Kernschmelze in Zeitlupe

Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas hat ein Streichquartett zur Katastrophe von Fukushima komponiert. Jetzt feiert ihn das Lucerne Festival.

»Es ist alles okay. Geht weiter einkaufen!« Mit Kreide hat das jemand auf den Bürgersteig der Brücke in Luzern geschrieben. Und die schicken, wohlhabenden Luzerner gehen weiter einkaufen, über die Schrift hinweg, die zwei Stunden später kaum noch zu lesen ist. Die Sonne scheint, es ist alles okay. Aber gleich nebenan, im nobel-sperrigen Quader des Kulturzentrums KKL, in einem dunklen Saal, erhebt sich eine Woge. Ein Tsunami aus Klangsplittern bricht über die Musiker herein, die ihn erzeugten, hinterlässt lähmende Ruhe, vorübergehend. Bis der große Sturm beginnt. Wer nach der Uraufführung des Siebten Streichquartetts von Georg Friedrich Haas ins Freie tritt, traut seinen Augen nicht mehr. Über dem Himmelblau am Vierwaldstättersee ahnt man eine Schwärze. Aber sie bedrückt einen nicht, man blickt weit in ihr.

Georg Friedrich Haas läuft so herum, wie es das Vorurteil vom leicht weltfremden Avantgardisten nahelegt. Zwischen den schicken Luzernern fällt er mit seiner übergroßen Lederjacke auf, dem festen Schuhwerk, dem etwas tapsigen Gang eines Bergbewohners. Dieser freundliche, leise Mann erweitert die Möglichkeiten der Musik derzeit wohl nicht weniger, als es 1859 gleich gegenüber im Hotel Schweizerhof geschah. Da vollendete Richard Wagner seinen Tristan, indem er die Harmonik an die Grenzen ihrer Auflösung trieb. Haas löst die uns vertrauten Intervalle auf. Er komponiert mit Mikrotönen. Das tun auch andere, nicht erst seit gestern. Haas aber hat eine so unverwechselbare, starke Musik entwickelt, dass der 58-Jährige, mit Aufträgen überhäuft, nun auch composer in residence beim renommierten Lucerne Festival ist.

Noch vor 15 Jahren kannten nur Insider den Österreicher, der im Skiort Tschagguns aufgewachsen war und mit 17 beschlossen hatte, Komponist zu werden. »In der Pubertät schrieb ich Gedichte und habe gemerkt, dass die Sprache nicht präzise genug ist. Dass ein Akkord, den ich am Klavier anschlage, viel deutlicher ist.« Aber die Klaviertöne sind längst verblasst neben dem Spektrum, das Haas später entdeckte. Möglich, dass das Umspannwerk eines nahen Stauseekraftwerks die früheste Anregung war. Aus statischen Maschinenklängen, sagt er, hört man am deutlichsten die Naturtonreihe heraus, also all die mitschwingenden Obertöne, deren ungeheure Vielfalt in der »wohltemperierten« Stimmung von zwölf Halbtönen grob reduziert wird.

Allerdings nur in der Theorie, denn jeder Streicher, der ein Vibrato spielt, jeder Sänger, der einen Ton der Brillanz wegen leicht anhebt, arbeitet unwillkürlich mit Teiltönen. »Wir sind eigentlich gewohnt, mikrotonale Aufführungen zu hören«, meint Haas. Im Gegensatz zu den Interpreten haben die Komponisten erst spät aus dem Zwölftongehege gefunden, von György Ligeti bis Klaus Huber. Stark beeindruckt war Haas von den französischen »Spektralisten«, die Töne und Klänge analysieren und mit den dabei gefundenen Obertönen arbeiten – längst auch mit Computerhilfe. »Aber sobald es zur Dogmatik wird«, sagt er, »habe ich panische Angst.« Haas will subjektiv sein dürfen. In seiner Kammeroper Nacht schuf er Spannungen zwischen normal gestimmten und mikrotonal umgestimmten Streichern. Mit diesem Werk fiel er 1996 in Bregenz auf; es wird an diesem Wochenende auch in Luzern gespielt.

Erst in einem Alter, in dem manche große Komponisten bereits berühmt oder tot oder beides sind, begann Haas, sich zu etablieren. »Es tut einfach weh, wenn man nicht beachtet wird«, erinnert er sich, »andererseits hat sich die Lernphase wesentlich verlängert.« Im Umgang mit den Mikrotönen erwarb er dabei eine intime Selbstverständlichkeit wie kein anderer. Welche Wirkung das haben kann, zeigte sich vor einem Jahr in Donaueschingen. Die Uraufführung der Limited Approximations für sechs Klaviere im Zwölfteltonabstand und Orchester war nicht nur eine Sensation, sondern eine jener halben Stunden, in denen Musikgeschichte geschrieben wird. Der Klang der Flügel verflüssigte sich. Wie schmelzendes Geröll flossen ihre Töne durch Schichten des Orchesters.

Eine menschenleere Tektonik entsteht, wie vor dem Anfang oder nach dem Ende der Zeiten, die Bedrohliches hat in ihrer Eigengesetzlichkeit. Wie ein brodelnder Meeresspiegel scheint einmal der Klang auf die Hörer zuzukippen. Und wenn manche Akkorde von fern wie Septakkorde bei Anton Bruckner tönen, dann nur als Fata Morgana über einem Prozess, der mit Tonalität so viel zu tun hat wie die Entstehung der Alpen. In diesem Prozess wird einem das gewohnte Treppenmaß der zwölf Töne unter den Füßen weggezogen, während ein ganz anderer, höchst sinnlicher und physisch spürbarer Zusammenhang sich einstellt. Ehe man weiß, wie einem geschieht, ist man ins Gravitationsfeld eines anderen Planeten geraten. Vielleicht ist es auch die Erde, neu betrachtet.
Haas’ Stücke, unverwechselbar auch durch ihr ausgedehntes Pulsieren, führen ihre Hörer weit weg. Und doch blickt man danach schärfer auf die Welt. Die präzise Arbeit an kleinsten Nuancen scheint beim Hörer Spuren zu hinterlassen. An zwanzig Sekunden Klang sitzt dieser Komponist schon mal 24 Stunden lang, vorzugsweise in abgelegenen Berghütten. Er findet aber auch Zeitdruck hilfreich. »Die Vorstellung, wenn ich nur lange über etwas nachdenke, wird’s schon von selbst gut, stimmt weder im Leben noch in der Musik.« Auch seinen Interpreten will er Qualen ersparen. In Limited Approximations empfiehlt er dem Orchester auf Seite 73 ausdrücklich, »in die Intonation dieser Stelle nicht zu viel Zeit zu investieren und sich mit einer groben Annäherung zu begnügen«.

Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass das geniale Werk ins Repertoire wandert. Welcher Veranstalter kann die Anmietung von sechs Flügeln und deren mikrotonale Umstimmung bezahlen? Anfragen, ob man nicht auch elektronische Instrumente nehmen dürfe, lehnt der Komponist ab: »Ich brauche die sechs Flügel als lebendige Resonanzkörper.« Haas ist dabei kein Technologiekritiker. Er studierte am Pariser IRCAM, hält die Verfügbarkeit von 500 Jahren Musik per Knopfdruck für einen »gewaltigen Fortschritt« und braucht beim Komponieren außer einer Kaffeemaschine auch einen PC. Doch was ihn derzeit vor allem interessiert, ist Transzendenz. Die »intensive Wahrnehmung des Klangs« fülle die Lücke, die der »Verlust der Religion« hinterlassen habe. Und das sagt einer, der sich einmal als politisch motivierter Komponist verstand?
Haas hält seine Stücke aus der Zeit immer noch für gut, aber eher trotz ihrer politischen Anliegen. »Die Struktur von in vain ist doch viel zu schön für den österreichischen Rechtsrutsch 2000!« Es passt in diese paradoxe Logik, dass sein jüngstes Werk sehr persönlich und darum umso politischer ist. Haas hat sein Siebtes Streichquartett geschrieben, als in Fukushima die Kernschmelze eintrat , in dem Land, in dem die Großeltern seiner fünfjährigen Tochter leben. Zum ersten Mal seit Langem hat Haas den Instrumenten Elektronik hinzugefügt. Das Arditti Quartett entwickelt in Luzern eine fragile, durchscheinende Klangwelt, aus deren Material eine zweite Ebene geschaffen wird. Es gibt da Zeitlupenexplosionen von eisiger, grauenhafter Schönheit, nach denen die Ardittis wieder liebevoll mit Holz und Haar an Nuancen feilen.

Und es gibt, nach dem elektronischen Tsunami und vor dem großen Sturm am Schluss, das regelmäßige, tonlose Rascheln der Bögen wie leise Brandung auf bleiernem Meer. Unendlich traurig, trostlos. Zum ersten Mal glaubt man zu sehen, zu begreifen, was eigentlich geschehen ist. Und in die Schwärze hinein entfalten sich all die feinen Schwebungen, Glissandi, irisierenden Akkorde, Klangblüten, die man zuvor hörte, wie etwas, das nicht enden kann.

Es endet übrigens auch nicht mit dieser Uraufführung. Georg Friedrich Haas spendet die Tantiemen seines Streichquartetts für eine mobile, aufblasbare Konzerthalle. Der Künstler Anish Kapoor und der Architekt Arata Isozaki haben diese »Ark Nova« für die Katastrophenopfer in Japan entworfen, im Auftrag des Lucerne Festivals. Im nächsten Jahr sollen in der mobilen Konzerthalle Aufführungen in den verwüsteten Regionen stattfinden. Keiner soll behaupten, dass die Luzerner Festivalmacher immer nur einkaufen gehen.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 15.09.2011