236 Takte gelöscht

Jonathan Del Mars spektakuläre Neuausgabe aller neun Sinfonien Beethovens

Passenderweise war es Mitternacht, als dem Musikwissenschaftler Jonathan Del Mar in seinem Londoner Arbeitszimmer einfiel, wie er 236 Takte in der wohl berühmtesten Sinfonie der Welt für ungültig erklären konnte. Und zwar öffentlich, unter dem Beifall der Kenner und auf Wunsch eines einzelnen Herrn, des Komponisten Ludwig van Beethoven.

Es handelt sich um den Streit, ob der dritte Satz der Fünften, bevor er seinen Schlussteil erreicht, komplett wiederholt wird. Zuerst hatte Beethoven es so geplant. Im Autograf von 1808 ist die Wiederholung nachzulesen. Doch gedruckt wurde eine Partitur mit der kurzen Version. Darüber zerfielen die Beethovenianer in zwei Lager. Rätselhafte Briefpassagen spielen eine Rolle, auch Noten, die 1943 in Leipzig verbrannten und nur teilweise fotografiert waren. Der Fall hätte einen Sherlock Holmes herausgefordert. Nur mit einem Netz von Indizien konnte Del Mar beweisen, dass Beethoven die Wiederholung aus der Vorlage für die Notenstecher schneiden ließ.

Die Kürzung in der Fünften Sinfonie ist nur eine von Hunderten Stellen, bei denen man nie wusste, was Beethoven wirklich wollte. Ausgerechnet seine Sinfonien, ein Zentralheiligtum abendländischer Musik, stehen auf dem schwankenden Grund einer fehlerhaften Gesamtausgabe von 1864, die bis heute das Musikleben prägt.

War Beethoven ein schlampiges Genie? Auf den ersten Blick sieht es so aus – die Handschriften mit ihren Tintenklecksen, krakeligen Korrekturen, hingekratzten Notenhälsen passen allzu gut zum Bild vom Künstler mit der notorisch ungepflegten Mähne. Doch in Wirklichkeit wütet da ein pingeliger Systematiker, dem für sein work in progress immer neue Ideen kamen. Nur seine Kopisten, Notenstecher und Verleger nahmen es damit nicht so genau. Fast alle Fehler in den Ausgaben der neun Sinfonien gehen auf sie zurück – Hunderte von Schreibfehlern, falsche, fehlende, überzählige Töne, verrutschte Harmonien, Lautstärkeangaben, Bindebögen oder eben 236 Takte, von denen keiner weiß, ob er sie spielen darf.

Inzwischen weiß man es. Nicht nur die Fünfte, alle neune erleben eine zweite Morgenröte mit der ersten kompletten kritisch-praktischen Ausgabe aller Sinfonien, die Beethoven zwischen seinem 28. und 53. Lebensjahr schrieb. Es sei “die erfolgreichste Ausgabe, die wir je hatten”, sagt Douglas Woodfull-Harris vom Kasseler Bärenreiter-Verlag. Selbst die teuren Komplettpakete mit allen Partituren, Kritischen Berichten und Orchesterstimmen wurden knapp. Die Eroica wurde bereits dreimal nachgedruckt, die Neunte sogar fünfmal. Sie fand bislang 2000 Käufer, was für das sonst ruhige Gewerbe der Notendrucker ein ganz erstaunlicher Verkaufserfolg ist.

Historisch orientierte Dirigenten wie Frans Brüggen und Roger Norrington arbeiten sowieso mit der neuen Jonathan-Del-Mar-Ausgabe, nun aber auch Simon Rattle und Claudio Abbado, der in seinem neuen Beethoven-Zyklus kaum wiederzuerkennen ist, von originalen Metronomangaben in Fahrt gebracht, oder der Amerikaner David Zinman, Chef des Züricher Tonhalle-Orchesters, der für seine CD mit den neun Beethoven-Sinfonien vor zwei Jahren den Deutschen Schallplattenpreis erhielt.

Dass Beethovens Tempi rasanter sind, als die meisten großen Orchester sie spielten, weiß man zwar schon lange, und Jonathan Del Mar, 1951 als Dirigentensohn geboren, war natürlich nicht der Erste, der die Quellen erkundete. Aber als Erster konnte er alle Sinfonien aus einer Hand auf den Tisch legen – und das innerhalb von fünf Jahren seit 1996. Er scheint einen Nerv getroffen zu haben, den zuvor Spezialistenensembles freilegten. Es ist, als besinne man sich nun auf breiter Linie, dass die Absicht eines Komponisten auch im Detail mehr wiegt als die Spielgewohnheiten.

Die Verheißung eines “Urtexts” weckt allerdings auch kritische Stimmen. Denn zum Authentischen zählt auch “ein Kometenschweif verloren gegangener Selbstverständlichkeiten”. So formuliert es der Dirigent und Forscher Peter Gülke, der seinem britischen Kollegen vorwirft, er verheiße die Lösung aller Probleme und treffe fragwürdige Entscheidungen. Del Mar sieht das anders.

“Das sind Stimmen von der andern Seite des Zauns”, sagt er. “Wenn die Quellen zu 80 Prozent für eine Note sprechen und zu 20 dagegen, beschweren die sich, weil ich den 80 Prozent traue.” Wobei er solche Ambivalenzen in seinen Kritischen Berichten lückenlos transparent macht, dafür aber den Notentext selbst weitgehend davon frei hält – damit er für die Praxis taugt.

In der Praxis begann nämlich sein Projekt. Als Freunde von der britischen Hanover Band in den achtziger Jahren Beethoven auf historischen Instrumenten spielten, verglich Del Mar, selbst ein Beethoven-Dirigent, das Ergebnis mit dem Autograf und entdeckte Abweichungen. Die Musiker baten um weitere Recherchen. Also begab er sich in das Labyrinth der Autografe und Stichvorlagen, der Orchesterstimmen und der Briefe, der Sekundärliteratur, der Funde anderer Forscher. “Dabei habe ich mir erst das Handwerkszeug erworben”, bekennt er. Bei der Neunten erwischte es ihn richtig. An die hatte sich noch keiner gewagt. Mit ihr wurde er zum Herausgeber.

Ungeahnte Synkopenbögen über dem Götterfunken

Ein steiler Einstieg, denn rund um die Ode an die Freude waltet mehr Wirrsal als in allen acht anderen Sinfonien zusammen. Beethoven kam mit dem Korrigieren der Kopistenfehler nicht mehr hinterher. Das Autograf allein hilft nicht weiter. Maßgeblich ist ja nicht nur, was Beethoven zuerst aufschrieb, sondern auch, was er zuletzt wollte.

So lässt sich die Wahrheit nur über 20 Quellen einkreisen, die in Europa verteilt sind. Del Mars Liste mit Kommentaren zu jedem Detail umfasst 76 Seiten. Da findet sich auch jener Takt 81 im ersten Satz, der Maestro Claudio Abbado so verstörte, dass er es in der Neuaufnahme lieber beim Alten beließ.

In Berlin spielen Oboe und Flöte weiterhin eine Quarte aufwärts statt der keckeren großen Sexte, die man beim belgischen Dirigenten Joos van Immerseel hören kann. Eine Kleinigkeit, vielleicht – so klein wie ein Wort bei Hölderlin.

Noch so ein Fund ist die Sache mit den Hörnern im berühmten Finale. Bislang trieben sie ab Takt 532 in klar markierten Rhythmen auf den Götterfunken zu.

Jetzt geraten sie ins Eiern: Beethoven verschleiert mit Synkopenbögen den Rhythmus. Nur eine Nuance, aber doch wie etwas Fernes, Unerwartetes im Blick eines alten Bekannten. Wie das jähe Piano, mit dem in der Zweiten Sinfonie einem Thema der Boden entzogen wird. Wo hört man das am besten? Besonders zwei Dirigenten haben den Forscher bislang begeistert: Charles Mackerras und der 38-jährige Thomas Dausgaard mit dem Swedish Chamber Orchestra. “Als ich das gehört habe, musste ich fast weinen. Beethoven war selbst auf dem Podium.” Dagegen hat er dem Dirigenten David Zinman eine grimmige Karte nach Zürich geschrieben. Dessen viel gepriesene Aufnahme wirbt mit dem Hinweis, Del Mars Ausgabe zu realisieren. Aber staunend vernimmt man üppige, nie gehörte Verzierungen. “Eine Fälschung”, sagt der Herausgeber. Die Ornamente seien frei erfunden, “obwohl zusätzliche Verzierungen bei Beethoven völlig falsch sind. Der hat sich jede Note genau überlegt”.

Und genau gelesen. Bestürzt wies Beethoven am 21. August 1810 seinen Verleger auf zwei überzählige Takte im Erstdruck der Fünften hin, “wo nach dem Dur wieder das Moll eintritt”. Die Takte waren versehentlich stehen geblieben, als man im Verlag die ominöse Wiederholung aus der Stichvorlage trennte! Als Jonathan Del Mar das auch noch mit dem Indiz im Orchestermaterial der Uraufführung verknüpfen konnte, war es Mitternacht, der Fall gelöst, 236 Takte gelöscht.

“Ich habe Beethoven jetzt im Kopf”, meint er und pfeift noch einen korrigierten Takt aus der Siebten ins Telefon: “Pizzicato statt arco!”

Gezupft statt gestrichen – das ist hier eben nicht gehupft wie gesprungen.

* Ludwig van Beethoven: Die neun Symphonien

Hrsg. Jonathan Del Mar

Bärenreiter-Verlag, Kassel 1996-2000

als Studienpartituren: 148,- DM

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 26.04.2001