Schienen für die Angstlust

Achterbahnfahrt zwischen Formel und Wahn: Ingenieur Klose und Digitalkünstler Nowak in Hannovers “Literarischem Salon”

Nichts ist so sanft wie die Klothoide. Als sie noch nicht im Einsatz war und um 1850 in London eine der frühesten Achterbahnen die Leute in den Looping schoß, gab es Verletzte. Man hatte die Schleife kreisförmig konstruiert, die Richtungsänderung war jäh, den Passagieren schlug es das Kinn auf die Brust. Erst nach weit mehr als hundert Jahren kam ein Ingenieur auf die Idee, wie im Straßenbau auch die vertikale Schienenkurve unmerklich sanft beginnen zu lassen, eine „Klothoide“ beschreibend, wie diese Krümmung unter Mathematikern heißt. Aber auch jetzt gehört ein bisschen Angst immer noch dazu, damit die Raserei über Höhen und durch Tiefen auch Spaß macht.

Weil zur Achterbahn nicht nur Formeln, sondern auch Fantasien gehören, wurde sie jetzt ein Fall für den Literarischen Salon, der dafür in die Technische Informationsbibliothek der Uni einlud, passenderweise eine Woche vorm Start des Schützenfests. Unter dem historistischen Tonnengewölbe trafen zwei Männer aufeinander, die nicht verschiedener sein könnten. Michael Klose entwirft Achterbahnen, seine jüngste wird heute in Kalifornien eröffnet, „Full Throttle“ heißt sie, Vollgas, der Looping ist mit 50 Metern Höhe Weltrekord, und wer Klose erlebt, spürt Grundvertrauen. So knochentrocken muss ein Ingenieur sein, der Menschen auf „5 G“ beschleunigt, mehr ist verboten.

Till Nowak schert sich darum nicht. Seine Geräte schleudern ihre Passagiere in den dreistelligen Bereich. Himmelhoch ragt und verzweigt sich der Metallbaum seines „Steam Pressure Catapult“, dessen hochgeschossene Gondeln nach dem Zufallsprinzip eine von mehreren möglichen Schienen erwischen und dann irgendwo im Nebel verschwinden. Der 32jährige ist Digitalkünstler, sein Kurzfilm „The Centrifuge Brain Project“ wurde bei YouTube mehr als zwei Millionen Mal gesehen, aber nicht nur wegen der so exzessiven wie technisch perfekten Rummelplatzphantasien. Der Film beginnt wie eine Doku – ein leicht freakiger Wissenschaftler führt seine Zentrifugalexperimente vor.

Die ersten Geräte, auf Rummelplätzen getestet, wirken noch glaubwürdig, doch dann driftet es hyperbolisch ins schier Albtraumhafte. Ein Kugelkarussell, das die Leute kopfüber in den Himmel presst, eine Kettenbahn, auf der man 14 Stunden unterwegs ist, ein Expander, der seine Arme bei Höchstgeschwindigkeit jäh um 20 Meter verlängert. „Es gab nur einmal ein Problem, als der zu nah an einem Gebäude stand“, erläutert der Forscher, gespielt vom Kunstagenten Leslie Barany, der nicht zufällig den „Alien“-Designer H.R. Giger vertritt und den Wahnsinn so authentisch macht, wie es Nowak am Computer gelingt. Sein suggestiver Realismus verdankt sich penibelstem Gepixel.

Wie er die Daten selbstgedrehter echter kleiner Kirmesfilme abgreift und sie ins Illusionäre verlängert, das ist nicht minder Ingenieurskunst als die Arbeit, die Michael Klose in der Münchner Firma Stengel leistet, der weltweit wichtigsten, deren Gründer in der Welt der „fliegenden Bauten“ als Guru verehrt wird. „Fliegend“ steht für temporär: Die Bahnen sind ja transportabel, auch wenn schon die simpelsten an die 90 Tieflader brauchen. Und für die größten (natürlich stehen sie in den USA, wo immer einer den andern übertrumpfen will) kann ein Unternehmer schon mal 50 Millionen Euro bezahlen. Was für ein Aufwand für ein paar Minuten Raserei mit Angstlustschreien!

Und dann kommt ein Sturm wie, im vorigen Jahr, Sandy, und knickt den „Jet Star“ in New Jersey zusammen. Bis vor kurzem ragte das Gerippe noch aus dem Atlantik, wie ein Urvieh aus der Zukunft, ein Memento vergangener Freuden. Traumhaft schöne Fotos lieferte die Ruine, die im Salon zu „Mechaniken des Übermuts“ natürlich nicht fehlten. Der philosophisch-metaphorische Mehrwert der „Rollercoaster“ erschloss sich wie von selbst in diesem Paarlauf, den Eckhard Stasch von der Warte des neugierigen Literaten moderierte. Wobei sich erwies, dass manche wilde Fantasie des Digitalkünstlers längst „under construction“ ist bei den Ingenieuren – etwa das Zufallsprinzip.

Man arbeitet tatsächlich schon an Schienenweichen, an denen die Wagen mal so, mal so die Richtung wechseln. Und auf eine Idee, wie sie Michael Klose im nagelneuen „Full throttle“ realisiert, ist nicht mal Till Nowak gekommen: Der gigantische Loop wird beidseitig befahren, oben und unten, dank Extrabeschleunigung zwischendurch. Und natürlich dank der Klothoide.

Der Artikel erschien am 22.6.13 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt.