Wilde Frau in Rot

Die Uraufführung von Aribert Reimanns Oper “Medea” in Wien

Schwere Zeiten sind für die Bratscher angebrochen. Endlich nimmt man sie ernst. Witze, die von ihrer Faulheit und ihrem Unvermögen künden, werden kaum noch erzählt, und selbst an der Wiener Staatsoper, einem Hort der Tradition, ist kein Bratscher mehr in Sicherheit, nur weil er in einer Gruppe spielt. Diese Gruppe nämlich hat nun Aribert Reimann in zehn Solisten aufgeteilt, ein Komponist, der den Grenzklang der Bratsche schon lange liebt, das Herbe, das Melancholische auch, dem die abgehobene Seligkeit der Geige verwehrt ist. Der Klang ist wie geschaffen für die Titelgestalt von Reimanns neuester, achter Oper, Medea. Darum singt sie ihre ersten Worte zu dichtem, polyphonem Gewebe von zehn Bratschen: »Die Zeit der Nacht, der Zauber ist vorbei…«

Die Worte kennt man wohl in Wien, sie sind immerhin von Grillparzer. Doch die Tonsprache Reimanns, seit Jahrzehnten neben Hans Werner Henze der meistgespielte lebende Opernkomponist, ist an der Staatsoper so wenig vertraut wie die meiste zeitgenössische Musik. Man bringt es hier ungefähr auf eine Uraufführung pro Jahrzehnt. Wer von der Wiener Staatsoper einen Kompositionsauftrag erhält, hat dafür die Gewissheit, einen Olymp zu bewohnen, und den Ansporn, einem großen Haus (und das ist der Koloss am Ring ja auch in der Qualität seiner Musiker und Sänger) Großes zu liefern. Mit Großem wurde gerechnet. Derartigen Andrang, solche Medienpräsenz erlebt man in Opernhäusern sonst nur, wenn Superstars die durchgerittenen Schlachtrösser des Repertoires besteigen.

Medeas Katastrophe erwächst aus unendlich vielen Tonfällen

Zum Glück hat Aribert Reimann, der gerade 74 Jahre alt geworden ist, bei der Arbeit einfach nur an seine Gestalten und ihre Sänger gedacht, er hat nichts »geliefert«, sondern uns mit Medea konfrontiert wie keiner zuvor. Diese Frau beschäftigt die Künstler seit 2500 Jahren, eine der menschlichsten und damit auch am schwersten fassbaren Gestalten der Antike. So tief gerät sie in einen ausweglosen Sog von Liebe und Macht, dass sie am Ende die eigenen geliebten, kleinen Söhne ermordet – und es sind womöglich nicht ihre ersten Opfer. Vom Verdacht, dass sie auch den im Wege stehenden Onkel ihres Geliebten Jason ums Leben brachte, ist sie nicht zu befreien. Das zwingt sie und Jason und beider Kinder zu eben jener Flucht nach Korinth an König Kreons Hof, vor dessen Mauern Medea und die zehn Bratscher nun schon ahnen, dass »der Zauber« vorbei ist: dass sie Jason verlieren wird, schlimmer, dass sie sich in ihm getäuscht hat.

Nicht zum ersten Mal ist Reimann sein eigener Librettist. Franz Grillparzers Medea hat er so genial zusammengestrichen, dass einen schon die Lektüre der Dialoge hineinreißt in die Geschichte einer vielleicht von Grund auf illusorischen Liebe. Jenseits der großen Tektonik archaischer Kriege, wie sie die Frauen seiner Oper Troades zerreibt, geht es hier um eine Beziehung vor fast zeitlosem Hintergrund. Das Goldene Vlies, das Zauberfell, um das sich die Machthaber reißen und mit dessen Raub Medeas und Jasons Geschichte begann, hält eine Machtmechanik in Bewegung, für die sich diese Medea nur am Rande interessiert. Sie will wissen, ob Jason zu ihr steht, in der Fremde und unter Verdacht. Sie wird erfahren, dass er sich bei Königstochter Kreusa in Sicherheit bringt, die Medea auch als Mutter ersetzen soll. Sie wird erleben, dass die Größe, die sie in ihm sah, die ihrer eigenen Gefühle war. Sie wird sich selbst entdecken.

Die Vielschichtigkeit dieser Figur mit Stringenz zu vereinen kommt der Quadratur des Kreises gleich. Sie gelingt Reimann wie seiner Wiener Hauptdarstellerin. Marlis Petersen ist phänomenal. Welche Kraft die Sopranistin in diese immer wieder berstenden, brechenden Gesangslinien bringt, die Sprünge, hinter denen doch ein großer Bogen zu ahnen ist. Das ist nicht nur in exzessiven Ausbrüchen stark, auch leisestes Filigran ist erfüllt von der Dringlichkeit, mit der Medea auf die Katastrophe zusteuert, sich treu werdend, sich in der Treulosigkeit des anderen in neuer Stärke entdeckend. Anders als in Reimanns Oper Lear wird die Katastrophe hier nicht von Anfang an mit brachialer Blockhaftigkeit vorgegeben, sie setzt sich aus den unendlich vielen verschiedenen Tonfällen dieser Partie und oft kammermusikalischen Details zusammen. Sie machen das Unausweichliche nachvollziehbar und bringen es dem Hörer beklemmend nahe.

Nur der Regisseur und Bühnenbildner Marco Arturo Marelli will von den Medea-Schichten nichts wissen. Für ihn ist sie einfach die wilde Frau in Rot. In karger Lavalandschaft kniet sie unter einem Glaskubus, der als Königspalast in die Bühne ragt. Wenn sie nicht kniet, dann läuft sie, händeringend, mit zotteligem Haar, aufs hysterische Naturweib reduziert, das sie bei Reimann weniger ist denn je. Kaum darf Marlies Petersen szenisch jene gefährliche, trügerische Ruhe zeigen, aus der ihre Töne kommen. Und schon die erste Wiederbegegnung mit Jason ist zum Klischee verdammt, weil Marelli diesen kernigen Bariton (Adrian Eröd) so klar als Opportunisten enttarnt, dass Medea ihn auch gleich abhaken könnte. Ein schnippischer Stenz, der, damit wir’s nur ja kapieren, den Argonautenkampfdress gegen höfisches Weiß auswechselt.

Auch sonst machen die Charakterisierungen deutlich, warum Marelli an der Staatsoper als »sichere Aktie« gilt, wie ihn der scheidende Opernchef Ion Holender lobt. Königstochter Kreusa, mit Michaela Selinger eigentlich eine weitere Idealbesetzung, ist die Karikatur einer verwöhnten Schnepfe, nicht das hilflose Mädchen im Spiel der Mächte und Gefühle. Auch Michael Roiders König Kreon muss durch vokale Hingabe wettmachen, was die Regie an Subtilität verschenkt. Dass der Herold aus Delphi, der in Korinth den Bannfluch gegen Jason und Medea schleudert, eigentlich nur die Zweifel spiegelt, die König Kreon selbst hat, wäre vielleicht eine nachdenkliche Personenführung wert gewesen und nicht nur einen martialischen Auftritt mit sieben lanzenbewehrten Fabelkriegern. Indessen macht Max Emanuel Cencic mit geradezu weiß glühender Präsenz deutlich, dass Reimann hier eine der stärksten Counterpartien nicht nur seines eigenen Œuvres geschaffen hat. Und die Lanzen, in die Lava gerammt, braucht Marelli, damit Medea immer mal wieder verzweifelt eine herausreißen kann, während hinten der Boden hochkippt und bedrohlich die Steine herunterrollen, denn es geht dem Ende zu. Gegen solche Banalität siegt mit unglaublicher Feinheit und Dringlichkeit die Musik. Zum letzten Mal darf Medea ihre Kinder sehen, es sind zwei anrührende Knaben, und sie hat schon beschlossen, sie »den Göttern zu senden«.

Ihr Herz zerreißt langsam, reibend, gefolgt von grauenvoller Ruhe

Es muss ihr das Herz zerreißen. Es zerreißt langsam, reibend, hauchend, in Gestalt eines Ganztonschritts, zuerst Fis-E als Flageolett in den Geigen, dann biegt sich das Intervall in sechs verschiedenen Tonhöhen zugleich, leise, dissonant, »die Sterne steigen auf«, singt Medea. Und unsichtbar daneben sieht man den Mond, der in Bergs Wozzeck aufgeht, bevor Marie erstochen wird: Dieselbe grauenvolle Ruhe.

Hier sind die Wiener Philharmoniker mit der Partitur und den Solisten zusammengewachsen, doch es braucht eine Weile an diesem Abend. Denn Michael Boder dirigiert souverän, aber nicht so fordernd, wie es das traditionsfeste Orchester nötig hätte. Längst nicht alle Streicher fiebern wie die zehn Bratscher, vieles franst aus. Erst in der zweiten Stunde ergreift das verzweifelte Leben in dieser Partitur das ganze Orchester. Der Brand kurz vor Schluss gelingt als heißkaltes Ereignis, kein Feuerzauber, sondern das Umschlagen von Schmerz in vertikale, sich jagend ablösende Blöcke. Ihm folgt der Dialog der Überlebenden. Zwischen einem Jason, der sich nun wieder an Medea klammern will, und einer Medea, die ihn fast mitleidig ernüchtert betrachtet und ihren letzten Weg geht, weg von ihm. Man könnte sich das auch in einer Küche vorstellen: letzter Morgen in der gemeinsamen Wohnung, das Grauen noch gar nicht ganz begriffen. Es werden sich noch viele mit diesem Stück auseinandersetzen. Es ist ein Stück für schwere Zeiten. Ovationen.

Der Artikel erschien am 4.3.2010 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.