Spoof und Sex und Schostakowitsch

Das größte Musiklexikon der Welt stellt neue Fragen, revidiert alte Antworten und erreicht Lichtgeschwindigkeit

Otto Jägermeier hat es mal wieder geschafft. Der beliebteste aller gefälschten Komponisten kommt vor in Band 24, Seite 220. Zwar ist er längst als lexikalischer Betrug enttarnt, nun aber wird Jägermeier gerichtet und gerettet in einem: Unter spoof articles (“Scherzartikel”) hat er seinen Platz auf dem Olymp, im traditionsreichsten und größten aller Musiklexika.

The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Second Edition kann es sich leisten, blinden Passagieren von einst ein paar Zeilen zu gönnen. Mit 25 Millionen Worten und Wörtern, verteilt auf 29 499 Artikel, ist es das größte Vehikel, das die vergleichsweise junge Musikwissenschaft jemals vom Stapel gelassen hat. Und das gleich doppelt.

Was in den 29 blauen Bänden steht, soll im Internet zum “Nervenzentrum” des Musikwissens werden. Nicht, weil einfach alles drinsteht wie überall im Netz, sondern alles, was wirklich wichtig ist in der Tonwelt. Was nicht so wichtig ist, erfährt man unter www. grovemusic. com aber auch. Etwa dass es in der Lexikonzentrale nach baked potatoes riecht. Die Leute in 25 Ecclestone Place, London SW 1, sind nämlich auch nur Menschen, wie sie in ihren Hausmitteilungen versichern, sie benutzen sogar noch Papier und Stift zum Korrigieren, sie laufen zur Überprüfung von Zitaten, um Fakes und Fehler rechtzeitig zu orten, in die British Library wie vor 120 Jahren ihr Urahn Sir George Grove.

1890 war der mit der ersten Ausgabe fertig, die mit Index und Appendix sechs Bände umfasste. Fünf Ausgaben folgten, 1980 dann mit 20 Bänden der New Grove, seither das Leitmedium der Musikologen. Auch gegen diesen Vorläufer muss sich das neue Projekt behaupten, wenn sich die bislang 60 Millionen Mark Investition für Macmillan Publishers lohnen sollen.

Die gewichtigste Konkurrenz kommt aus Deutschland, wo Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) erscheint. Band für Band seit sieben Jahren, noch nicht fertig und nicht im Netz – so wirkt neben dem Briten auch das jüngste Flaggschiff der deutschen Musikwissenschaft wie ein schwerfälliger Holzkahn, von dem allerdings auch Anregung ausgeht.

Natürlich ist Musikwissenschaft längst keine nationale Angelegenheit mehr. Die 6000 Autoren des Grove schreiben in 98 Ländern, oft für mehrere Lexika. Dennoch haben diese Bücher ihre spezifische Geschichte. Kein Zufall etwa, dass die neue MGG spät, aber gründlich den Nationalsozialismus erkundet und nicht nur da mit essayistischen Ansätzen arbeitet.

So nutzten die Deutschen eine Lücke der britischen Lexikontradition, in der man sich bislang an traditionelle Formen und Kriterien hielt. Jetzt riskiert aber auch der Grove Themen und Methoden, die es vorher nicht gab. Denn die Maßstäbe, die man einst am Kanon “großer Werke” entwickelte, genügen nicht für die Rhythmen der Beduinen und auch nicht mehr für Beethoven.

Unter dem überraschenden Stichwort Music werden die neuen Trends abgesteckt, nämlich interkulturell und historisch bewusst zu arbeiten: Musik ist nicht absolut, sondern von Bedingungen abhängig. Das wissen wir, niemand ist eine Insel, und was heißt das konkret? Zum Beispiel, dass jede Musik sich auf vorhandene Musik bezieht.

Die Frage ist nun, ob Debussy den Tristanakkord verjuxt

Was im MGG mit “Zitat” begann, wird im Grove zu Borrowing (Anleihen) erweitert – ein neues Forschungsfeld, das weit mehr fordert, als in All you need is love die Marseillaise zu erkennen. Es geht auch darum, in welcher Form Anleihen gemacht werden. Ob etwa in Strawinskys Sacre Debussys Wolken nur anklingen oder ob Debussy den Tristanakkord offen verjuxt. Und ob es jemand merkt. Bezüge funktionieren je nach Publikum verschieden. Wer die deutsche Hymne hört, denkt nicht unbedingt an Kaiser Franz, für den Haydn sie erdachte, vielleicht aber an die Nazis, die ihr Reich mit dieser Melodie “über alles in der Welt” stellten. Und wer erkennt in den Liturgien des Mittelalters ihre frühchristlichen Quellen und deren jüdische Vorgänger?

Im Grunde ist die Geschichte der “Anleihen” bis hin zur Scratching-Technik, mit der DJs alte Platten in neue Zusammenhänge bringen, eine Geschichte der Musik und des Hörens und der 80-Spalten-Text dazu ein spannender Einstieg. Er zeigt detailgesättigt, wie Musikereignisse nicht als vermeintlich “autonom”, sondern als Teil eines Netzes beschrieben werden können.

Auf andere neue Wege weist die Grove-PR-Abteilung besonders nachdrücklich hin – nämlich auf jene Essays, die ältere Musikologen in Schreckstarre versetzen können. Schwule und lesbische Musik, Geschlecht, Sex und Frauen in der Musik. Da paart sich faktischer Nachholbedarf mit Political Correctness und bringt mitunter Ideologie hervor. Zwar warnen die Autoren von Gay and Lesbian Music vor Kurzschlüssen, führen aber Poulencs Stilbizarrerien straff auf den homosexuellen Hintergrund zurück: “Klar hörbar” sei für Eingeweihte die klingende Genreverschränkung als Kritik am Establishment. Na schön. Heteros müssen also draußen bleiben, dürfen aber weiterlesen und guten Gewissens Voyeuristen sein.

Den Anhängern traditioneller Lexikografie bleibt die Basis des Grove, die 20 000 Biografien, darunter 3000 neue über Komponisten des 20. Jahrhunderts, und behutsam revidierte Monografien wie zum Madrigal, wo sich die Forschung seit 1980 in feinsten Akzentverschiebungen, mitunter nur in einem Adverb niederschlägt – und natürlich in der üppigen Bibliografie. Zu den 5600 gänzlich neu geschriebenen Artikeln gehören auch 73 Spalten über den Jubilar des Jahres, Giuseppe Verdi, eins der Glanzstücke im Grove. Hier erlebt man die Vorteile einer Musikwissenschaft, die “historisch bewusst” arbeitet, indem sie die Großen nicht von ihrem Ruhm und Ende her, sondern in ihren Umständen erforscht.

Roger Parker räumt auf mit Verdis (Selbst-) Stilisierung als Durchbeißer aus ärmsten Verhältnissen und als Opernrevolutionär. Zunächst sei er vom Vater, in typischer middle-class fashion, auf die Bildungsebene gehievt worden. Und habe, von dort zum Komponieren gelangt, sich durchaus an traditionelle Formen gehalten, sie aber “von innen” erweitert.

Wenn man da liest, wie Verdis frühes Grundrezept funktionierte, ist das fast schon eine Anleitung zum Opernschreiben. Von der Themenplanung bis zum Melodiepartikel kommt man dem Komponisten so nahe wie nie. Als Gegenteil harmonisierender Inszenierung von “Genie” entsteht die so nüchterne wie aufregende Rekonstruktion einer Werkstatt. Es wäre nicht fair, diesen Beitrag (der gegenüber dem alten Grove nur Angaben zu Verdis Honoraren vermissen lässt) zum Maßstab für alle zu machen. Über Wagners Komponieren beispielsweise wurde schon so viel geschrieben, dass ein gründlicher Neuansatz, geschweige denn ein Summary der Sekundärliteratur, im Lexikon nicht zu leisten ist.

Dafür erfährt man viel über Wagners Texte, auch zu seinen Ungunsten: Die Regenerationsschriften werden als antisemitischer Hintergrund des Parsifal nicht mehr nur erwogen, sondern identifiziert. Wer Abgründe lieber in tonaler Hinsicht erkunden möchte, sollte den PC einschalten. Unter Tristan Chord findet man online weit mehr als im gedruckten Register: 50 Treffer. Sie bringen einen zum Beispiel zu Harmony, Analysis, Rhetorics, Psychology und, versteht sich, zu Borrowing. Billig ist der Zugang nicht (600 Mark jährlich), gewährt aber gleichsam die Vogelperspektive aufs Labyrinth. Was dort steht, soll ständig aktualisiert werden, und es ist unsicher, ob das jetzige Niveau der Datenflut standhält.

Zumal der legendäre Chef des Unternehmens nicht mehr mitmacht. Stanley Sadie, seit 1970 Herausgeber und Seele des Grove, ist dem Independent zufolge in der Schlussphase aus dem Chefsessel komplimentiert worden. Die Arbeit ging Macmillan Publishers nicht schnell genug voran. Vielleicht ist darum manches auch ein bisschen zu schnell gegangen.

Etwa bei Schostakowitsch, dessen Sinfonien schon genauer untersucht wurden, als der Artikel es merken lässt. Bei genialen Interpreten von Huberman bis Kremer, die hier nur Marginalien sind. Und vor allem bei Pop und Rock. Da gibt es zwar einen weit besseren Hauptartikel, als die MGG ihn bietet, aber jenseits dessen bleibt die alte Herablassung.

Es ist ja nicht unkomisch, wenn unter Heavy Metal steht, die Fans seien “als headbanger bekannt infolge der heftigen Nickbewegungen, mit denen sie ihre Wertschätzung der Musik bekräftigen”. Aber wenn das die prägnanteste Mitteilung bleibt, ist die Perspektive nicht weit von dem Blick entfernt, den frühe Kolonisatoren auf geheimnisvoll trommelnde Farbige warfen. Während eben Letztere sich differenziert beschrieben finden, ist vom britischen Patriotismus nicht mal genug übrig, um einer Würdigung der Beatles mehr Platz zu gönnen als der Innenansicht des Bayreuther Festspielhauses. In zwei Spalten für ihre Musik kann schlecht erklärt werden, was denn die hier als “klassisch” gelobte Eleganz der McCartneyschen Harmonik ausmacht.

Da reicht der “interkulturelle” Ansatz nicht über alte Schranken hinaus. So viel zu den herberen Enttäuschungen. Aber auch sie schmälern nicht die schier ozeanische Größe, Tiefe und Vielfalt des Unterfangens mit seinen Schatztruhen, Ausblicken, Echoloten, den luxuriösen Stunden auf dem Sonnendeck des Vertrauten und den Überraschungen am Strand.

Man möchte Funde sammeln: Die CD-Tipps in Performance Practice, die Anekdote von Kaiser Wilhelm, der für seine Autohupe ein Leitmotiv von Wagner wählte, den Kernteil des Elliott-Carter-Artikels, der in der sonst identischen MGG-Fassung fehlt, die Kommission aus Berliner Musikern in den 1840ern, die Kritikern öffentlich Zeugnisse ausstellte.

Nicht zu vergessen Pietro Gnocchi. Der soll von 1689 bis 1775 gelebt und 25 Bände über die Geschichte der antiken griechischen Kolonien im Osten geschrieben haben sowie ein Magnifikat betitelt Il capo di buona speranza. Dieses Kap hat zufälligerweise auch Otto Jägermeier auf dem Weg nach Madagaskar umsegelt. Der Grove wird daran nicht scheitern.

The New Grove Dictionary of Music and Musicians Second Edition; Macmillan Publishers, London; 29 Bände, 2950.- £ (12 Monate Zugang zur Online-Edition: 190.- £ )

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 12.03.2001