Freud, Maler der Menschen

Ungefilterte Notizen zu “Lucian Freud Portraits” in der National Portrait Gallery London 2012, im Jahr nach dem Tod des Malers

Am stärksten berührt mich die ungeheuer dicke Frau, deren Bild er nach ihrem Job betitelt „Benefits supervisor“, sie arbeitet in einer Behörde für Soziales, hier ist sie nackt. Behaglich in eine Sofaecke geworfen, fast sie sprengend, Kopf im Nacken, völlig „ausgeliefert“, wie ein Baby. So geborgen sieht man sonst nur Babies, so entspannt, beschützt von: Was und wem denn? Eltern schützen Babies, darauf verlassen die sich. Was und wer kann eine ungeheuer dicke Frau mit Brüsten, deren jede so groß wie ein Neugeborenes ist, so schützen, dass sie sich völlig entkleidet und sich glücklich – oder doch entspannt – auf ein Sofa schmeißt und sich malen lässt? Das Genie des Malers, sicher, sein Atelier, die Heizung darin, aber auch die Gesellschaft, die diesen Maler schätzt und schützt.

Wir, die wir uns da durch die Räume drängen – und es sind Frauen dabei, unfassbar schön wie Romangöttinen, 21-jährige, die jeden in den Abgrund schmeißen können – sehen und erleben etwas vom Besten und Würdigsten jetzigen gemeinsamen Menschseins. Die dicke Frau ist nicht NACKT im Sinn von entblösst, da fehlt nichts, da wird nicht zuviel gezeigt, sondern sie ist wahr, seiend (seiend! Unübertreffbar, dies Goethewort). Das ist nun mal so. Die Frau ist so seiend, dass ich eben dachte, hoffentlich sieht keiner diese Brüste, diesen Körper auf meinem Bildschirm hier im Zug, so, als könnte er aus den Zeilen herausplatzen. Hier wäre es auch der falsche Ort. Nehmen wir an, ich hätte ihr Bild auf dem Schirm, es würde bei Vorübergehenden Voyeursreflexe auslösen, eben die, die man in der Galerie hinter sich gebracht sehen kann. Wir in unseren Körpern. Wir mit unseren Körpern. Untrennbar, und doch nicht völlig identisch.

Das Bild seiner Mutter: wie auf dem Totenbett in einem weißen Kostüm, zugleich lebend und tot, gar nicht beklemmend. Das gealterte Gesicht. Man sieht das Gealterte. Es ist der Frau – schon weil da steht, es ist die Mutter, sie muss mal jung gewesen sein – anzusehen, dass sie auch mal jung war. Es ist dem Blick – bei aller vermeintlichen leichten Strenge, die Blicke alter Damen haben können – auch eine Fassungslosigkeit darüber anzusehn, dass sie altert und gealtert ist: Was macht das mit mir? Was ist es, das da etwas mit mir macht? Eben war ich noch jung, jetzt bin ich schon fast tot?! Wie fassungslos darüber doch jeder sein könnte – müsste?

Freud malt keine Anklage und beschwert sich nicht malend über das Sterbenmüssen. Mit ihm lernen wir überhaupt mal hingucken und sehen, was das ist: unser Leben. Wir sind ja auch Tiere. Viel mehr aus der Natur hervorgegangen und ihr ausgeliefert, als wir uns meist erlauben zu sehen. Wenn man es sich aber erlaubt, ist es gar nicht mehr „entwürdigend“. Es gibt eine kleine Familiengruppe in einer Wohnung mit Grünpflanze, ich habs nur ungefähr vor mir: Kinder, ich glaube vier Mädchen, unterschiedlichen Alters, im Fenster Großstadt ahnbar, wohl London, und dass es mindestens 3. OG ist. Es hat etwas Trauriges zuerst, aber das kommt daher, dass es trotz des „Sitzens für den Maler“ kein Idyll ist, nicht gemütlich. Sie sind nicht traurig, sie haben vieles im Sinn. Zugleich ist diese Wohnung, auch die Stadt dahinter, wie eine Naturbehausung, mehr gewachsen als „konstruiert“. Das heißt aber nicht, dass die Mädchen da im Grunde säßen wie Affen im Baum. Es ist nur völlig selbstverständlich, dass die Affen uns nicht fern sind, und umso wunderbarer, dass uns Menschen anblicken. Aus einer Fremdheit, aus wirklichem Sie-selbst-sein nämlich.

Es gibt ein andres Bild, „Branham Children“, das ist wirklich traurig. Ich weiß nicht, was mit diesen Kindern ist. Junge und Mädchen, letzteres mit schrecklicher 70er-Jahre-Brille. Sie gucken einen nicht an und das vielleicht, weil sie nicht Kontakt aufnehmen können, disabled. Großes Bild. Verloren in großem Raum. Der Blick, der Nicht-Blick der beiden, ein fernstes Ahnen, ein entsetzlicher schmerzloser Schmerz, dass sie nicht in der Welt sein können, nicht ganz, nicht ganz in dieser völlig fragilen verweslichen Geistkörperlichkeit, nicht in der Lage zu dem köstlichen klaren grausamen Erstaunen über diese Situation – zu dem wir ja normalerweise auch gar nicht kommen. Es entfaltet sich auch nicht gleich ganz vor den Bildern, viel zu groß ist ihre Wucht, man muss das mitnehmen.

Daher wird gerade hier der Schwachsinn privaten Kunsthortens deutlich. Nicht, dass man zuhaus keine Kunst haben sollte. Aber Werke dieser Art kann einer zuhause gar nicht verkraften, das ist das eine, zum andern gehören sie in irgendeiner Form „vergesellschaftet“, blödes Wort. Denn es wird uns allen etwas erzählt und geht uns auf. ZB welch idiotischen Aufwand man betreibt, sich dafür zu schämen, dass man nicht Idealmaßen entspricht. Was man alles nicht wahrnimmt, weil man vorm „Verfall“ wegschaut – genauso könnte man doch vorm Sonnenuntergang wegschauen!

Wie Freud das hinkriegt, malerisch, ist damit ja noch gar nicht gesagt. Im „Komponieren“, klassische Perspektiven und Proportionen, jedem unbewusst vertraut, die auch Geborgenheit und Stabilität herstellen für die Wucht, die uns zugemutet wird und für die Offenheit derer, die sich porträtieren lassen. Sie sind nie nur so oder so. Einer steht da wie Jesus in einer Ecke, nackt, zugleich ergeben und wie auf dem Sprung, ein gar nicht sicherer Jesus, und im Fenster spiegelt sich ein Teil des Malers wie ein Judas – aber das ist nur eine Ebene. Oder ein liegender Nackter, dessen Haltung mich an Opfer von Pompeji erinnert: etwas starr Gekrümmtes in der Haltung, und die Farbe ist hier und da so porös aufgetragen, dass sie wie Oberfläche erstarrter Lava wirkt. Oder ein Mann, der in seinem Anzug erstarrt. Fesselung, Lähmung der Zivilisation, gerade inmitten der vielen lebenden Nackten hier. Ein rotgesichtiger Briagdier hingegen erstarrt hier nicht in seiner Uniform, sei es, weil er einen Hemdknopf offen hat. Diese Uniform ist maßgeschneidert, zu dieser Hülle ist er hingewachsen. Oder Hockney: die zu ahnende Verletzlichkeit, seine Unsicherheit im eigentlich behaglichen Gesicht. Das muss ein guter Maler sein, dieser Hockney, würde ich wohl denken, wenn ich´s nicht wüsste. Ich entdecke Hockneys Kunst noch mal in dem Porträt, das Freud von ihm malt.

Und Baron von Thyssen-Bornemisza: der hängt etwas außerhalb, vor der Schau, zu Recht. Es ist wohl ein Auftragswerk, eins der wenigen, sehr, sehr gut, aber der Baron lässt den Maler nicht ganz an sich ran. Vielleicht hätte ich nicht lesen sollen, wer es ist? Ist es mir nur deswegen ein bisschen zu affirmativ? Dieses feine Lächeln. Andererseits: er steht damit eben nicht über den andern Porträtierten. Er ist nicht auf die entscheidende Ebene hochgekommen. Mit diesem feinen Lächeln wird man durch die letzten Türen nicht gelassen. Trotzdem ein gutes Bild, wenn es so viel Gedanken freisetzt. Das schwächste ist der Kunstkritiker, da hatte Lorch in der SZ völlig recht, es ist gradezu trivial, einfach ein gutausehender Mann mit Bartschatten und blauem Schal, der hat ja ein Buch draus gemacht, aus den Sitzungen. Wenn das Buch so gut ist wie das Bild schwach, muss es toll sein. Vielleicht haben die beiden zuviel über Kunst gequatscht?

Einmal in der Schau hatte ich den Impuls – mehr Gedanke als Wunsch – einer Frau ans Kinn zu fassen, die ich interessant fand: mich der Körperlichkeit zu vergewissern, über die ich grade so viel gelernt hatte. Eine aparte, interessante Dame vielleicht Mitte 40. Ich sah plötzlich meine Hand ihr Kinn fassen, zart und bestimmt und prüfend, wie es Kinder tun.

Vielleicht wirkte Freud auch noch nach, als ich vorhin im Flughafen staunte über die Schlangen vor den Röntgenboxen und Scannern. Wieviele Millionen Stunden die Leute hier verbringen. Eine Huldigung der Angst. Weil eine verschwindend geringe Anzahl von Menschen Flugzeuge entführt oder sprengt, huldigen wir ihnen in Warteschlangen, in mäandernd gepressten Reihen unter hohen Hallendecken der Angst. Rituale: Flüssigkeiten und Tuben in Klarsichtbeutel stecken, welche in Stansted 20 mal 20 zu messen haben und wiederverschließbar sein müssen. Auf Bildschirmen wird gezeigt, wie man alles richtig macht: Schuhe ausziehen, Koffer aufs Band, Laptop ins Körbchen. Diese purifizierten, purifizierenden Bewegungen. Lächeln. Die ganze idiotische, verlogene, semireligiöse Strapaze wird mit dieser Gestik der Reinheit, diesem Lächeln auf dem Bildschirm noch verlogener, idiotischer und religiöser.

Wie auch immer: Freud! Er tut durchaus ähnliches wie sein Großvater. Dieses Augenöffnen. Dieses Ende der Verdrängung. Zu erleben, wieviel Leben und Kreativität einem zuschießt, wenn man sich zuwendet, und ansieht, wovon man sich sonst wegdreht, warum auch immer.

Eine Ausstellung mit Werken Lucian Freuds ist bis Januar 2014 in Wien zu sehen

Dieser Text entstand am 3. 5. 2012 und ist urheberrechtlich geschützt