Maigret und der graue Koffer

Das geht ja wie am Schnürchen heute, dachte ich. Kaum gelandet, kommt mir mein Koffer als erster auf dem Band entgegen, dann kriege ich ohne zu warten einen Zug in die Stadt, und der ist auch noch rasend schnell. Fünfzehn Minuten bis zur Gare du Nord in Brüssel. Das grenzt ja an Professionalität, lobte ich mich, als hätte ich die Eisenbahn gebaut, und federte aus dem Bahnhof. Was federe ich eigentlich so, dachte ich, so leicht ist mein Rollroffer doch auch wieder nicht. Aha. Es war auch gar kein Rollkoffer da. Der fuhr nämlich gerade in der Gepäckablage des Waggons ohne mich weiter durch Belgien.

Ich raste zurück. Der Infostand war geschlossen. Am Fahrkartenschalter wurde vor mir eine sehr komplizierte Dame bedient. Dann schickte mich der Beamte zum Stationschef, die braune Tür zwischen Gleis 8 und 9. Ein Bahnbüro wie aus einer Simenonverfilmung. Gelbe Wände, Neonlicht, zwei Schreibtische, uralte Pläne an den Wänden, ein Einkaufswagen als Papierkorb, auf gemütlichste Weise ungemütlich. Der Stationschef hatte eine rote Mütze auf, unter der silberne Locken hervorquollen, sah behaglich aus und unterbrach meine Rede, indem er einen baumhohen jungen Sicherheitsmann heranwinkte.

Der sprach vorzüglich Deutsch. Er erklärte dem Stationschef und zwei weiteren Kollegen, die inzwischen aufgetaucht waren, dass meine „valise gris“, der graue Koffer, sozusagen mein ganzes Büro enthalte. Sie forschten, wohin der Zug fuhr. Bis an die französische Grenze, das heißt in Belgien nicht viel, da jede Grenze nahe ist, aber auf keinen Fall konnte man erst am Zielort den Zug absuchen, fand ein Bahnbeamter, ein Mann um die 65, der, à propos Simenon, aussah wie Jean Gabin als Maigret persönlich, nur eben in blauroter Uniform. Gibt es solche Büros, solche Typen noch irgendwo in Deutschland?

Dürften sie einem da noch so helfen, anstatt einem den Weg zum Servicecenter zu zeigen oder eine Webadresse in die Hand zu drücken? „Max?“ sagte Maigret in sein Handy. Max war der „Controlleur“ im Zug. Er würde zurückrufen, wenn er etwas fand. Und auch, wenn nicht. Es dauerte. Offenbar hatte Max noch ein paar Tickets zu überprüfen. Ich holte mir einen Kaffee. Als ich zurückkam, lag Maigrets Handy einsam auf dem Tisch. Es leuchtete auf. Ich gab es schnell dem vierten Mann, dem einzigen, der noch da war. „Vouz avez trouvé quelque chose?“, fragte er den Anrufer. Dann hörte er lange zu. Gutes Zeichen.

Max hatte den Koffer gefunden. Und er würde ihn bereits in Mons quer über den Bahnsteig in einen Zug bringen, der nach Brüssel fuhr. Ankunft 11.17 Uhr, Gleis 3. Ich wurde eskortiert vom Stationschef und Maigret, der sich oben erst mal eine Zigarette ansteckte. Sowas darf man in Belgien. Oder er durfte es. Der Zug kam. „Vous restez içi“, befahl Maigret, dann begab er sich nach Norden, der andere nach Süden. Klar, wer den richtigen Riecher hatte. Wir haben uns dann mit Handschlag verabschiedet. Wenn ich ein kleiner Junge wäre, dann wäre mein Berufswunsch jetzt belgischer Eisenbahner. Es gibt keine besseren.