Trillern aus der Hüfte

Simone Kermes war einmal Facharbeiterin für Schreibtechnik, jetzt ist sie ein vulkanischer Barockopernstar.

Sie macht ihn fertig, den armen Kerl, vor allen Leuten, schreit ihn an, stößt ihn, gerade noch kann der Bratscher weiterspielen, während ihre Töne ihn strahlend verdammen: »Barbaro, tu m’uccidi« – » Grausamer, du tötest mich!« Gegen diese Diva ist kein Einspruch möglich. Die Szene ist ein Konzertgag, aber die Flammenkraft der Wut ist echt, die Offbeats des Barockgitarristen von Le Musiche Nove heizen sie noch an. Was Simone Kermes singt, das ist sie auch. In diesem Fall die Aristea aus L’Olimpiade, einer Oper von Giovanni Battista Pergolesi, halb vergessen wie so vieles, was die Sopranistin wieder ins Leben holt. Ihr Album Lava, das sich glänzend verkaufte, besteht zu drei Vierteln aus Stücken, die seit 270 Jahren keiner mehr sang, ihre jüngste CD bietet sogar fast ausschließlich Erstspielungen, ausgegraben in Archiven von Neapel bis Wien.

Das ist freilich noch kein Alleinstellungsmerkmal. Auch Cecilia Bartoli, bis vor einigen Jahren Alleinherrscherin im barocken Koloraturgesang, wirbt mit der Anzahl von »world premiere recordings« auf ihren CDs. Und Konzeptalben, die einzelne Komponisten, Kulturbiotope, Themen feiern, gibt es mittlerweile im Dutzend – oft in beträchtlicher Qualität. Barock boomt nach wie vor, und neben den Dauerbrennern von Monteverdi bis Händel wächst die Lust auf Novitäten. Gerade hat Counterstar Philippe Jaroussky Arien von Antonio Caldara aufgenommen, desselben genialen Italieners, dessen Musik für den Wiener Hof um 1700 auch auf der neuen CD von Simone Kermes mehrfach vertreten ist. Was diese Solistin von anderen unterscheidet, ist ihre Direktheit in Stimme und Auftritt.

Sie rockt. Steht da auf irre hohen Plateauschuhen, angetan mit knielangem krinolinenartigem Stoffgewucher in Moosgrün, und stürzt sich in Nicola Porporas Tocco il porto, als wäre es A Hard Day’s Night, auch so eine schnelle Nummer, stößt die ersten drei Töne nicht wie einen Dreiklang, sondern wie eine Botschaft heraus, stampft, geht mit Trillern und Hüfte in die Kurve, genießt Spitzentöne wie Aussichten und tut der Musik damit keineswegs Gewalt an. Das ist kein Crossover-Krampf, sondern jenes Furore, mit dem Kastraten und Sängerinnen um 1740 ihr Publikum hinrissen, auch wenn sie dabei nicht so herumtobten wie Kermes. Sie braucht das halt, und sie genießt auch die Freiheit des Singens, wenn sie fast dreckig im tiefen Register knurrt oder nach Lust und Laune improvisiert – wie die Freiräume dieser Musik das verlangen.

Neben Simone Kermes, schrieb ein Kritiker, wirke ein Auftritt von Cecilia Bartoli wie eine Meditationsübung. Was nichts daran ändert, dass Bartoli mit kleinerer, aber hochintelligent geführter Stimme unschlagbar präzise Koloraturen liefert, mitunter wie in Marmor gefasst. Wer es brennen hören will, hält sich eher an die Frau aus Leipzig als an die aus Rom, und dass Kermes die Tabubrecher von Rammstein mag, passt zum Ungehorsam ihrer Kunst. Kermes ist aber keineswegs nur die »Feuerspuckerin«, auf die man sie nach der Lava-CD festlegen wollte. Typisch für sie ist eher, dass sie dieses Image gleich mit der nächsten, neuesten CD unterläuft. Colori d’Amore bietet Stücke, die inniger und weniger virtuos sind, vertieft im Ausdruck. Anders als in den Koloraturfetzern, die für den Kommerzerfolg im Neapel der 1740er komponiert wurden, ging es am Wiener Hof Jahrzehnte zuvor nur um die Kunst. »Die Künstler waren frei, und der Kaiser hat sie gefördert«, so einfach fasst Simone Kermes die Lage zusammen. Wer hört, wie zart sie den tröstenden Schlaf beschwört in einer Arie von Antonio Maria Bononcini, der den Herzensriss seiner Griselda mit dem unerhörten Wagnis eines großen Septimensprungs beschreibt, entdeckt mit dem weiten Horizont jener Zeit auch eine Sängerin von zerbrechlichster Sensibilität. Ungeschützt, leise, vibratolos, schicksalsergeben steigt sie hoch vom G zum Fis, vom »ombra« zum »tua«.

Bei Sony Music fürchtete man sich vor ihrer Repertoireauswahl, denn mit Simone Kermes hatte das Label die Katze im Sack gekauft: Das Programm bestimmt nur sie. Natürlich hoffte man auf weitere »Knallernummern«, wie sie die nennt. »Wo kann man diese Stücke hören?«, wollten die Produzenten wissen. »Nirgends!« Dass sich die Firma überhaupt auf den Handel einließ, lag am Erfolg von Lava, die Kermes auf eigene Kosten mit dem Ensemble Le Musiche Nove produzierte. Eher durch Zufall landete die Aufnahme bei der Deutschen Harmonia Mundi und im Vertrieb von Sony und schlug fast ohne Werbung durch. Sie entstand ein paar Monate vor Cecilia Bartolis Klassikchart-Produktion Sacrificium, auf der die Italienerin dasselbe Repertoire von Leo bis Porpora singt, wenn auch andere Stücke. »Wir haben ihr dafür zu danken«, sagt Simone Kermes mit sanftem Tigerlächeln, »denn unsere CDs wurden natürlich verglichen…« Prickelnd wird die Rivalität der Diven, weil noch ein Mann im Spiel ist. Claudio Osele nämlich, der als Lebensgefährte der Bartoli und Musikologe die Musik für Konzeptalben wie Opera Proibita zusammentrug, ist seit der Trennung von der Italienerin musikalischer Partner, Ensemble- und Ausgrabungsleiter von Kermes.

Weitergehenden Gerüchten begegnet sie amüsiert mit dem Hinweis auf ihren eigenen Mann, der zugleich ihr Manager und Fotograf ist und, wenn es sich ergibt, auch mal den zerbeulten Riesenkoffer mit ihren extravaganten Roben durch die Städte rollt. Ihn lernte sie schon beim Gesangsstudium zu DDR-Zeiten in Magdeburg kennen, als sie bereits Mutter einer Tochter war. »Ich war noch nicht achtzehn, als ich das Kind kriegte. Ich war einfach jung, verstehste? Ich hab gemacht, was ich wollte.« Ihr Geburtsdatum verschweigt sie: »Dieser Jugendwahn! Mit 35 bist du ja schon alt!« Sie war jedenfalls fünf, als sie träumte, »auf der Bühne zu stehen mit großen roten Vorhängen«, sie sang gern, mit neun wollte und kam sie in den Leipziger Opernkinderchor, lieh sich Platten mit Maria Callas und Gundula Janowitz aus und sang sie mit, alles von Königin der Nacht bis Desdemona. »Meine Mutter dachte, ich hab ’n Vogel.«

Dass sie nicht unterstützt wurde, findet sie okay. »Du musst dich durchschlagen«, sagt sie, »du darfst nicht gemacht werden.« Sie nahm Gesangsunterricht, vernachlässigte die Schule, machte statt Abitur eine Ausbildung zum »Facharbeiter für Schreibtechnik« und war auf einmal Sekretärin im Leipziger Fernmeldeanlagenbau. »Alle sagten, Mensch, du hast doch jetzt ’n Kind, du hast ’n schönen Beruf, da musst du nicht weiter singen!« Aber sie bewarb sich zum Studium in Magdeburg, schaffte es von dort an die Leipziger Hochschule und schwärmt davon, wie streng es da zuging. Heute kämen zu viele Gesangsstudenten durchs Examen: »Die werden nicht alle einen Job finden!« Ihr erster Job auf einer Opernbühne, 1990, führte sie als Einspringerin nach Halle. Händels Tamerlano, Regie: Peter Konwitschny. »Da lagen nur vier, fünf Matratzen rum, aber es hatte einen tieferen Sinn.«

Sie lernte, nach dem Kontext einer Rolle zu fragen. »Manche Regisseure wissen gar nicht, was das ist. Die sagen nur, biet mal was an! Es laufen zu viele Flitzpiepen und Lichtdesigner rum in der Regie.« Aber mit vielen hat sie Glück gehabt, mit Christof Loy etwa in Lucia Silla und mit dem Intendanten, der sie für drei Jahre fest an sein Theater in Koblenz holte: Georges Delnon, jetzt Direktor in Basel, »der ließ mich alles ausprobieren und hat mich nicht verheizt«. Seither ist Konstanze ihre Lieblingspartie bei Mozart: »So eine Stärke, so ein Stolz! Die wächst immer mehr.« Vor zehn Jahren machte sie sich selbstständig, und bald erschien ihre vorerst prominenteste CD: Mit der Mezzosopranistin Maite Beaumont und Donna Leon als Sprecherin wurde La Maga Abbandonata produziert, Händel-Arien über Zauberinnen, die die barockbesessene Krimiautorin besonders schätzt. Nicht nur deswegen war Simone Kermes den Melomanen lange vor Lava ein Begriff. Sie hat für die Deutsche Grammophon auch rare Stücke von Vivaldi aufgenommen, sie holte den genialen Joseph Martin Kraus aus der Versenkung, einen Zeitgenosse Mozarts, der von der Sopranistin gelegentlich mehr Virtuosität verlangt als Strauss von seiner Zerbinetta, und im selben Jahr wie Lava erschien La Diva. Mit der Berliner Lautten Compagney singt Kermes da die Arien, die Georg Friedrich Händel in London für Francesca Cuzzoni schrieb, eine der großen Diven des Barock. Es müssen ja nicht immer Ausgrabungen sein. Doch wie sinnvoll die sind, wie nötig wir sie haben, das ist auf der neuen Colori d’Amore in jedem Stück zu erleben.

Hinter den Arien von Alessandro Scarlatti und Antonio Caldara leuchtet ein ganzer Spielplan verklungener Opern, auf die man hier neugierig wird. Und eine der Ersteinspielungen klingt seltsam vertraut. Da hören wir, wo Georg Friedrich Händel sein weltberühmtes Ombra mai fù klaute, das Largo. Schon 1694 findet Giovanni Bononcini, der ältere der beiden Brüder, für den Schatten der Platane die Töne, die vierzig Jahre später Händel in seinen Xerxes einbaut. Man weiß das, aber das Original zu hören ist etwas ganz anderes. Dann nämlich wird Ombra zum Verbindungsweg zwischen den Welten. Der vertrauten, auf ein paar Begriffe und Größen reduzierten, an die wir uns halten, und einem weiten, kaum betretenen Land vergessener Wunder. Unendlich schlicht singt Simone Kermes diese Weise. Es ist, als blicke man dabei auf das ganze Leben.

Colori d’Amore: Simone Kermes (Sopran), Le Musiche Nove, Ltg.: Claudio Osele (Sony Classical)

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 21.12.2010