Zeitreise nach Kleiberstein

Alte Kurorte haben etwas so Verwunschenes, dass man ihnen Märchennamen geben kann, Namen wie etwa Bad Kleiberstein. Im Grandhotel gibt es einen bahnhofshallenhohen Frühstückssaal, dessen Fenster noch von einem Hoffensterglasmaler angemalt worden sind und den jederzeit der Zar mit Entourage betreten könnte, wären nicht da nicht die Thermoskannen auf den Tischen. Etwas moderner musste man mit der Zeit doch werden. Der Zar würde sich wohl kaum am Frühstücksbüffett selbst bedienen, auch wenn es so lang wie ein Bahnsteig ist. Und die Zarenkinder waren natürlich etwas zielführender erzogen als Frido, der zwischen den Tischen herumrast, und Paul, der ein durchsabbertes Brötchen in hohem Bogen von sich schleudert.

Das stört hier aber niemanden, im Gegenteil, die anderen Gäste lächeln verzückt. Sie alle sind im Durchschnitt siebzig Jahre alt, was heutzutage ja kein Alter ist, einerseits. Andererseits machen sie den Eindruck, als säßen sie hier seit Zarenzeiten und hätten seitdem kein Kind mehr gesehen. Stünden wir mit ihnen vor einem der großen Wandspiegel, vielleicht sähen wir nur uns… Eine Dame mit veilchenblauem Hut streckt lächelnd die Hand aus nach Frido, der mit einem Schälchen Vanillejoghurt an ihr vorbeihüpft, zwei andere huldigen Paul, der sie mit seinen ersten beiden Nagezähnen und breiverschmiertem Mund anstrahlt. Unser von Krümeln gesäumter, von Flecken bedeckter, lärmender kleiner Tisch ist eine Attraktion, was er in gewöhnlichen deutschen Hotels nicht wäre. Dort lösen Kleinkinder ein Stirnrunzeln aus. Nicht so in Bad Kleiberstein.

Die Ruhe hier, vom Rosengarten bis zum Thermalbad, ist eine so grundlegende, dass die Kurgäste kleine, schrille Akzente als Abwechslung begrüßen in den Stunden bis zum nächsten Auftritt des Kurorchesters in der Konzertmuschel beim Königsdenkmal. Sie blicken auf Kinder, als seien die Putten vom Deckengemälde herabgeklettert und in T-Shirts gesteckt worden. Vielleicht wäre es anders, wenn Frido und Paul hier einiges aus ihrem Protest- und Erpressungsrepertoire vorführten, aber die Ruhe von Bad Kleiberstein scheint selbst sie etwas zu mäßigen. Man spricht leiser, geht langsamer, atmet tiefer. Die gute Luft! Manchmal ist sie durchzogen von Parfümaromen, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt, schweren, weißen, seifig süßen.

Manchmal fragt man sich, ob die andere Welt nicht bloß ein seltsamer Traum ist. Crisis? What Crisis? Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Mauer schon gefallen oder überhaupt schon gebaut ist. Natürlich kann man im Hotel Zeitungen lesen, und im Foyer flimmern die Nachrichten über einen großen Flachbildschirm. Aber es könnte auch ein Aquarium sein, es sind Vorgänge wie hinter dickem Glas. Gleich müssen wir los zum Bahnhof. Die Dampflok pfeift schon über die Kastanien, die Gouvernante hebt Paul in die Kutsche… Was klingelt da? Mein Handy. „Wo steckt du denn?“ Adieu, Bad Kleiberstein, adieu!