Medea wohnt hier nicht mehr

Aribert Reimann ist einer der meistgespielten lebenden Komponisten. Für die Wiener Staatsoper hat er eine neue Oper geschrieben. Ein Hausbesuch in Berlin.

Hier war sie also. Hier hat sie mit ihm gelebt und er mit ihr, zwei Jahre lang, bis gestern. Gegen Mitternacht nahm sie die Koffer, »ich geh hinweg, den ungeheuren Schmerz mit mir tragend«, aber ohne Streit, keine Szene, es waren ja schon alle Szenen geschrieben und komponiert, und in der Nacht hat er die Reinschrift an der Partitur beendet. Medea ist keine, die dann noch bis zum Frühstück bleibt. Sie lässt sich auch nicht die Koffer tragen, obwohl der Komponist im dritten Stock lebt. Legt das rote Kopftuch an, das Jason ihr verboten hatte, steigt ins Taxi, wer weiß. »Sie ist ja auch eine Frau, die so viele Schichten in sich hat«, sagt Aribert Reimann später. »Die alle aufzudecken…« Er scheint noch nicht zu glauben, dass die Oper fertig ist. Halb erleichtert und halb verlassen steht er in der riesigen Wohnung und zieht die Vorhänge zu.

Medea? Eigentlich hatte Reimann, seit Jahrzehnten einer der meistgespielten zeitgenössischen Opernkomponisten, nicht über sie reden wollen. Die Arbeit sei ihm noch zu nah. Aber die Gestalt ist so nah, dass sie sich nicht beschweigen lässt. Alles scheint ihn an sie zu erinnern, noch führen alle Wege zu ihr, schon jetzt plant er die nächste Reise nach Lanzarote, wo es zu ihrem ersten Treffen kam und sie ihn traf mit den Worten »Gebt Raum«. Worte, die Franz Grillparzer fand für die Frau, der man Verbrechen anlastet und die Kinder wegnimmt, während deren Vater die Hochzeit mit einer anderen plant. »Gebt Raum«, das heißt nicht einfach, »lasst mich durch«, es heißt, sagt Reimann, »dass sie weiß, was sie vorhat«. Die Kinder werden sterben. Ein Kleid wird brennen, eine Frau, ein Palast. »Da hörte ich so viel Musik in mir, dass ich wusste, hier komm’ ich nicht mehr raus. Da war’s gescheh’n.«

Im Februar wird Medea an der Wiener Staatsoper uraufgeführt, Marlies Petersen singt die Titelheldin. Dann wird man wissen, ob wieder eine große Rolle entstanden ist, groß wie der Lear für Dietrich Fischer-Dieskau, mit dem Reimann vor dreißig Jahren weltberühmt wurde. Lear hat bald in Berlin Premiere – als zwanzigste Produktion dieser Oper, die auf den 73 Jahre alten Komponisten selbst noch immer so stark wirkt, dass sie ihn sogar bei der Arbeit an Medea irritierte. Vor einem Jahr reiste er zur Frankfurter Lear -Produktion, »da kam etwas aus der Vergangenheit auf mich zu, da kamen auch Zweifel: Das hast du damals gemacht, und heute?« Mit seinen anderen Opern geht ihm das beim Wiederhören nicht so, sie führen eher zu Medea, als dass sie ihr gegenüberstünden. In gewisser Weise ist Lear, der wahnsinnig werdende König, eine Gegenfigur zu Medea, die in ihrer Not immer stärker wird.

Schon als Kind komponierte er Lieder. »Meine Mutter fand das toll«

Tragisch, bedrängt, verzweifelt sind viele der Gestalten in Reimanns acht Opern, aber damit ist er in diesem Genre wahrhaftig keine Ausnahme; es erklärt nicht, warum er hartnäckig als eine Art Leidenskomponist etikettiert wird, bei dem alles »depressiv getönt« sein soll, der von Journalisten sogar schon gefragt wurde, ob er lachen könne. »Ich bilde mir ein, ein sehr heiterer Mensch zu sein. Das Schablonisieren ist eine sehr deutsche Eigenart«, meint er und erzählt, welche Lacherfolge seine Kammeroper Gespenstersonate nach Strindberg in Schweden erzielte – die Musik folgt auch Strindbergs Ausbrüchen ins Groteske, und Schweden finden nun mal Situationen wahnsinnig komisch, die Deutsche eher unter »beklemmend« verbuchen. Das Nebeneinander von Tragik und Groteske sieht er bei Kafka ebenso wie beim »von mir am meisten bewunderten Mozart, der war nie eindeutig, auch Verdi nicht«.

Vielleicht wird bei Reimann leicht als »eindeutig« missverstanden, was vor allem einleuchtend ist. Obwohl bis ins Letzte durchdacht, unter Einsatz von Reihentechnik und Kontrapunktik, hinterlassen seine Klänge sinnliche Eindrücke. Unerbittliche Tongitter, dunkel glühende Clusterblöcke im Lear. Quälend repetierte Oboenschreie, reduzierte, verbrannte Klänge in Troades, der geigenlosen Oper über die gefangenen Frauen von Troja. Ein 41-stimmiger Kanon, der sich in der Kafka-Oper Das Schloß wie ein Spinnennetz der Bürokratie um den Landvermesser K. legt. Und immer sind bei Reimann die Menschen nicht Teil, sondern Ziel der Partitur. In den Linien und Strukturen des Gesangs kommen sie zu sich selbst. Kein jetzt lebender Komponist hat sich mit Stimmen tiefer, sensibler befasst als er, der als Pianist Liedbegleiter der Größten war, allen voran Dietrich Fischer-Dieskau. Sänger inspirieren ihn.

Und Lieder hat Aribert Reimann schon als Kind komponiert, »meine Mutter fand das toll«. Als Sohn eines Chorleiters und einer Gesangslehrerin ist er »mit Gesangsübungen aufgewachsen wie mit Essen und Trinken«. Auch danach verlief sein Weg ohne Brüche, sein Lehrer Boris Blacher hat ihn früh darin bestärkt. »Der hat sich eine Violinsonate angeguckt und gesagt: An diesen vier Takten müssen Sie ansetzen, das ist Ihr Stil. Das waren genau die Takte, bei denen ich gedacht hatte: Das bin nur ich.« Zu kleinen Besetzungen ist Reimann immer wieder zurückgekehrt, auch in einem der letzten Stücke vor der Arbeit an Medea . Sopran und Klarinette verschmelzen in …in una sombra zu einem dialogischen Monolog in schattenloser Weite, von verfremdetem Klavierklang sekundiert, mal wie von einer archaischen Laute, mal wie von einem Hackbrett.

Zu Worten von Friedrich Rückert und Antonio Porchia entstehen Linien von enormer Dringlichkeit. Die Unmittelbarkeit im Ausmessen eines seelischen Raumes, die Reimanns Opernpartien prägt, ist hier als Konzentrat zu hören.

Reimann hat sich dazu vom Spiel des Klarinettisten Jörg Widmann und der Stimme Mojca Erdmanns anregen lassen, die das Stück auch aufnahmen. (Capriccio 5020, mit weiteren Klarinettenwerken Reimanns.) Wer diese Neueinspielung und den jüngst erschienenen Mitschnitt des Frankfurter Lear (Oehms Classic 921, mit Sebastian Weigle am Dirigentenpult) hört, erlebt die Extreme vom Klangrausch bis zur Reduktion, zwischen denen der Komponist seit Jahrzehnten geradezu gezeitenartig wechselt. Wobei er sich immer weiter von der Blockhaftigkeit der Lear -Partitur entfernt: »In Medea wollte ich eins aus dem andern entwickeln, auch im kleinsten Material.«

Sein Weg jenseits der strengen Serialisten und sein Anknüpfen an vokale Traditionen machten ihn der Donaueschinger Avantgarde lange Zeit ebenso verdächtig wie die »narrativen« Libretti, von wo es nicht mehr weit war bis zum Vorwurf der »Literaturoper«. Heute meint dieser Begriff, den Reimann verabscheut, einfach die musiktheatralische Umsetzung literarischer Texte, aber bis in die neunziger Jahre geißelte man damit die »lineare Erzählstruktur«, das Festhalten am bürgerlichen Bücherregal.

»Gut, dass ich durchgehalten habe«, sagt Reimann, zu dessen besten Freunden der stilistisch völlig konträre Helmut Lachenmann zählt. »Ich brauche zumindest den Handlungsklammerfaden, ich kann nur das zum Hören bringen, was sich zwischen Personen abspielt mit Handlung im Hintergrund. Bei Medea ist die Handlung neben dem psychischen Vorgang minimal wie in keiner anderen meiner Opern.«

Rund dreißig Dichter haben seit der Antike Medea dramatisiert, »aber von keinem wird so wie von Grillparzer dieser Vorwurf gezeichnet, dass sie eine Fremde ist. Sie wird gezwungen, sich anzupassen, so etwas erleben wir heute ja pausenlos. Dauernd wird auf ihr herumgetrampelt. Sie wird in die Enge getrieben und besinnt sich ihrer Kraft. Wenn ihr Hass rauskommt, allein ohne Orchester, da kommen Zacken, Koloraturen, die werden immer größer. Das hab’ ich nicht vorausgesehen, dagegen kann ich mich auch gar nicht wehren.« Sie begann ihr eigenes Leben zu führen im Südwesten von Berlin, wo Reimann seit 43 Jahren lebt. Dabei gefällt ihm weniger Berlin als der Umstand, »dass man hier leben kann, ohne von der Stadt berührt zu sein. Einmal im Monat fahre ich zum Friseur und dann wieder nach Hause.« Ein Traum von Wohnung. Saalartige, hohe Räume, viele Wände, bedeckt mit Büchern, neben dem Flügel führt eine Wendeltreppe zum Arbeitszimmer, schalldicht, von wo aus man fast nur noch Wald sieht, Grunewald. »Da oben bin ich von der Welt weg.«

Wenn Medea Feuer legt, dann brennen Reimanns Kindheitserinnerungen

»Da oben« werden seine Gestalten zu Menschen. Von Jason spricht Reimann wie von einem Typen, den er, nach nächtelangen Gesprächen mit Medea über ihren Ex, nur verachten kann. »Der hat sie nicht unterstützt, im Gegenteil, er hat ihr das Leben wahnsinnig schwer gemacht durch seinen Opportunismus. Das sind Dinge, die sie mit ihrer Stimme, ihrer Struktur zurückschlägt. Die Struktur bestimmt dann den Klang. Bei Medea hatte ich das Gefühl, da liegen verschiedene Schichten, die erst ihre Wege gehen, scheinbar allein, und dann kommen sie zu einem Ganzen.« Da kommen auch verschiedene Schichten aus Reimanns eigenem Leben zusammen, und sie kulminieren dort, wo Medea Feuer an den Palast des Kreon legt, ein Feuer, »das nicht von außen kommt wie in Troades, sondern aus ihr selbst. Es ist gefährlich, wenn man sich hineinsteigert in diese psychischen Zustände, ich muss das ja nachvollziehen.«

Aribert Reimann hat damit das Feuer im eigenen Kopf wieder geweckt, das Schlimmste, das er je erlebte, »die Bilder aus der Kindheit werden ja immer stärker«. In jener apokalyptischen Nacht war er neun Jahre alt und hatte schon viele Angriffe erlebt, sein Bruder war dabei ums Leben gekommen. Reimanns Familie, in Berlin ausgebombt, war in die fast unbehelligte alte Residenzstadt Potsdam geflohen. Am 15. April 1945 galt ihr einer der letzten Bombenangriffe. »Ich bin nach dem Angriff da mit meiner Mutter rausgegangen und alles brannte. Von den Bäumen fiel das Feuer, wir mussten aufpassen, dass wir nicht selbst verbrennen. Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man das selbst nicht erlebt hat. Das sind so Dinge… In den letzten zwei Monaten an Medea, als ich an diese Stelle kam – das war schwierig für mich durchzustehen.« Bis heute hat er in Potsdam das Gefühl, »es war gerade der Angriff«.

Und es ist eine aus Feuer geborene Insel, zu der Reimann später immer wieder reiste, wo er »eins mit der Landschaft wurde«, die Skizzen für Troades machte und später dann auch für Medea, nämlich Lanzarote, die Vulkaninsel westlich von Afrika. »Ich könnte mir denken, dass das auch hörbar ist«, meint er, »ich habe mich während der Arbeit an Medea oft dort gefühlt. Es gibt dort etwas, was man sonst im Traum erlebt.«

Es ist spät geworden, die Sonne sinkt hinter den Grunewald, Reimann zieht die Vorhänge wieder auf. »Jetzt Ferien zu machen wäre eine Katastrophe«, sagt er, »ich würde in ein furchtbares Loch fallen.«

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 10.10.2009