Die Seele geht auf Seidenfüßen

Der Sensible, der Politische, der Religiöse – Klaus Huber ist einer der faszinierendsten Komponisten der Gegenwart. Jetzt erhält er den Siemens-Musikpreis

Die englischen Touristen, die hier oben in den Gassen das italienische Mittelalter bestaunen, wissen es nicht. Aber Aldo weiß es, der Besitzer der Bar an der Piazza Umberto Primo, wo durchs Stadttor mitunter kühler Wind vom Trasimenischen See den Berg hochweht. Schließlich hat der Barkeeper Aldo Gallo selbst dafür gesorgt, dass der compositore hier eine Bleibe fand, ein südliches Refugium für sich und seine Frau. »Die sehen so nett aus, warum sind sie so traurig?«, fragte er, als die beiden 1982 in seiner Bar saßen. »Sie suchen eine Wohnung und finden keine«, sagte man ihm. Aldo wusste Rat. Seither sind bahnbrechende Werke zeitgenössischer Musik in Panicale entstanden, wo Klaus Huber mit Blick auf den See komponiert. »Klaus who?«, fragen die Engländer und gucken erstaunt auf den alten Mann mit weißem Bart und Krückstock.

Wenn man ihnen erklärt, dass Huber jetzt den Preis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung erhält, dessen nobelpreismäßiges Renommee die Summe von 200.000 Euro deutlich übersteigt, heben sie anerkennend die Brauen, aber, hm, ja… Ever heard of »Schwarzerde«? Oder Tenebrae? Oder Die Seele muss vom Reittier steigen? Muss man das kennen? Das kennt auch Aldo nicht. Für ihn ist der 84-Jährige der Maestro, Klaus, das genügt. Es wohnen einige Maestri in Italiens Bergen von hier bis südlich von Rom, wo Hans Werner Henze lebt und schreibt, zwei Jahre jünger als Klaus Huber und geradezu dessen Gegenentwurf. Als Tagebuchschreiber, Künstlerfürst, Theatermann, als Subjektivist wurde Henze um sein Œuvre herum zur öffentlichen Gestalt. Das ist Huber nun gerade nicht. In manchem erinnern die beiden an Händel und Bach zu deren Lebzeiten: gefeierter Weltmann und entrückte Eminenz.

Ob dieser Vergleich schräg ist, wissen wir in hundert Jahren. Einstweilen hilft er beim Herantasten an ein paar von Hubers Horizonten. So, zum Beispiel, wie Bach die temperierte Stimmung als Grundmuster etablierte, die Teilung der Oktave in zwölf gleich weit voneinander entfernte Töne, so hat Huber diese »Umklammerung« aufgebrochen, konsequent und kreativ wie kein anderer. Wenn nach den Schreien und Eruptionen, der blasenwerfenden Klanglava zu Beginn seines Werkes Die Seele muss vom Reittier steigen drei Bratschen einen schimmernden Faden spinnen, dann besteht der aus Sechsteltönen, aus drei verschiedenen »b« so dicht beieinander, dass es nicht dissonant klingt, sondern ungreifbar, wie ein Licht. Und später wird ein Counter magisch tiefe Poesie in arabischen Intervallen singen, die man schon vor tausend Jahren kannte.

Mit Tonabständen außerhalb des westlichen Halbtonimperiums hat sich Huber schon früh beschäftigt, die besondere Intervallik arabischer Musik entdeckte er für sich aber erst Anfang der neunziger Jahre beim ersten Golfkrieg. »Da ging’s bis zu den kleinsten Blättern«, erinnert er sich, »der Oberteufel auf der Welt ist der Islam. Das konnte ich so nicht sitzen lassen. Da bin ich dem nachgegangen.« In einem Alter, in dem andere Rentner werden, studierte Huber, Kompositionsprofessor in Freiburg, die arabische Musik so gründlich wie zuletzt wohl nur der Baron Rodolphe d’Erlanger. Dieser reiche Franzose trug in den zwanziger Jahren Material für La musique arabe zusammen, die monumentale Dokumentation jener islamischen Musiktheorie, die im Mittelalter feinste Blüten trieb – etwa die Teilung der Oktave in 53 Kommata und 17 Stufen, aus denen Hunderte charakteristischer Intervallfolgen gebildet werden, die Maqamat.

Huber hat die sechs Bände d’Erlanger auf dem Tisch in Panicale liegen und meint: »Ohne die arabische Hochkultur hätte die europäische Renaissance nicht so früh anfangen können.« Er will nicht zurück zu dieser Hochkultur, er verknüpft sie mit Europa – etwa der Mehrstimmigkeit. »Musik ist immer eine Synthese! Wenn sie das nicht ist, zerbröckelt sie«, sagt er. Huber ist der Synthetiker schlechthin. Mit Mozart hat er sich in ebenbürtig funkelnder Ironie auseinandergesetzt, Gesualdos dichte Polyfonie hat er ins 20. Jahrhundert fortkomponiert, als könne er von seinem Balkon in Panicale direkt ins 17. Jahrhundert des finster genialen Fürsten blicken. Er hat Albrecht Dürers apokalytische Visionen mit den Pilotengesprächen beim Abwurf der Atombombe verbunden – doch plakativ ist das nie. Huber erzwingt Zusammenhänge nicht, er entdeckt sie.

So scheint es fast natürlich, dass ihn ein arabisches Intervall tief mit seiner Schweizer Kindheit verbindet. Auch wenn es nicht ganz einfach zu erklären ist, was die geteilte kleine Terz mit dem elften Oberton und damit dem Ton F des Alphorns zu tun hat… Das Alphorn hatte es seinem Vater angetan: »Los doch, Klaus, das Alphorn, hörsch’ es? Jetzt – das fa! Jetzt – das fa!« Klaus Huber schaut lächelnd aus dem Fenster nach Norden, als höre er es noch immer. Aus der Schweiz hat er auch den alten, schweren Klavierstuhl seines Vaters mitgebracht, der hier vorm Flügel steht – ein wohltemperiertes Klavier im Arbeitszimmer eines Intervallbefreiers? Aber er ist ja kein Dogmatiker. »Das Ausgeschlossene kommt meist über die Hintertreppe wieder zurück«, hat er mal gesagt.

Ehe Klaus überhaupt sprechen konnte, sang er Themen von Bruckner nach. »Mein Vater war so ein Bruckner-Fanatiker, dass er mit dem Fahrrad eine Nacht durchfuhr, um in Winterthur oder Zürich eine Sinfonie zu hören.« Der Vater, Schulmusiker und Chorleiter in Basel, spielte Bruckner mit Freunden am Klavier und komponierte auch selbst. Idealbedingungen für ein begabtes Kind? Tatsächlich schrieb auch der Knabe Musik, sobald er Noten lesen konnte, mit sechs Jahren, »aber mein Vater hat mich nicht ermuntert beim Komponieren. Ich sollte Geige spielen. Er dachte: Wenn jetzt der Sohn ins gleiche Messer läuft… weil mein Vater mit seinen Kompositionen keinen Erfolg hatte. Aber das hat mir wehgetan, dass er das nicht interessant fand, was ich schrieb.« So machte Klaus im Krieg erst mal eine Lehrerausbildung. »Ein Lehrer im Seminar war leider Gottes ein Nazi, als Schweizer, der beste Freund des Komponisten Othmar Schoeck und sein Biograf, Hans Corrodi, der verbot uns, Heine zu lesen.« Bis dahin hatte Huber Schoecks romantisch orientierte Harmonik gemocht, »aber so wie der Corrodi die Lieder gesungen hat und gespielt, das war so grauenvoll, das hat mir den Schoeck total ausgeschaltet. Ich habe mir gedacht, wenn ich komponiere, dann auf jeden Fall nicht diese Harmonik. Am besten gar keine Harmonik! Ich habe für mein erstes Orchesterstück einstimmige Musik des Mittelalters instrumentiert, die Linearität hat mich schon immer beschäftigt.« Und die Mystik. Zu Texten der Mechthild von Magdeburg schrieb er eine Sinfonie mit Altsolo, die in Straßburg aufgeführt und zum späten Durchbruch eines 33-Jährigen wurde, der 40 Geigenschüler pro Woche hatte und nur vormittags der eigentlichen Berufung nachging.

Das Oratorio Mechtildis stimmte den Vater um, aber gegenüber der Avantgarde um Boulez und Stockhausen stand der späte Newcomer einsam da mit seinen mystisch christlichen Texten und einer Zwölftönigkeit, in die er die naturreinen Intervalle hineinnahm. Wer Klaus Huber unterstellt, er habe damals ja noch halbtönig komponiert, wohltemperiert also, der kann ihn richtig böse werden sehen. »Das ist falsch!«, donnert er mit jupiterisch tiefer Stimme und blitzenden hellblauen Augen – und erklärt es noch mal ganz geduldig. Es muss diese Mischung aus Insistenz und Langmut sein, die ihm als Kompositionsprofessor in Basel und später in Freiburg die begabtesten Schüler gleich scharenweise zutrieb, Wolfgang Rihm und Brian Ferneyhough, Toshio Hosokawa, Uros Rojko und Younghi Pagh-Paan. Die Südkoreanerin ist seit 1994 Kompositionsprofessorin in Bremen – die erste in Deutschland. Jetzt sitzt sie in Panicale ein Stockwerk höher auf einer Bodenmatte und arbeitet.

Sie war es, mit der Huber damals traurig in Aldos Bar saß, sie ist es, die nun erledigt, was er nicht mehr schafft, die die Reisen zwischen Bremen und Panicale organisiert, übers Internet kommuniziert und die mit ihm das wohl erste glücklich gleichberechtigte Komponistenpaar der Geschichte bildet. Wobei sie, zwischendurch Blattpetersilie für die Suppe hackend, solche Aktionen verschmitzt unter »serva padrona« verbucht – »die Magd als Herrin«. Beim Essen erzählt der Padrone dann all die wunderbaren und schrillen Begebenheiten um Gigi und Karlheinz und John, die man nicht weitererzählen soll, über den reizbaren Nono, den selbstbezogenen Stockhausen, den schallend lachenden Cage und all die andern Größen, mit denen Huber, der umwegreiche und bedächtige Schweizer, dann doch ziemlich bald auf gleichem Fuß verkehrte. Was spätestens ab Tenebrae, 1968 uraufgeführt, auch gar nicht anders ging.

Diese Passionsmusik für Orchester ist ein ungeheuerliches Stück, Stück auch im dinglichen Sinne, ein steiniges Stück vom Berg, der nicht nur Golgatha heißen muss. So dicht, zu so dunkler Transparenz, kann das Material – drei kombinierte Zwölftonreihen – aber nicht mit Gewalt, sondern nur mit Geist komprimiert werden. Die Perspektive, die hier aufreißt, die enorme Expressivität, der das Ich des Komponisten nicht im Wege, sondern wie zur Seite steht, wird möglich durch differenzierte Konstruktion. Natürlich hört kein Mensch auf Anhieb, wo sich da zum Beispiel vierteltönige Kanonstrukturen entwickeln. Aber dass das alles tief gearbeitet ist, spürt man. Diese Arbeit hat etwas Objektivierendes, Befreiendes. Man wird von keiner Botschaft bedrängt, man sieht. Mit diesem Werk überholt Huber den Rest der Avantgarde nicht nur an Komplexität – er macht das Komplexe transparent und die Transparenz zur Transzendenz.

Auf dieses Begriffspaar kommt er selbst in ganz anderem Zusammenhang. Zwei kleine Steinplatten hängen einander gegenüber an den Wänden des Zimmers, rot und grün bemalt, unscheinbar, ein befreundeter Maler aus der Gegend hat sie gemacht, »ohne Bindemittel, wie vor 200.000 Jahren. Wenn man mit dem Finger drangeht, geht das alles ab. Je nach Beleuchtung wechseln diese Farben, es ist Farbe in einem transparenten, ja transzendenten Sinn!« Er liebt diese Steine, die das helle Licht Umbriens einfangen, er erzählt von John Cage, der zu einem Festival ins nahe Perugia kam und mit seiner Musik den Maler zur Monochromie anregte, er holt, gesegnet mit einem gusseisernen Gedächtnis, zu einem der großen Bögen aus, von denen seine Frau sagt: »Er kommt immer wieder zurück!« Tatsächlich. Es ist, als läge auch seinen verbalen Exkursen eine der wunderschönen mehrfarbigen Formskizzen auf Millimeterpapier zugrunde, von denen aus sich dieser Komponist zu seinen Klängen hinarbeitet.

Also zurück zur Transzendenz. Sie vertröstet einen bei Klaus Huber nicht auf ein Leben nach dem Tod. Als politischer Komponist, der auch Texte von Heinrich Böll, Ernesto Cardenal, Simone Weil vertonte, will er durchaus die Welt retten helfen – vorm Tunnelblick politischer und religiöser Fundamentalisten ebenso wie vor der Verdinglichung. »Das Gehör«, sagt er, »hat von Anfang an über Sprache, Stimme, Instrumente immer das Zentrum der Seele berührt, und die geht natürlich nicht mit dem zu Ende, was Freud analysiert hat. Ich kann mir eine Musik ohne Transzendenz nicht vorstellen und noch viel weniger eine Menschheit.« Man kann sich denken, wie tief es ihn entsetzte, als der Geiger eines Orchesters, das Tenebrae in den siebziger Jahren probte, genervt sagte: »Diese Musik sollte man in einem Konzentrationslager spielen.«

Noch immer sind Musiker rar, die über den Horizont und die Spieltechniken verfügen, die Hubers Partituren verlangen. Sonst wäre eine der besten Opern unserer Zeit kaum seit ihrer Basler Uraufführung 2001 ungespielt geblieben, Schwarzerde nämlich, nach Texten des von Stalin verbannten Dichters Ossip Mandelstam. Seen von Klängen erlebt man da, kostbar, fein, funkelnd, und einen großen, ruhigen Atem, erst mit der Zeit bemerkbar, in dem sich die Flächen mählich überlagern und einander ablösen. Doch ebenso komponiert Huber die Atemnot, die der Würgegriff Stalins beim Dichter bewirkte, und er versteht das Werk als Kommentar zu unserer Zeit. Die Unterdrückung der kreativen Freiheit geschehe heute, sagt er, »subtiler, aber gerade dadurch vielleicht noch erfolgreicher als unter dem Stalinismus«.

In Schwarzerde verband Klaus Huber die Dritteltönigkeit mit arabischen Intervallen – sie standen für Mandelstams Sehnsuchtsland Armenien –, und in Die Seele muss vom Reittier steigen hat er das fortgesetzt. Nach einer Zigarrenpause klappt er die Partitur auf und erklärt sie so, dass man die Musik zu hören glaubt. Die Pulsationen des Orchesters, in space notation auf John Cages Spuren mit einer gewissen Unberechenbarkeit versehen, der Einsatz des Solocellos und des Barytons, eines gambenartigen Instruments mit Resonanzsaiten, die hier gezupft werden, der Rhythmus der arabischen Darabuka, der geflüsterte, deutsch gesprochene Einsatz des Countertenors, der dann auf Arabisch weitersingt: »Eine Frau sprach zur Wolke: bedecke du meinen Geliebten, denn meine Kleider sind durchnässt von seinem Blut«. Im belagerten Ramallah schrieb der Palästinenser Mahmut Darwish 2002 dieses Gedicht, in langen Stunden hat Huber den Text sprechen gelernt, ihn in Noten rhythmisiert, bis sein arabisch sprechender Coach erklärte: »Aber Klaus, du bist mitten in unsere Poetik eingedrungen!« Er scheint jetzt noch darüber zu staunen.

Er zeigt, wo die Taube auffliegt, die Seele, und wo der Wolf auf seinem Opfer döst, »er träumt wie ich«, heißt es da, Huber fragt: »Kann man Lieberes zum Feind sagen?« Er verweist auf Zeitnetze und auf die Metanoia, die plötzliche Umkehr, die »senkrecht einschlägt und nicht vorbereitet werden kann«. »Und dann«, sagt er und blättert an den Schluss, »kommt das As. In der Theorbe und der Flöte und ein Sechstelton höher in der Klarinette und ein Sechstelton tiefer im Fagott. Dauernd das As. Das ist der Liebeston, überall, schon bei Schütz und Bach.« Am Ende, ganz leise, reiben sich zwei As der Streicher so, dass die Schwebung ein Metrum ergibt, wie eilige feine Schrittchen. »Die Seele geht auf ihren Seidenfüßen«, sagt Klaus Huber und lacht ein bisschen. Nein, man muss diese Musik nicht hören. Man möchte.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 15.05.2009