Paukenschlag und Kalauer

Kann sich ein Opernhaus neu erfinden? Stuttgart versucht’s – mit einer jungen Regisseurin, vielen weißen Sofas und “hingeworfenen Akkordklumpen”.

Vor einem halben Jahr versammelte sich in Gyöngyöspata, nordöstlich von Budapest, eine paramilitärische Truppe in der Nähe einer Roma-Siedlung. Frauen und Kinder der ethnischen Minderheit stiegen daraufhin in Busse des ungarischen Roten Kreuzes und wurden in Sicherheit gebracht. In so einem Europa gerät man nicht unbedingt in freudige Erwartung, wenn sich auf einer Opernbühne eine ziganeske Hochzeitsgesellschaft vorm Wohnwagen versammelt. Sie wirkt schon bedroht, ehe hinten nebst ungarischer Flagge auch die (offiziell verbotene) rechtsradikale Nationale Garde aufzieht.

Die Töne zum Überfall liefert Hector Berlioz . Der ungarische Rákóczi -Marsch ist das bekannteste Stück seiner Damnation de Faust, und was zu seinen Klängen geschieht, filmt der Titelheld als Kameramann persönlich. Den jungen Faust hat es, in der Partitur wie auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper, nach Ungarn verschlagen. Die Bilder der unter Schlagstockhieben endenden Hochzeit verfolgen ihn und uns bis ans Ende einer Oper, die sich einer verbindenden Erzählung allerdings widersetzt wie keine andere. Berlioz selbst hat das 1846 konzertant uraufgeführte Werk eine »légende dramatique« genannt und die Regeln der Grand Opéra großzügig ignoriert.

Gegen den Opernbetrieb sperrt es sich noch heute. Auch wenn vom Madrigal bis zum Requiem längst alles inszenierbar erscheint, gehört viel Mut dazu, mit diesem sehr frei nach Goethe entstandenen, collagenhaften Halboratorium nicht nur eine Spielzeit zu eröffnen, sondern eine ganze Intendanz – auf der zudem ein Erwartungsdruck lastet wie auf kaum einer anderen. Wer ermessen will, auf was sich die 39-jährige Regisseurin Andrea Moses und ihr Förderer, der neue Stuttgarter Intendant Jossi Wieler, eingelassen haben, stößt nicht nur auf ein schier unerzählbares Werk, sondern auch auf ein Opernhaus, dessen Maßstab der Kultstatus ist, den sein Intendant Klaus Zehelein ihm bis 2006 verschaffte.

Komplexeste Werke von Helmut Lachenmann und Luigi Nono wurden damals zu Kassenschlagern, das sogenannte Regietheater war brillant vertreten, von Ruth Berghaus über Peter Konwitschny bis zu solchen, die hier ihre ersten Opern inszenierten. Wer musiktheatralisch auf dem Laufenden bleiben wollte, musste nach Stuttgart. Doch Zeheleins Nachfolger Albrecht Puhlmann, der in Hannover eine vergleichbare Linie mit vergleichbarer Resonanz verfolgt hatte, konnte im schwäbischen Kessel nicht Fuß fassen. Rückkopplungseffekte zwischen Haus, Politik und Medien fegten Puhlmann aus dem Amt.

Nicht nur vor diesem Hintergrund birgt der Neustart ein hohes Risiko. Es ist vielleicht das größte Wagnis des neuen Intendanten, sich an eine überregional noch kaum bekannte Künstlerin zu binden. Andrea Moses debütiert mit ihrem Faust als Stuttgarter Hausregisseurin. Außer einer Gastregie pro Saison werden die Novitäten künftig ausschließlich Arbeiten der Newcomerin und jenes gefeierten Traumduos der Opernregie sein, das an diesem Haus groß wurde. Jossi Wieler und sein Dramaturg Sergio Morabito, 60 und 48 Jahre alt, von Zehelein auf den Weg gebracht und auch unter Puhlmanns Ägide erfolgreich, werden für zunächst fünf Jahre nur in Stuttgart inszenieren.

Eigentlich hatte man politisches Theater ja für Geschichte gehalten

Aus dem Reisekarussell der Regiestars steigen sie aus. »Es sind zehn bis zwanzig Namen, die da immer wieder auftauchen von Wien bis Amsterdam«, meint Wieler. »Wo ist denn da das Besondere?« Wenn das deutsche Stadttheater mit seinen festen Ensembles und der Repertoirepflege kein »Auslaufmodell« werden solle, müsse es wieder spezifisches Profil entwickeln, bis hin zur Regie. Nicht dass ein Intendant auch zu Hause inszeniert, ist singulär, sondern dass ein international gefragtes Duo wie dieses sich gänzlich an ein Haus bindet. Das hat auch Sylvain Cambreling beeindruckt, der als Generalmusikdirektor 2012 dazustößt. Wieler und Morabito werden zwei Stücke pro Spielzeit inszenieren, aber ein »einheitlicher Stil« sei nicht zu befürchten, sagt Wieler. »Jede unserer Arbeiten hat eine eigene Sprache.« Das muss er niemandem mehr beweisen.

Wohl aber, dass er mit Andrea Moses den richtigen Griff getan hat. Ihr szenischer Einstieg in Berlioz’ Faust -Oper ist als Paukenschlag, als Bekenntnis dem geballten Erwartungsdruck durchaus gewachsen. Politisches Theater hatte man in dieser Eindeutigkeit schon für Regiegeschichte gehalten. Was gerade angesichts rassistischer Entwicklungen mitten in Europa nicht dagegen spricht, diese Geschichte neu aufzurollen. Andrea Moses, 1972 in Dresden geboren, bringt Erfahrungen aus zwei Deutschlands mit, sie ist an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin noch »unter dem Primat der Fabel erzogen worden«, wie sie sagt, sie glaubt noch an die gesellschaftliche Erzählung.
Doch was bei ihr so plakativ wie atembeklemmend beginnt, stößt nicht nur auf den Widerstand des Komponisten, der uns im Faust erratische Tableaus hinterließ. Noch der talentierteste Newcomer würde unter dem Druck der Stuttgarter Situation aus der Balance geraten – und nach den ersten, kräftigen Akzenten liefert Andrea Moses von allem zu viel. Die Trinker in Auerbachs Keller gehören einer schlagenden Verbindung an, die Soldateska schreitet zur Bücherverbrennung, das zivile Kollektiv neigt zum Voyeurismus. In ihrem Übermaß entwerten sich die gesellschaftskritischen Signale gegenseitig.

Der von Moses favorisierte Ausstatter Christian Wiehle verschärft das Dilemma. Die Klarheit seines ersten Bildes – leere Gegend, Wohnwagen, davor ein Klappstuhl, darauf der junge Faust – verliert sich in einer Folge von Schnurvorhängen, Kohorten weißer Sofas unter blauem Licht, verschwiemelter Stadtansichten. Als gotischen Rest der Faust-Legende hat Wiehle ein Kirchenfenster quergelegt, das – mit Blick auf das emsig von Autos befahrene Dresdener Elbufer – Marguerite als Wohnung dient. Immer wieder wird projiziert: Damit wir sehen, was Faust bewegt, flimmern im übergroßen Scherenschnitt seines Profils die Bilder seiner Träume und Filme.

Aber was bewegt ihn wirklich? Pavel Černoch ist ein stimmlich wie szenisch wunderbar präsenter junger Tenor, am Charakter mehr als am Wohlklang interessiert, den er gleichwohl zu bieten hat. Doch bleibt er passiv, Stereotyp des reinen Toren. Nachdem er Zeuge des Überfalls geworden ist und auf den eigenen Weltekel mit einem Suizidversuch reagiert, wird er Spielzeug eines Méphistophélès, den Robert Hayward mit porösem Bariton als Zyniker gibt. Der hat alles in der Hand. Vielleicht soll seine Allmacht zeigen, dass in dieser Welt kein Gott mehr ist – aber eigentlich wirkt er, rotgelbhaarig, wie ein Teufel aus dem Kaspertheater, der nun mal einfach so fies ist.

Faust und Mephisto sitzen auf dem Sofa und spielen Autofahren

Wenn sich am Ende erweist, dass die Paramilitärs unter seinem höllischen Kommando stehen, wird Gesellschaftskritik auf ebenjenes Gut und Böse reduziert, gegen das sie sich zu wenden hätte. Wobei, andererseits, auch alles in Anführungszeichen steht. Wie nah können wir uns die Traurigkeit der verlassenen Marguerite gehen lassen, wenn sie doch Assistentin des Teufels ist und schon ihre Schwangerschaft nur ein Spiel mit Kissen war? Sicher, Oper lebt von Mehrdeutigkeiten – aber auch die brauchen ihre Ökonomie. Wer die Alcina erlebt, die Wieler und Morabito hier 1998 inszenierten und jetzt neu aufnahmen, sieht, mit welcher Virtuosität sich etwas in der Schwebe halten lässt.

Dass einen Gretchens Schmerz dann doch berührt, verdankt sich dem Orchester fast mehr als dem handfesten Mezzo von Maria Riccarda Wesseling. Dirigent Kwamé Ryan dehnt die Romance zum Meeresspiegel der Emotionen, und nicht nur da zeigt uns das Orchester den Extremisten Berlioz, hemmungslos im Weinen wie im Spotten, im Häkeln folkloristischer Genrebilder ebenso wie auf dem Serpentinenpfad den eine rätselhafte Geigenlinie zurechtschlängelt. Wenn dazu Faust in den Regalen der Begehrten stöbert, wird an der komponierten Fremdheit aber kleinteilig vorbeiinszeniert.

Vielleicht kann man an diesem Stück ja gar nicht anders als vorbeiinszenieren. Das müsste dann aber mit Entschlossenheit geschehen, mit der Unverschämtheit eines Berlioz sozusagen, der Goethes Vorlage dekonstruiert und beballert hat. Dass er zu allem entschlossen ist, hört man beim Höllenritt, auf dem der Komponist seiner Zeit weit vorausgaloppiert mit jenen »eigens hingeworfenen Akkordklumpen«, die Robert Schumann irritierten. In Stuttgart sitzen dazu Faust und Mephisto brav auf dem Sofa und spielen Autofahren, und zu den jähen Schreien des tiefen Blechs drückt Faust auf eine imaginäre Hupe. Na ja.

Der Kalauer steht am anderen Ende des Spektrums, das mit dem politischen Paukenschlag beginnt und vielen vieles bringen will. Der Gesellschaft ein Signal, dem Repertoire eine Rarität, allen Chören des Hauses einen Auftritt, der Bühnentechnik eine Leistungsschau, dem Affen Zucker. Und Zehelein, der alte Gott, sitzt ja auch noch im Publikum. Dass das nicht aufgehen kann, erzählt uns weniger über die Regisseurin als über die Erwartungen, mit denen es das neue Team aufnehmen muss. Dazu passt ein ziemlich schwäbischer Satz aus der Werkstatt von Wieler und Morabito: »Wenn wir das Gefühl haben, wir haben etwas nicht zu Ende gelöst, bleiben wir dran.«

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 03.11.2011