“Sänger sind die Helden, die ich verehre”

Warum Donna Leon ihre Liebe zu Händels Musik auch mit ganz bösen Typen teilt. Ein Gespräch mit der Autorin in Venedig

Über die Piazza San Bartolomeo, auf der wir uns treffen, ist auch Commissario Brunetti schon oft zur Arbeit gegangen. Durch mittlerweile elf Krimis [2006] wurde der fiktive venezianische Polizist berühmt. Seine Erfinderin ähnelt ihm bekanntlich nicht. Donna Leon ist zierlich, trägt bequeme flache Schuhe, fällt im ameisendichten Touristengedränge niemandem auf und steuert sehr rasch ihre Wohnung an, fünf Minuten vom Rialto entfernt. Geräumig, nichts Protziges, eine europäische Akademikerwohnung. Bücher sieht man nicht, dafür aber zwei Lautsprecher. Unverzüglich legt sie eine CD auf. Eine Mezzosopranistin, die sie gerade entdeckt hat.

Donna Leon, 1942 in New Jersey geboren, wurde als 23-Jährige in New York mit Puccinis blutrünstiger Oper Tosca zu einer Opernsüchtigen, sie ist Stimmenfetischistin und Händelianerin. Letzteres ahnte man in ihren Krimis nur einmal. Auf Seite 259 in Acqua Alta. In einem Palazzo trifft Brunetti einen mysteriösen Mann, der eine Arie hört. Die ist so beschrieben, dass Opernfreaks erraten konnten, welche. Für alle anderen hat die Autorin das Geheimnis jetzt selbst gelüftet. Sie schrieb für eine CD mit Stücken aus Georg Friedrich Händels Zauberopern das Booklet, las die betreffende Romanpassage vor und versah sie im Booklet mit dem Hinweis „see Track 9“. Und das ist die von Simone Kermes hinreißend gesungene Arie Ombre pallide der Alcina.

DIE ZEIT: Ihre Krimis sind sehr präzise. Ich habe sogar die kleine Calle Dolera gefunden.

Donna Leon: Ich kann mich gerade nicht erinnern…

ZEIT: In Ihrem Roman in Acqua alta führt die Gasse zum Palazzo, in dem Brunetti den Mann findet, der aus mannshohen Lautsprechern eine Arie hört.

Leon: Ombre pallide!

ZEIT: Aber wenn man weiterliest, erfährt man, dass dieser Mann, der genau Ihren Musikgeschmack hat, eine ganz widerliche, brutale Type ist.

Leon: A monster, yeah! Ich glaube, das trifft eine, nein, die entscheidende Eitelkeit kultivierter Leute. Wir bilden uns ein, dass wir, weil wir schöne Dinge lieben, bessere Wesen sind. Moralisch besser. So wie die Calvinisten sagen: Wir sind besser, weil Geld den Menschen verbessert. Ich glaube daran keine Sekunde lang. Kann sein, dass wir anspruchsvollere Musik hören, einen besseren Geschmack haben, was auch immer das ist. Aber ich bin sicher, dass es Leute mit Sinn für das Schöne gibt, die absolute Schweine sind, verlogen und ekelhaft. Das ist eine sehr unbequeme Wahrheit. Ein Beispiel ist die Plünderung des Museums in Bagdad. Die Leute, die diese Sachen aus Bagdad kaufen, werden sich für sehr kultivierte Leute halten. Obwohl sie wissen, dass es Sachen aus dem Museum sind.

ZEIT: Auch die Künstler selbst können Schweine sein. Gesualdo war ein Mörder.

Leon: Oder nehmen Sie Hemingway. Er war Ehebrecher in Serie, ein Angeber und Lügner und trotzdem ein sehr guter Autor. Oder Wagner. Nach allem, was wir wissen, war er persönlich ein Schwein.

ZEIT: Mögen Sie seine Musik?

Leon: Nein. Wagner ist für mich wie Bodybuilding. Millionen von Leuten gehen ins Studio, drei-, viermal in der Woche, und sagen, sie fühlen sich besser. Aber ich kann um alles in der Welt nicht begreifen, warum sie das toll finden. Ich respektiere es, aber ich verstehe es nicht. So ist es auch mit Wagner. Ich habe Freunde, die seine Musik lieben, aber mir ist das zu heavy, all das Deklamieren. Es war der Tod für viele Stimmen. Ich habe einen billigen, vulgären Geschmack. Ich möchte hübsche Melodien.

ZEIT: Wagner hatte hier in Venedig auch mal einen Palast.

Leon: Ja, das ist jetzt das Casino. Da war ich vor drei, vier Jahren. Am 13. Februar. Ein Mann kam auf mich zu: Sind Sie…? Ihre Bücher … sehr schön, und so weiter. Und er sei hier jeden 13. Februar. Oh, sagte ich, eine Liebesgeschichte? Nein. Der Tag, an dem der Meister starb. Oh god! Er war sehr höflich und nett, ein Deutscher. Und dann erklärte er, er sei Präsident des Richard-Wagner-Verbandes. Er fragte mich: Hätten Sie nicht Lust, die Festspiele zu besuchen? Und die Himmel teilten sich, und ich sah vor mir meine beste Freundin Peggy in New York, mit der ich zur High School gegangen bin. Sie liebt Wagner und versucht seit Ewigkeiten, Karten für die Festspiele zu kriegen. Und ich sage zu diesem Wagner-Präsidenten: Sorry, I’m busy . Nicht mal für Peggy könnte ich das tun.

ZEIT: Sie hätten Ihr doch die Karten geben können.

Leon: Das wäre unredlich gewesen. Er wollte ja mich einladen.

ZEIT: Sie fahren dafür ständig zu Opern von Georg Friedrich Händel. Göttingen, Innsbruck Glyndebourne. Legen Sie da Wert auf „historische“ Inszenierungen?

Leon: Die funktionieren nicht. Diese Damen in ihren Kleidern und diese Typen mit den Helmen – ich kann gar nicht hinsehen. Es ist wie im Konservatorium.

ZEIT: Aber deutsches Regietheater mögen Sie auch nicht, oder? In Acqua alta macht sich die Sängerin Flavia Petrelli lustig über einen deutschen Regisseur, der die Tosca in die rumänische Revolution verlegt.

Leon: Doch! Herbert Wernickes Giulio Cesare war sehr erfinderisch. Aber ich hatte fast einen Faustkampf wegen seiner Alcina in Basel. Ich mochte das nicht. So I went … booo! Einem Sänger würde ich das nicht antun. Ein Sänger kann einen schlechten Abend haben und am nächsten Abend besser sein. Die Regie wird aber nicht besser. Buh! Da sagt ein Typ neben mir: Was tun Sie da? Ich buhe. Warum? Ich sage: Der Regisseur hat die Beziehung zwischen Alcina und Morgana geändert. Sie wurden Rivalinnen, was weder in der Musik noch im Text steht, er nahm Arien aus anderen Opern rein, und der Schluss war einfach dumm. Da sagte er: Was glauben Sie, wer Sie sind, eine Archäologin? No – I am a Handelian! Haha!

ZEIT: Der Mann in Basel kannte Sie nicht.

Leon: Das ist mir auch lieber so.

ZEIT: Warum?

Leon: Weil die meisten Leute sich mir gegenüber befangen fühlen und denken, ich brauchte eine Sonderbehandlung. Ich bin Amerikanerin, und wir sind Demokraten. Wir gehen davon aus, dass alle gleich sind. Ich lege Wert darauf, dass mein Verhalten sich nicht ändert, egal ob ich mit Ihnen, mit Cecilia Bartoli oder mit dem Müllmann rede.

ZEIT: Ich glaube, die Deutschen mögen Sie auch, weil in Brunettis Venedig so wenige Touristen vorkommen. Und noch weniger Deutsche.

Leon: Und den einzigen Deutschen, der vorkam, habe ich umgebracht.

ZEIT: Den Dirigenten aus dem ersten Buch. Wie kamen Sie darauf?

Leon: Das war vor elf Jahren im La Fenice. Ein Freund von mir dirigierte La Favorita, übrigens mit Shirley Verrett. Kennen Sie Shirley Verrett? Wunderbarer schwarzer amerikanischer Mezzo! Sie sang in den Sechzigern und Siebzigern. Sie sang den Neocle in L’assedio di Corinto, als Beverly Sills ihr Debüt an der Met gab, 1975, glaube ich… Jedenfalls, in der Garderobe zog mein Dirigentenfreund über einen Kollegen her. Ich dachte nur, schöne Idee, einen berühmten Dirigenten zu töten. Bald danach fing ich an, das Buch zu schreiben.

ZEIT: Aber Ihre Leidenschaft für die Oper kommt in Ihren Büchern selten vor, außer in den Motti. Wollen Sie Brunetti nicht öfters auf Händel stoßen lassen?

Leon: Brunettis Charakter ist mittlerweile etabliert. Wenn er jetzt anfinge, jeden Abend in die Oper gehen, würden die Leser merken, dass da was nicht stimmt. They’d smell a rat. Es wäre auch zu selbstbezüglich. Ich trenne die Musik vom Schreiben, den Spaß vom Job.

ZEIT: Ist Schreiben für Sie nur Job?

Leon: Mit Job meine ich, dass ich damit Geld verdiene. Beim letzten Buch ist mir der Schluss erst in der Oper eingefallen, mitten im Applaus. Eine Menge Ideen kommen mir in der Oper. Jetzt habe ich gerade 200 Seiten von einem Buch fertig und weiß immer noch nicht, warum das, was da steht, passierte. Es wird sich zeigen. Ich warte auf den Fan, der das dann liest und sagt: Ich wusste von Anfang an Bescheid! Ich nämlich nicht.

ZEIT: Ihre Plots sind besser als die von Händels Opern. Die kann ich nicht auseinander halten.

Leon: Da sind Sie nicht der Einzige. Alcina und Rodelinda sind gute Geschichten, aber wir sind verwöhnt von Mozarts Librettist da Ponte. Ich glaube, Händel guckte sich einfach um und sagte sich: Das probiere ich mal, es gibt zwei böse Frauen und eine gute … mmh … hübsch… Außerdem war er Geschäftsmann. Er schrieb die Arien, die die Leute hören wollten. Es macht einen sprachlos, dass er eine Oper in drei Monaten schreiben konnte. Ich bin sicher, hätte er einen festen Job gehabt wie Bach, er hätte weniger geschrieben und vielleicht andere Opern. Aber thank god, er tat’s nicht.

ZEIT: Was mögen Sie so an Händel?

Leon: Es ist, wie wenn man Erdbeeren mag. Es klingt gut. Es schmeckt gut. Und seine Musik macht mich immer glücklich. Musik ist überhaupt das Beste, was Menschen machen. Ich habe totalen Respekt vor Musikern und Sängern. Ich bin da wie ein Kind. Das sind die Helden, die ich verehre.

ZEIT: Übrigens, die Arie, die das Monster hört – welche Aufnahme war das?

Leon: Die mit Arleen Auger. Sie starb leider schon mit 53. Ich habe ihr mein drittes Buch gewidmet.

Georg Friedrich Händel: La Maga Abbandonata – Arien aus „Rinaldo“, „Alcina“ und „Amadigi“. Simone Kermes (Sopran), Maite Beaumont (Mezzo), Il Complesso Barocco, Ltg. Alan Curtis (BMG 74321 95644)

Dieser Text erschien am 9.11.2006 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.