„I don´t like being me so much…”

Der Brite Christopher Ventris zählt zu den besten Wagnertenören der Welt. Doch jetzt macht er als Holzfäller in “Mahagonny” Station. Ein Gespräch über verliebte Sängerknaben, Leipzig und den Brexit

Er war damals Narraboth, 29 Jahre jung. Täppisch, verliebt, respektvoll zugleich versuchte er die Prinzessin Salome vom Propheten Jochanaan fernzuhalten, der junge Hauptmann der Wache, zwischen steilen Betonwänden eines Parkdecks, wo Nikolaus Lehnhoff die Oper von Richard Strauss spielen ließ. „Sprich nicht solche Worte zu ihm. Ich kann es nicht ertragen…“ Narraboths Verzweiflung drang bewegend in jeden Ton, den Christopher Ventris sang. Ich erlebte einen großen Abend in Leipzig und hätte nicht im Traum gedacht, dass mir Ventris gut 23 Jahre später auf der Probebühne der Oper Zürich gegenübersitzen würde, in den Aufbauten zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 1930 in Leipzig uraufgeführt.

„I remember everything very well“, sagt er. „Anja Silja als Herodias, der junge Falk Struckmann als Jochanaan, wir haben später Parsifal zusammen gesungen, er den Amfortas…“ Auch für Christopher Ventris war es ein großer Abend, nämlich der Beginn seiner internationalen Karriere, mitten in einer maroden, grauen Stadt kurz nach der Wende. „Das Leipzig von 1994 war nicht das von heute. Not so colourful… Wir waren da ein bisschen eingesperrt, teils ohne Telefon, Handy und Internet gab es ja nicht. Nur CNN.“ Aber wenn die richtigen Leute in der Nähe sind, ist es fast egal, wo jemand gut singt, der Buschfunk der Oper ist eines der schnellsten Kommunikationsmittel der Welt. Schon 1998 debütierte der junge Brite als Parsifal in Antwerpen.

Als Londoner Schuljunge kam er zuerst auf den Geschmack, im Chor einer Amateuroperntruppe, deren Solisten Studenten von der Royal Academy waren. „Sänger können sehr charming sein“, sagt er mit seiner warmen Stimme, eher baritonal als tenoral, entspannt, aber melodiös, in der Färbung die Worte spiegelnd. „Und wenn du vierzehn oder fünfzehn bist und eine 25jährige Sopranistin erlebst… haahh… ich verliebte mich ziemlich oft, mit dem Herzen jedenfalls, anyway.“ Das wurde seine Welt, während sein Vater als Ingenieur bei British Aerospace an Senkrechtstartern arbeitete und seine Mutter sich mit Kostümschmuck befasste, „aber nicht fürs Theater.“ Als es dem Sohn immer ernster wurde mit dem Singen, „sagten sie nicht nein. Sie hatten sich einen Sinn für Träume bewahrt, ich bin auch ein Träumer – ich glaube an das Gute im Menschen.“ Über die jungen Solisten geriet er an die Gesangslehrerin Joy Mammen und sang ihr als Bariton vor, „rauf zum f und wieder runter.“

Sie machte ein paar Übungen mit ihm. „ Auf einmal kam ich bis zum a, und nach einer halben Stunde sagte sie: Du bist ein Tenor. Schöne Überraschung!“ Im vorigen Sommer kam Joy Mammen, mittlerweile achtzig Jahre alt, nach Bayreuth, um ihren Schüler als Siegmund in Wagners Walküre zu hören. „Sie muss unglaublich stolz gewesen sein,“ sagt er, und es klingt, als freue er sich vor allem für sie. Seinen Lieblingskomponisten Wagner entdeckte Christopher nicht etwa an der Royal Academy of Music, an der er ab 1983 Gesang studierte, auch nicht in der Oper, sondern im Fernsehen: Die BBC sendete zehn Wochen lang den Ring in Chereaus legendärer Inszenierung. „Ich guckte mir das jeden Sonntag an. Es war neue Musik für mich und ich kannte die Sprache nicht. Es war etwas Spezielles, die Musik eines Outsiders, die meiner Seele gut tat.“

Aber noch musste Wagner warten. Erstmal gehörte Christopher zu den „understudies“, die sich beim Opernfestival Glyndebourne als Einspringer bereit halten durften. Da überzeugte er in The Rake´s Progress, lernte den Regisseur Nikolaus Lehnhoff kennen und Lothar Zagrosek, den neuen Leipziger GMD, dadurch ergab sich der Weg nach Leipzig und zum Rest der Welt. „Und jetzt“, sagt der Sänger amüsiert, „werde ich selbst schon Teil der Geschichte und treffe hier junge Sänger, die neu in der Welt der Oper sind.“

ventris in bayreuthParsifal in Herheims Bayreuther Inszenierung: Christopher Ventris (Foto: AP)

Neben den mythischen Wagnerhelden, deren Interpretation ihn berühmt machte, Parsifal, Lohengrin, Siegmund, ist der Paul Ackermann in Mahagonny eine sehr realistische Gestalt, in die er sich auch im Gepräch jäh verwandelt. Er lässt den Kopf nach vorn und zwischen die Schultern sinken, späht  im Raum herum: „Ich bin als Paul ein misstrauischer Typ, höre allen zu. Und dann explodiere ich…“

Dieser Holzfäller, sagt er, „hat seit sieben Jahren keine Frau gesehen, findet eine, die er sich leisten kann, hat für eine Weile seinen Spaß, findet dann aber alle in der Stadt Mahagonny ein bisschen depressiv und denkt, das Leben könnte besser sein. Ich hab´ so hart gearbeitet, und hier sieht alles so billig aus, provisorisch, nicht real. Das ist wie in der Gesellschaft heute, nichts hält. Natürlich, ein paar Dinge…“ Er sieht nachdenklich aus, wieder ganz er selbst, der er übrigens im Auftritt gar nicht sein mag. „I don´t like being me so much. Mit ein bisschen Schminke und Kostüm kann ich sonstwer sein, ich brauche die Hilfe der Bühne, um Musik zu machen. Deswegen habe ich nie ein Liedrepertoire erarbeitet. Hätte ich wohl tun sollen, wenn ich so darüber nachdenke. Aber es braucht schon so viel Zeit, um Neues zu lernen!“

Er klopft auf den dicken Klavierauszug vor sich: Tristan. Sein Traum seit langem, in Brüssel soll er demnächst wahr werden, frühere Anfragen hat Christopher abgewiesen. „Hätte ich Tristan vor zehn Jahren gemacht, wäre ich jetzt schon am Ende. Zur falschen Zeit ist das eine gefährliche Rolle. Es gibt keine höhere Lage in meinem Repertoire, damit stoße ich bei mir an die Decke.“ Mit der Stimme müsse man gut umgehen, „das ist keine Geige in ihrem Kasten, das bist du selbst, the voice. Und die ganze Zeit wirst du beurteilt. Wenn Zweifel aufkommen, nimmt man andere, es ist ein Haifischgeschäft.“ Damit es seinem unersetzlichen Instrument gut geht, trainiert er. „Der Körper hält das kleine Ding hier, die Stimme. Ich darf auch nicht dick werden. Auch hier in Mahagonny gibt´s eine Menge hübscher Kerle, da muss ich mithalten.“

Und alle zwei, drei Monate kommt die Stimme in die Werkstatt. Wie so viele Sänger von Klaus Florian Vogt bis Georg Nigl ist auch Christopher Ventris seiner alten Gesangslehrerin treu geblieben. Von der jetzt 80jährigen Joy Mammen lässt er sich die Stimme auseinandernehmen, „es ist wie checking the car. Wir zerlegen die Stimme. Hoohoo, nur die Basis, Huhuhu, Falsett, verschiedene Farben, Singübungen, Atemübungen, und dann wird das wieder zusammengemischt. Es dauert eine Stunde, danach bin ich sehr müde. Es ist gut gegen die dauernde Anspannung der Stimme, vierter Gang, fünfter Gang… Es hilft mir, meine jugendliche Qualität zu bewahren. Ich habe ja immer noch das Funkeln, es wird nicht wabbelig.“

Ein strapaziöses Dasein, oder? „Es hat seine Vorzüge, Tenor zu sein. Es gibt nicht so viele davon im Bereich der German singers. Ich bin auf einer Liste von vielleicht zehn Namen, bei den Baritonen sind es fünfzig, die natürlichere Lage. Und zum Glück haben wir Jonas Kaufmann. Er nimmt viel Druck von uns,weil er sich herumschlägt mit Publicity und Aufmerksamkeit, er will alles tun, und er kann es. Ich habe ein sehr schönes Leben in der Mitte, mit tollen Leuten in schönen Städten arbeiten… aber natürlich haben wir alle unsere Familienprobleme.“ Er wird wieder nachdenklich. „Viel Reisen ist nie einfach mit zwei kleinen Kindern. Jetzt sind sie größer und gehen zur Schule, aber die ersten Jahre waren wirklich hart.“ Das Reisen lässt derweil nicht nach – weil es in England wenige große Bühnen gibt.

„Ich habe seit zehn Jahren nicht mehr in England gesungen! Wir britischen Sänger brauchen Europa sehr. Hier wird für die Kunst noch Geld ausgegeben.“ Und der Brexit? „Ich war entsetzt! Ich war auch geschockt von einigen Freunden, die so wählten. Wegen der EU-Bananenstandards? Es ist nicht schön, dass meine Kinder nicht Europäer sein können, so wie ich es in den letzten vierzig Jahren war. Ich hoffe, der Übergang dauert Jahre. Wir müssen zusammenhalten in dieser unsicheren Welt.“ Christopher blickt auf die provisorische Holzfassade auf der Probebühne, die jetzt, verglichen mit dem Rest der Welt, erstaunlich stabil wirkt. „Ich frage mich, was wir am Ende des Stückes denken sollen, wenn die Stadt verbrennt. Vielleicht, dass auch mit Geld die Dinge nicht besser werden. Dass es nichts bringt, immer mehr zu wollen.”

Dieser Text erschien im MAG 53, dem Magazin der Oper Zürich, Oktober 2017, und ist urheberrechtlich geschützt. Die Premiere von Weills “Mahagonny”, dirigiert von Fabio Luisi und inszeniert von Sebastian Baumgarten, ist am 5. November 2017