvor schon einen Blick aufs Ganze. „Ich fange nicht mit einzelnen Figuren an. Ich arbeite ja auch oft als Bühnenbildnerin, und wir haben von Anfang an alle zusammen nachgedacht. In die Welt, die Christian Spuck erschaffen will, brachten der Bühnenbildner und ich unsere eigenen Ideen rein, dann diskutierten wir das, genauso, wie wenn ich Oper mache, und dann überlegte ich, wie pflanze ich die individuellen Figuren in das Ganze ein.“ Da war längst der „Mixer“ in ihrem Kopf am Rotieren, wie sie das nennt. „Ich hole mir Inspirationen aus Kino, Theater, Malerei, TV, Videos, Internet… In meinem Kopf collagiert sich alles, wird gemixt wie ein Milkshake, und dann versuche ich das zu konzentrieren auf den specific look, die Idee der Show.“

nussknacker zürich

Manchmal zündet bei ihr auch ein bestimmter Fund die Kernidee, so, wie ihr das bei Gioacchino Rossinis Semiramide mit Sheika Moza Bint Nasser ging, der Frau des vorigen Emirs von Katar. „Sie ist erstaunlich schön, sehr reich, kann alles tun, was sie möchte, und entwirft ihre Kleider selbst. Alles lang, sehr bedeckt, eastern look, und doch sieht sie total westlich modern aus. Das war genau der Stil, den ich für diese babylonische Oper suchte.“ Das rare Werk hatte dieses Jahr in München Premiere (besser hat Joyce DiDonato noch nie ausgesehen als in diesen Gewändern) und wird jetzt als Koproduktion in London vorbereitet. Inszeniert von eben dem Regisseur, der Buki Shiff vor 27 Jahren als Kostümbildnerin für die Oper entdeckte, David Alden.

Das war in Tel Aviv, wo er an der neuen Israeli Opera Hoffmanns Erzählungen inszenierte. Buki Shiff hatte hier, an der Universität ihrer Geburtsstadt „Stage and Costume Design“ studiert und schon einige Theaterproduktionen ausgestattet, Alden gefiel ihr Portfolio, und nach dem Hoffmann bat er sie 1994 zum Tannhäuser an die Staatsoper in München. Eine der Folgen war ein unverhoffter Anruf in ihrem Atelier. „Da sagte eine Dame auf Englisch mit deutschem Akzent, sie sei die Assistentin von Harry Kupfer, der wolle mich sprechen. Ob das in fünf Minuten ginge. Ich habe gelacht und gedacht, mich will jemand veralbern. Kupfer! Aber dann rief er wirklich an.“ Er hatte Tannhäuser auf Arte gesehen und wollte mit ihr Lohengrin in Berlin machen. So ging das dann weiter. Aber woher kommt bei Buki Shiff die Affinität zur Klassik?

„Ich habe von sechs bis vierzehn Jahren Klavier gelernt, auch Akkordeon, und mein Vater, der Ingenieur war, hörte gern Oper. Wir hatten eine Menge Platten. Wissen Sie, er hörte sogar gern Wagner in den 60er und 70er Jahren, das war nicht gerade üblich. Ich meine, seine ganze Familie kam um im Holocaust, und er hörte gern Wagner! Es ist ja alles klar, Wagner war Antisemit, und mein Vater ging nie zurück nach Deutschland. Aber er konnte trennen zwischen der Musik selbst und der Person Wagner.“ Das kann Buki Shiff, die außerhalb von Ring und Parsifal alle Wagner-Figuren eingekleidet hat, auch. Sie erwartet das aber nicht von allen und findet, dass die Wagner-Rezeption in Israel weiterhin Privatsache bleiben sollte. „Ich bin sehr liberal, aber solange dort Menschen im Konzert, in der Oper sitzen, die es erschrecken könnte…“

Sonst sieht sie zwischen dem Theater in Israel und Europa keinen Unterschied. „Es ist in Israel sehr fortschrittlich und extrem politisch, beißend. Natürlich gibt es Politiker, die damit nicht einverstanden sind, aber du kannst sagen, was du willst.“ Unterschiede sieht sie vor allem an den europäischen Häusern selbst. „In den 90ern inszenierte man radikaler und wagte mehr. Aber wenn ich auf meine Produktionen gucke, selbst auf den Tannhäuser von 1995 – das sieht aus, als hätte ich es gestern gemacht, honestly “ Extrem ist sie auf ihre Art auch beim Nussknacker. „Lassen Sie uns ein wenig zu den Blumen gehen“, sagt sie sanft, im roten Ordner blätternd, und landet bei halbnackten Jungs mit Bärten aus Blüten. „Der Unterschied zu Sängern“, sagt sie lachend, „ist, sie haben alle tolle Figuren und sehen jung aus. Aber wenn ich einen dicken Sänger mit Glatze habe, ist das kein Limit. Das kann ich für einen Charakter nutzen.“

Bukis eigene Vorliebe für Süßigkeiten hat derweil die Züricher Werkstätten herausgefordert. „Die Zuckerfee ist eine Frau wie ein Tisch mit Törtchen drauf, cup cakes auf einem Tutu. Die dürfen nicht zu schwer sein. Sie haben das hier unglaublich gut hingekriegt. Kommen Sie!“ Im Korridor zur Kostümabteilung holt sie ein federleichtes Erdbeertörtchen aus einer Kiste. Eins zu eins, perfekt, zum Anbeißen. Vielleicht doch ein Grund, nach Europa zu ziehen? „Nein! Meine Gene sind europäisch, mein Spirit ist israelisch. Wenn man dort geboren ist, bleibt man innendrin das ganze Leben Israeli. Viele leben in den USA und Europa, und die würden Ihnen dasselbe sagen.“ Was aber ihre Winterfantasie betrifft, sei nur gesagt: „Für mich können auch Sterne wie Schnee aussehen.“

Dieser Text erschien im September 2017 im MAG 52, dem Magazin der Oper Zürich, und ist urheberrechtlich geschützt. Foto aus dem Züricher “Nussknacker”, der am 14. Oktober 2017 Premiere hatte: Gregory Bartadon