»Morgen kann ich das«

Carolin Widmann ist die eigensinnigste Geigerin ihrer Generation. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, mit zeitgenössischer Musik Karriere zu machen

Es ist da draußen, »wo die Laternen spärlicher werden und die Gendarmen zu zweien gehen«, wie Thomas Mann sagen würde, hinterm Bahnhof, tief im Osten, zersiedeltes Gelände, nur dass die Laternen zahlreicher sind. Ein Großmarkt gleißt still, eine Reihe von Lichtsäulen führt zu einem düsteren Bau, früher Kraftwerk, jetzt Kultstätte der Partyszene von Berlin. Die Leute stehen geduldig an, Hunderte. Robert Schumann hatte viel Fantasie, aber dass man an einem solchen Ort seine Violinsonaten spielen würde, das halluzinierte er nicht mal, ehe er in den Rhein sprang, neben dem er sie geschrieben hatte. Sehr oft waren sie seither nicht zu hören. Jetzt hat eine junge Geigerin sie mit hierher gebracht, um zwei davon im Yellow-Lounge-Clubabend als Liveact zwischen wabernden Disco-Sounds zu spielen.

Um halb elf Uhr nachts zieht der DJ die Regler runter, es wird still in der Betonkathedrale. Carolin Widmann und Pianist Dénes Varjon treten aufs Podest und spielen Schumann vor Leuten, die sich für Schumann nicht interessieren. Wirklich nicht? Sie hat schon ganz andere rumgekriegt. Carolin Widmann, 31 Jahre alt, ist die eigensinnigste und kompromissloseste Geigerin ihrer Generation. Sie macht das hier nicht als Gag. Sie bringt es sogar fertig, den Leuten zu erklären, dass Robert überall Grüße an Clara untergebracht hat. »C und A, das ist sie!« C und A, okay, ratloses Lachen der Partymenschen. Doch sie spielt so energisch, so subtil, so eindringlich, dass alle gespannt zuhören. Ab und zu kippt eine leere Flasche um. Und Schumann gewinnt an Gegenwart.

Da will sie ihn auch haben, die sonst vor allem zeitgenössische Musik spielt. Mit ihrer ersten CD vor zwei Jahren katapultierte Widmann ein Werk in die Öffentlichkeit, das bis dahin nur Insider kannten, aber noch nie so gut gehört hatten: Die Capricci, die der Italiener Salvatore Sciarrino 1976 für Violine solo komponierte, zeigen sich in Widmanns Händen als Gipfelwerk, als Neuerfindung der Geigenkunst und doch geschichtsbewusst, mit subtilen Grüßen an Bach und Paganini. Man muss gehört haben, wie reich und sprachkräftig die Welt jenseits der »schönen« Töne ist, welche Horizonte in filigranen Schraffuren entstehen, wie witzig und gefährlich Sciarrino Tonsplitter aufeinanderjagt. »Das ist einfach gute Musik«, sagt Carolin Widmann.

Schon im Münchner Kinderzimmer waren ihr neue und alte Musik gleich nahe. Ihr Bruder Jörg fing früh an zu komponieren, und das Repertoire erkundeten sie gemeinsam. »Wir haben die Zauberflöte mit Stofftieren gemacht. Der Affe als Monostatos, und ein Schaf war die Königin der Nacht, mit einem schrecklichen Kleid. Jörg hat mehr schlecht als recht aus dem Klavierauszug gespielt, und ich habe alle Stimmen gesungen. Heimtheater vor null Zuschauern.« Später brachte der Bruder, drei Jahre älter, Noten und Aufnahmen von Boulez, Nono, Maderna, Stockhausen mit. Jörgs Kompositionen testete sie auf der Geige, und ihr Üben regte ihn seinerseits an. Etwa zu den Drei Etüden, die sie als 25-Jährige in Witten uraufführte, beim wichtigsten Festival für neue Kammermusik.

Da begann der Kontakt mit den großen alten Meistern von heute, mit Boulez, Sciarrino, Kurtág. »Ich freu mich so, wenn ich sehen kann, was in denen vorgeht! Wenn Pierre Boulez erzählt, warum er so wahnsinnig wenig produziert und sich immer wieder an die alten Themen wagt…« György Kurtág hat mit ihr geprobt, »zwei oder drei Stunden an einer Viertelnote. Ich find das nicht zu brutal, so übe ich zu Hause ja auch. Aber nach zehn Stunden konnte ich nicht mehr klar denken und hab gesagt: Ich versprech Ihnen, morgen kann ich das.« Inzwischen ist sie die einzige Geigerin auf der Welt, die Kurtágs vierzig Kafka-Fragmente für Violine und Sopran auswendig beherrscht. Die hat sie nämlich in einer szenischen Version erarbeitet mit der Sängerin Salomé Kammer. Demnächst ist die Produktion wieder in Straßburg zu erleben.

»Das hat uns wirklich an die Grenzen gebracht, drei Wochen lang dieses Auswendiglernen! Dieses in sich Verzahnte! Dass Stimme und Geige eins werden. Oder sich anschreien. Oder sich fertigmachen und killen oder sich umarmen… Aber wenn man’s im Kopf hat, ist das so spannend, wie frei improvisiert. Unglaublich, wozu man fähig wird, wenn man will.« Willensstark ist sie wahrhaftig. Mit zwölf beschloss Carolin Widmann, beim wichtigsten Geigenwettbewerb der Welt mitzumachen, in Brüssel. »Ich hab mich darauf vorbereitet wie auf selten was im Leben.« Mit 24 war sie so weit. Im Halbfinale flog sie raus. »Ich musste mich ganz klar fragen: Finde ich mich denn gut? Aus der Verzweiflung ist dann ein Kern entstanden, der mich bis heute trägt.«

Ein Juror hat ihr damals noch gesteckt, sie hätte statt Luciano Berios Sequenza von 1976 besser was Gefälligeres geigen sollen. Immer wieder erlebt sie die mehr oder weniger diskrete Ablehnung neuer Musik. Das geht von der besorgten Frage »Aber Sie ziehen sich schon noch was Schöneres an?« bis zum Hinweis, den sie auf dem Plakat zu einem Avantgardekonzert bei einem großen deutschen Festival entdeckte: »Nur für Neugierige« habe da gestanden. »So was von unmöglich, oder?« Sie lacht fassungslos. Wirft aber dem Publikum nichts vor: »Die Mehrheit ist offen.« Eine Frau vom Radio, die neue Musik »zu heavy« fand, schleppte sie in ein Xenakis-Konzert mit dem Versprechen, ihr bei Nichtgefallen einen Sekt zu kaufen. »Sie hat mir danach den Sekt gekauft…«

Trotzdem bleibt es ihr ein Rätsel, warum »der Rest der Welt das nicht mitkriegt, wie spannend neue Musik ist. Lassen Sie mal jemanden auf der Straße ein paar zeitgenössische Komponisten nennen…! Aber die Architekten, die in Abu Dhabi bauen, kennen wir alle. Und wenn in London Cy Twombly ausgestellt wird, höchst schwierig, stellen sich die Leute mit Kind und Oma in die Schlange. In der neuen Musik haben wir irgendwie die Leute verloren.« Umso wichtiger ist es, die neuen Stücke mit älteren zu verbinden. Widmann hat kürzlich Sciarrinos Solocapricen mit Barockmusik kombiniert, auf Anregung des legendären Berliner Barockgeigers Stephan Mai. »Der hat mir einen ganzen Kontinent erschlossen, wir haben sieben Nächte durchgemacht mit Ausprobieren!«

Aber auch die Komponisten selbst suchen Anschluss. »Es gibt eine neue Romantik«, sagt Widmann. »Das sehe ich am neuen Violinkonzert von Wolfgang Rihm.« Sie hat es gerade mit Riccardo Chailly und dem Gewandhausorchester Leipzig uraufgeführt und findet es »so wunderschön deutsch in der Harmonie begründet. Natürlich gibt es neue Momente, Schocks, aber nichts, was einen Konzertgänger vor den Kopf stoßen könnte. Es wird wieder genossen. Von Rihm ist das fast demonstrativ, ein Statement, sehr mutig.« Und während sie mit Rihm vom 19. Jahrhundert träumt, holt sie Schumann ins 21. Jahrhundert. Seine drei Sonaten hat sie jetzt bei ECM eingespielt, brennend und konturscharf, so drangvoll, dass Pianist Dénes Varjon neben der Geigerin fast etwas zu freundlich wirkt.

»Ich hatte nicht das Bedürfnis, Brahms aufzunehmen. Mich interessiert das weniger Gängige. Dieses Flackern, dieses ständige Flackern bei Schumann! Bei ihm atme ich immer ein und komme nicht zum Ausatmen. Nach der Aufnahme ging es uns ein paar Tage nicht so gut… Er will so viel sagen, er fällt sich selbst ins Wort. Ständig weiter!«

Als sie nachmittags im Berliner Partykraftwerk Stellen übt, trudeln Schumanns glühende Fetzen zwischen den Betonpfeilern umher wie auf der Suche nach ihrem Ich. Es ist, als sei die Sonate noch nicht komponiert, als entstehe aus den Ideen dazu gerade ein neues Stück. Robert Schumann, der Zerrissene, ist ganz nah. »Die haben doch alle tatsächlich existiert und waren da, die diese wunderbaren Sachen geschrieben haben!«, sagt Carolin Widmann und sieht sehr glücklich aus.

Am 6. Oktober spielt sie mit ihrem Bruder Jörg Widmann in der Laeiszhalle Hamburg sowie am 12., 15. und 21. Oktober im Leipziger Gewandhaus.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 10.10.2008