Duell der Pianisten

Um die Sieger des berühmten Chopin-Wettbewerbs ist ein Streit entbrannt

Wenn ich so singe, wie sie spielt, kriege ich Knoten auf den Stimmbändern.« Sie schenken sich nichts, die Pianofans, die derzeit das härteste und älteste Klavierturnier der Welt im Internet fortsetzen und nicht nur die Siegerin aufs Korn nehmen. Auch ihr schärfster Rivale kriegt in den YouTube-Kommentaren sein Fett weg: »Er riskiert nichts, er atmet nicht!« Die Wogen schlagen hoch wie so oft, wenn die Jury in Warschau entschieden hat. Denn ganz egal, für wie musikalisch man es hält, wenn 81 Pianisten drei Wochen lang nichts als Chopin spielen: Warschau ist in der Welt der sieben Oktaven ein magischer Ort. Alle fünf Jahre findet hier der Chopin-Wettbewerb statt, in größeren Abständen treten seine Sieger in die Umlaufbahn anhaltenden Weltruhms ein. Maurizio Pollini gehört dazu, Martha Argerich, Krystian Zimerman, aber auch der berühmteste Nichtsieger der Geschichte, Ivo Pogorelich, der 1980 wegen Exzentrik rausflog, woraufhin Jurorin Argerich zurücktrat mit den Worten: »Er ist ein Genie!«

Auf solche Skandale wartet man natürlich bei jeder Wettbewerbsausgabe. Und es muss vor drei Wochen schwer gebrodelt haben, als auf den letzten Metern eine 25-jährige Moskauerin an einem gleichaltrigen Publikumsfavoriten aus Klagenfurt vorbeizog, dessen Ausscheiden vor fünf Jahren die polnische Presse auch schon als »Skandal« gewertet hatte. Mit Julianna Awdejewa hat zum ersten Mal seit 45 Jahren eine Frau den Wettbewerb gewonnen, aber so unumstritten wie einst Argerich sind weder sie noch Ingolf Wunder. Der Österreicher muss sich den zweiten Platz mit dem Litauer Lukas Geniusas teilen und teilt zugleich die Netzgemeinde in Awdejisten und Wunderaner, die den gegnerischen Favoriten jeweils »herzloses Spiel« attestieren. Neu ist aber nicht nur das Nachbeben auf YouTube, sondern ein handfestes Anschlussduell, die Moskauerin und der Klagenfurter traten jetzt beide in Ludwigshafen auf.

Unterschiedlicher können Pianistenbiografien kaum sein: Julianna Awdejewa kommt aus härtester russischer Schule, hat mit fünf Jahren ihr Klavierstudium begonnen, mit zwölf ihren ersten Turniersieg abgeräumt und verkörpert Entschlossenheit. Wunder begann ebenfalls früh, aber als Geiger, entdeckte eher zufällig mit vierzehn Jahren das Klavier als sein Instrument und nähert sich dem Flügel im Konzert schlaksig und fast etwas verlegen. Damit es für beide richtig schwierig wird im sargartig düster vertäfelten Konzertsaal des Ludwigshafener Pfalzbaus, spielt bei diesem Benefizkonzert der BASF zuallererst ein Mann, der (auch das kommt vor) den Weg nach oben an Warschau vorbei geschafft hat: Arcadi Volodos. Um 21 Uhr fängt er an, 80 Minuten später spielt er immer noch, donnert und säuselt eine Effekthascherzugabe nach der anderen. Aus dem Pianisten wird ein dickfelliger Zirkusgaul, der den Auftritt der jungen Kollegen immer tiefer in die Nacht drückt. So etwas nennt sich dann »Volodos and Friends«. Es zeigt, dass Solidarität in dieser Branche kein Leitmotiv ist.

Ingolf Wunder lässt sich davon nicht stören. Für ihn hält der Steinway Farben bereit, die Volodos gar nicht kennt. Im Andante spianato von Chopins opus 22 hört man ein Sfumato des Geistes, Aquarelle wie von William Turner, Farben, die nicht aufgetragen, sondern gedacht werden. Im Nocturne opus 9 Nr. 3 muss ein Pianist über neun Achteln 25 Sechzehntel unterbringen, eine von vielen Verzierungen, die bei Wunder keine mehr ist. Seine Ornamente bilden sanft eine ganz andere Ebene, die von der metrischen abhebt wie in eine zweite Welt, sich dann wieder anschmiegt und doch das anhaltende Gefühl von Doppelbödigkeit vermittelt. Die erweitert sich mitunter, der Harmonik folgend, zu szenischen Nebenzimmern, wie man sie auch bei Mozart findet. Mit ihm hat Ingolf Wunder überhaupt einige Ähnlichkeit. Dünnhäutig, getrieben, klein, blass, hypersensibel, viele Noten spricht und flüstert er gleichsam mit.

Und wie Mozart passt er trotz seiner Farbkunst nicht an den schweren Steinway. Man würde ihm, wenn schon kein Hammerklavier, so doch einen Erard oder Pleyel wünschen, ein leichtgängigeres, charmanteres Gerät, wie Chopin es in seiner Pariser Wohnung stehen hatte. Denn in der Grande Polonaise, die im opus 22 dem aquarellenen Andante folgt, kann Wunder die Sprünge über Stock und Stein nicht ganz konturscharf aus den Saiten meißeln. Da kämpft er mit der Materie. Den Eindruck bestätigen die Zugaben: Debussys Clair de Lune hat einen Kinderschmerz, der zu Tränen rührt. Ein substanzfreies Virtuosenstück mit Oktavrepetitionen zeigt dagegen jene physische Grenze an, deren Überwindung Wunder doch beweisen will. An die großen Warschauer Entdeckungen kommt er, jedenfalls unter diesen Umständen, technisch nicht heran.

Für Julianna Awdejewa sind die Umstände noch schwieriger. Mit drei Zugaben hat Wunder ihren Auftritt verzögert, der Konzertsaal ist im Vergleich zur auratischen Warschauer Philharmonie ein Gefrierfach, und da soll sie nun die matten Geister mit Chopins extremer b-Moll-Sonate wecken. Die Achtel des Agitato im Doppio movimento verschwimmen im Pedal, die pausendurchsetzten Intervalle rechts ebenso wie die gebundenen Achtel der Linken. Wer hört, was Pogorelich 1981 aus dem Stück machte – und wo ist der Vergleich erlaubt, wenn nicht hier! –, weiß, wie atemberaubend es sich strukturieren lässt. Dass die Pianistin aber beim ersten Sostenuto schwärmerisch den Kopf in den Nacken legt, bekundet allenfalls den Willen zur künstlerischen Formung.

Ach, und der berühmte Trauermarsch. Seine Herausforderung ist das lyrische Mittelthema, kinderleicht zu spielen, ein schlichtes liebes Lied, zu dem Julianna Awdejewa die Worte fehlen. Sie führt Sensibilität vor und weiß nicht, wohin sie uns führen will, ratlos knetet sie an der Linie herum. Und was die technische Brillanz angeht – auch das rasende Finale bringt sie keineswegs an die Seite ihrer Vorgängerin Martha Argerich. Die übrigens diesmal wieder in der Jury saß, pikanterweise neben jenem Vietnamesen Dang Thai Son, für dessen Sieg anno 1980 sich heute kaum noch jemand interessiert, während Argerichs Favorit Pogorelich seither kometengleich um den Planeten zieht. Noch einmal wollte die große Argentinierin wohl nicht zurücktreten. Doch dass sie die diesjährige Siegerin als »harmonische Musikerin« bezeichnet, ist aus ihrem Mund schon ein ziemlich vergiftetes Kompliment – versüßt durch 30.000 Euro Preisgeld.

Der Text erschien am 11.11.10 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt