Gabo in der Morgenröte

Neulich las ich, dass Gabriel García Márquez, der große kolumbianische Schriftsteller, 85 Jahre alt, sehr vergesslich geworden ist. So vergesslich, dass, wie es auf Wikipedia heißt, „weitere Werke nicht zu erwarten sind“. Da steht auch, er leide an „Demenz“. Ich weigere mich, dieses Wort auf „Gabo“ anzuwenden, so, wie ich es überhaupt auf niemanden anwenden würde, der mir lieb ist. Es ist ein Klinikwort. Es reduziert einen Menschen auf ein Defizit. Demenz, fertig, abgehakt. Abgesehen davon (oder deswegen) wurde die „Demenz“ inzwischen dementiert. Fest steht, er wird nichts mehr schreiben.

Zu erfahren, dass er, dessen exzellentes Gedächtnis schon früh auffiel, zu vergesslich geworden ist, um noch Bücher zu schreiben, machte mich traurig. Von allen Lebenden, die ich nicht persönlich kenne, ist er mir einer der liebsten. Ich hatte mich auf die Fortsetzung seiner Erinnerungen „Leben, um davon zu erzählen“ gefreut – diese 604 Seiten hatten gerade mal für seine ersten 28 Lebensjahre gereicht. Ich muss zugeben, dass ich in den zehn Jahren seit der Lektüre so viel davon vergessen habe, dass ich das Buch gleich noch mal voller Spannung lesen könnte. Soviel zur Gedächtniskraft normaler Menschen…

Indessen habe ich längst nicht alles gelesen, was von ihm erschienen ist. Das fiel mir ein, als ich eines Morgens um fünf Uhr wach wurde, mich mit einem Kaffee zu den Büchern setzte und über die traurige Nachricht aus Kolumbien nachdachte, während sich ein bisschen Morgenröte durchs Fenster stahl. Ich griff mir „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“. Das hatte ich mal zu lesen begonnen und wieder weggestellt – warum? Weil es nicht die Fortsetzung von „Hundert Jahre Einsamkeit“ war? Nein. Bestimmte Bücher, vielleicht gerade die besten, brauchen einen Tag, eine Stunde, in der sie einen treffen können.

„Den unordentlichen, stickigen Raum, der zugleich Schlafzimmer und Labor war, erhellte gerade erst ein Schimmer des Morgenrots im geöffneten Fenster…“ Ob es das Morgenrot war, das uns verband, mich und Gabo und den Doktor Juvenal Urbino, der frühmorgens im Haus seines gerade erst gestorbenen Freundes steht? Ich musste lachen über den Pragmatismus des Arztes, der, nachdem er festgestellt hat, dass sein alter Freund freiwillig aus dem Leben schied, zu ihm sagt: „Idiot. Das Schlimmste war doch schon überstanden.“ Solche Sätze gibt es nur bei Márquez. Man kann viel von ihm lernen.

Zum Beispiel, nicht zu bejammern, dass er nichts mehr schreiben wird, sondern von seiner Fantasie Gebrauch zu machen und zu sehen, wie jetzt, da Márquez vielleicht gerade seinen Kaffee in der Morgenröte trinkt, inmitten seines literarischen Universums, der alte Doktor Urbino zu ihm tritt und, da Gabo ihn nicht gleich erkennt, eine seiner sarkastischen Bemerkungen macht. Selbst wenn der Autor irgendwann seine Figuren vergisst, sie vergessen ihren Autor nicht, und schon darum, denke ich mir, geht es Gabo gut.

Dieser Text erschien am 21.7.12 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt