Bloß nicht auf jedem Ton beben!

Die Geigerin Isabelle Faust spielt Brahms’ Violinkonzert energisch, warm, klar

Ferrucio Busoni stellte sich seinen Kollegen Brahms im Himmel vor, “in der deutschen Abteilung”, behaglich eingerichtet: “Ein paar Kissen, einige Hörner an den Wänden, gebrochene Dreiklänge und eine reizende Sammlung von Synkopen.” Den Haushalt führe Clara Schumann. Busonis ironische Distanz ging mit Bewunderung einher, und er schrieb sogar eine eigenwillige Kadenz für Brahms’ Violinkonzert , die selten gespielt wird. In ihr bleibt die Geige nicht allein. Ein anhaltender, von Schwellungen durchsetzter Paukenwirbel grollt unablässig, und angesichts des Kompositionsdatums 1913 ist man versucht, da schon von fern die Geschütze des Ersten Weltkriegs zu hören.

Durch diese Katastrophe wurde jedenfalls die Musik des 19. Jahrhunderts lange Zeit seltsam entrückt, als Teil einer früheren, vermeintlich heilen Welt, “romantisch” fand man sie im schwelgerischen Sinne, und ein so architektonisch konzipiertes Werk wie Brahms’ Violinkonzert wurde zur Bühne des leidenschaftlichen Subjekts. Was ja auch, wie nicht nur Yehudi Menuhins Aufnahme von 1957 zeigt, hinreißend sein kann. Aber schwer schreitende Tempi, brodelnder Orchesterklang und der Geiger als Held verdecken auch, wie transparent und sinfonisch diese Partitur konstruiert ist. Das kann man jetzt mit Isabelle Faust (Jahrgang 1972) und dem Mahler Chamber Orchestra hören. [Brahms: Violinkonzert D-Dur op. 77, Streichsextett G-Dur op. 36, Harmonia Mundi HMC 902075]

Daniel Harding dirigiert die Sätze sehr zügig, nicht als Rekordversuch, sondern orientiert an den Metronomangaben des Widmungsträgers Joseph Joachim, dessen Hinweise die Solistin nicht nur im ambitionierten Beihefttext zitiert, sondern auch beherzigt. Es wäre von Übel, schreibt Joachim, “wenn der Vortragende auf allen Tönen jedes einzelnen Taktes ununterbrochen beben wollte”. Daraus wird bei Faust kein dogmatischer Vibratoverzicht, aber eine fast grafische Klarheit, wie man sie in diesem Stück selten hört – gepaart mit der noch in höchsten Lagen holzwarmen Farbe ihrer Stradivari. Und die Energie dieser Geigerin sorgt für sinfonische Spannweite, mitunter mehr als das Orchester.

Das wirkt im Alleingang manchmal etwas tapsig, entschädigt aber durch Farben und im Dialog mit wunderbarer Detailabstimmung. Spannend wird das Zusammenspiel von Ensemble und Solistin vor allem in Randzonen, die man noch nie so zerbrechlich erlebte – etwa da, wo im ersten Satz über dünnem Gewebe die Geige 20 Takte lang ein simples kleines Motiv in alle Richtungen wendet, wie auf vergeblicher Suche. Hochbewusst gestaltet Daniel Harding auch die Umgebung, wenn Isabelle Faust ihre Nonensprünge so dringlich zeichnet, dass man eher an Schostakowitsch denkt als an deutsche Romantik.

Auch Busonis Kadenz erweitert den Horizont, führt in eine kühle Weite über dem Paukengrollen. Wo andere Musiker den Sonnenschein des Abgesangs genießen, hört man hier die Angst vorm Zerbrechen. So behutsam werden von Solistin und Orchester die weiten Bögen zusammengefügt, als könnten sie anders nicht vorm Einsturz bewahrt werden. Auf gemütliche Kissen gebettet ist dieser Brahms nicht.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschien am 17. Februar 2011 in der ZEIT