Das doppelte Tagebuch

Dann aß ich in der Küche ein sogenanntes Butterbrot“, schreibt der eine am 28. April, „hörte Radionachrichten und war mal wieder erfüllt vom Abscheu gegen alles. Kunst, Menschen, Betrieb, Auftrieb, nieder mit.“ Der andere hat am 27. April notiert: „Wo soviel Gutes möglich ist, wundert es einen, daß das Mikrofon gewöhnlich von Schreihälsen und Quatschern im 2 1/2 Minutentakt okkupiert ist (…) Da bleibt dann immer noch der Griff zur Kurzwelle, das geheimnisvolle Verfallzirpen.“ Zwischen den beiden Notizen liegt nicht nur ein Tag. Es sind ganze sechzehn Jahre. Auch sonst trennt die Autoren viel.

Aber aus den Tagebüchern der beiden ist jetzt mein Nachtbuch geworden. Ich lese sie nämlich abwechselnd. Ideale Lektüre für Leute, die dem großen oder auch nur dicken Roman leserisch nicht gewachsen sind zur späten Stunde, die es gern häppchenweise haben möchten, aber nicht flach. Und dabei ist verrückterweise herausgekommen, dass ich nun doch ein megadickes Buch lese, ziemlich genau 1000 Seiten, verfasst von zwei Autoren, die nie und nimmer ein Buch zusammen hätten verfassen mögen. Man stelle sich vor, Rainald Goetz, der kantige Hauptstadtsurfer, im stillen Nartum bei Walter Kempowski!

Kempowski wäre nie zu einer Promi-Vernissage gegangen, um dort den Szenedarling Stuckradt-Barre wie folgt zu begrüßen: „Schatz, mach dich nicht so klein, so groß bist du gar nicht…“ Kempowski guckt lieber TV. „Ich hoffe mit den Japanern, daß die die Kurilen wiederkriegen. Dabei geht es mich doch gar nichts an“, schreibt er 1991 in sein Tagebuch „Somnia“, das parallel zum bahnbrechenden Großprojekt „Echolot“ entsteht. „Bundeskanzler hat sich für Berlin entschieden. Richtig!“ In diesem Berlin liefert anno 2007 Rainald Goetz fast täglich sein Blog für „Vanity Fair“, aus dem das Buch „Klage“ wird.

Was für Welten. Hier der sanfte Konservative vom Jahrgang 1929 in der norddeutschen Tiefebene, der bei Lesungen schon mal die Frage aufschnappt „Kempowski? Liest man den überhaupt noch?“, der „60 Wildgänse Richtung Osten“ vermerkt und mit Gattin Hildegard Buchweizen-Plinsen verzehrt, da der Typ mit Fünftagebart, Jahrgang 1954, der die hauptstädtische Lachshäppchenszene seziert: „Jeder Trottel, der dabei ist, darf Anspruch erheben, geachtet zu werden, allein deshalb, weil er dabei ist.“ Manchmal sind sie auch selbstgerecht und können nerven, wie alle Tagebuchschreiber.

Aber wenn man diese Typen abwechselnd nachts um elf liest, ergänzen sie sich wunderbar und beleuchten die BRD. In dem Jahr, als Goetz bloggte, starb Kempowski, am 5. Oktober 2007. Goetz wusste das nicht, aber er dachte an diesem Tag über den Tod nach. Das kann man lesen, als hätten die beiden einen virtuellen 1000-Seiten-Wälzer gemeinsam verfasst. „Wer Tagebuch schreibt“, bemerkte Kempowski mal ahnungsvoll, „verdoppelt sein Leben.“

Dieser Text erschien am 28.4.12 in der Hannoverschen Allgemeinen und ist urheberrechtlich geschützt. Der letzte Absatz wurde am 14.6.15 überarbeitet